XXII

 
Als Valerius gefangen genommen wurde, verließ der Hund ihn. Und er kehrte auch nicht zurück, als die vier Männer, eine halbe Zeltbelegung der Zwanzigsten Legion, Valerius erst bewusstlos schlugen, ihn dann in den See unterhalb des Wasserfalls schleiften, damit er wieder zu sich käme, und ihn schließlich zwischen sich einzwängten, zwei vor Valerius und zwei hinter ihm, um ihn - mit kurzen Prügelpausen - den Berg hinabzuführen.
Während der seltenen Gelegenheiten, in denen Valerius einmal sprechen konnte, rief er dem Hund zu, er solle sich auf die Suche nach mac Calma machen, denn er wollte das Tier schützen. Als ob Menschen einem gottgesandten Hund etwas anhaben könnten. Die restliche Zeit verlor sich Valerius in einem Meer aus glutrotem, immer heftiger werdendem Schmerz, so dass er am Ende nicht mehr länger an seinem Bewusstsein festhielt. Es war so viel leichter, sich einfach im Dunkel des Vergessens zu verstecken und darauf zu vertrauen, dass sein Körper die Fußtritte so gut wie irgend möglich zu überstehen wusste.
Es war unnötig zu fragen, wohin sie nun wohl marschierten; schon oft genug hatte er solche Trupps selbst angeführt. Ironischerweise kam er schließlich in genau dem Augenblick wieder zu sich, als die Männer die Tür zu der Inquisitionskammer aufstießen, die unterhalb der Lagerräume des Quartiermeisters und in der südwestlichen Ecke der Soldatenunterkünfte lag; das Quietschen der ungeölten Scharniere rief in Valerius einfach zu viele Erinnerungen wach. Und somit war es ihm auch unmöglich, abermals in die Bewusstlosigkeit hinabzutauchen.
Der Raum war aus grob behauener Eiche gezimmert, mit einem Boden aus Kies und einem einzigen, vergitterten Fenster, um etwas Licht und Luft hereinzulassen. Unmittelbar über diesem Verschlag lag der Getreidespeicher der Festung, und über dem wiederum befand sich eine Bodenkammer, in der Ersatzpferdegeschirre und Harnische aufbewahrt wurden. Im Grunde genommen war dieser Raum auch nicht schlimmer als irgendein anderes Gefängnis, und dennoch hatten die Träumer der Stämme, die man zum Verhör hierher gebracht hatte, diese Kammer stets noch mehr gefürchtet als die Inquisitoren und deren Eisen.
Bis zum Ende seines Dienstes in der Festung hatte Valerius von mindestens dreien von ihnen erfahren, die allein schon aufgrund der Tatsache zusammengebrochen wären, dass man sie eine Nacht lang in diesen Raum gesperrt hatte. Valerius hatte damals stets geglaubt, der Grund dafür wäre das Getreidelager gewesen; er dachte, dass das Leben in einem Rundhaus die Träumer einfach nicht auf die Fertigkeiten der römischen Pioniere vorbereitet hätte und dass die Erkenntnis, gefangen zu sein in einem winzigen Raum, und noch dazu mit einem ganzen Jahresvorrat an Getreide über dem Kopf, schlichtweg ihren Geist zerrüttet hätte.
Die Wirklichkeit indes war deutlich verstörender, doch das entdeckte er erst, als die Soldaten, die ihn festgenommen hatten, die Tür zu genau jener Inquisitionskammer öffneten und ihn mit dem Gesicht voran in den Kies warfen. Als Offizier bei den Legionen hatte er diesen Ort schon zu viele Male gesehen, als dass er sie noch hätte zählen können. Genauso vertraut, wie ihm seine eigenen Unterkünfte gewesen waren, so vertraut waren ihm auch die hier vorhandenen Gerüche nach altem Blut, Erbrochenem und schalem Urin sowie die nach verdorbenem Fleisch stinkenden Ausdünstungen der Todesangst und der Kapitulation.
Damals hatte ihn vor alledem noch sein Rang als Offizier geschützt und die fest zusammengefügten Mauern seines Geistes. Heute aber war er kein Offizier mehr, und was ihm zuvor noch verschlossen gewesen war, hatte Nemain ihm geöffnet. Als er mit dem Gesicht über den Boden rutschte, spürte er - als wären es seine ureigenen Empfindungen - die Angst eines jeden Träumers, eines jeden Mannes und einer jeden Frau der Stämme, die je an diesem Ort gelebt hatten und die je an diesem Ort gestorben waren.
Anfangs hatten einige noch etwas mehr Kraft besessen, andere waren weniger stark gewesen. Manche hatten anderen Göttern gedient als Nemain. Und manch einer hatte die Schleusen seines Geistes ein wenig geschickter zu versperren gewusst als seine Leidensgefährten - so dass die Wucht seines Zusammenbruchs jene, die nach ihm hier eintraten, etwas weniger hart traf.
Doch alle, ganz gleich, wie gut sie auch vorbereitet gewesen sein mochten, hatten dem Gewicht des Grauens letztlich auch ihren Anteil hinzugefügt, und Valerius war lediglich der Letzte in einer langen Reihe. Wie ein Vorschlaghammer schlug die Last ihrer Tode auf ihn ein, und er schrie laut auf, erfüllt von all den von seinen Vorgängern erlittenen Qualen, während die Wachen ihn erneut wahllos in die Gedärme traten.
Doch auf gewisse Weise waren genau diese Fußtritte seine Rettung. Denn nur durch sie stürzte er nun keuchend in seine eigene, ganz persönliche Hölle hinab, war dem Ersticken nahe. Und kurzzeitig war sein Kampf um Luft einfach zu verzweifelt und zu überwältigend, als dass ihn zusätzlich auch die vielen anderen Eindrücke noch hätten erreichen können. Er krallte sich in den Kiesboden, versuchte krampfhaft, wenigstens an den grundlegendsten von mac Calmas Lehren festzuhalten, und schaffte es schließlich tatsächlich, in all dem Chaos jenen einen Ort zu finden, an dem er nur noch Valerius war. Und diesen Ort löste er von allem anderen ab.
Als die Wachen ihm schließlich die Ketten abnahmen, hörten sie mit den Fußtritten auf. Valerius lag bäuchlings auf dem Boden, die Wange verschmiert von seinem Speichel, seinen Tränen, von Blut und Staub, und verzweifelt kämpfte er darum, all dies in einen logischen Zusammenhang zu fügen.
Und eine Erkenntnis hob sich schließlich über alles andere hinaus: Es war die Tatsache, dass sie ihn überhaupt hierher gebracht hatten, in diese Kammer. Jeden dienenden Offizier, selbst einen Legionär, hätten sie doch zumindest noch in den Arrestkammern im Südflügel der Baracken untergebracht. Sie mussten Valerius also für einen Stammesangehörigen halten, wussten ganz offenbar nicht, wer er früher einmal gewesen war. Und an diesem Gedanken klammerte er sich fest wie an einem kleinen Holzscheit mitten im Ozean seines eigenen Untergangs.
Die Kammer war alles andere als geräumig; die vier Wachen passten kaum gemeinsam hinein. Sie rollten Valerius auf den Rücken, und somit konnte er sie auch zum ersten Mal richtig sehen, zumindest mit seinem linken Auge, das noch nicht zugeschwollen war. Sie waren allesamt junge Männer, und sie waren ihm allesamt fremd. Keiner von ihnen hatte bereits zu Scapulas Zeiten seinen Dienst begonnen, als der Dekurio der Ersten thrakischen Kavallerie seine Einheit in einem Sturmangriff über den Fluss geführt hatte, der schließlich Caradocs endgültige Niederlage besiegelt hatte.
Doch auch, wenn sie dabei gewesen wären: Ohne sein Pferd hätten sie Valerius mit Sicherheit nicht wiedererkannt. Das Krähenpferd war sein Erkennungszeichen gewesen, ganz gleich, wie oft er auch den Stier auf seine Fahne gemalt haben mochte. Er hatte den Hengst namens Krähe geliebt. Der Hengst wiederum hatte ihn gehasst. Doch das hatte ihrem Verhältnis schließlich seine Beständigkeit verliehen; genauso hatte es sein müssen. Und dafür hatte Valerius sein Pferd nur noch umso mehr geliebt. Für einen langen, verwirrenden Moment war der Gedanke an den Verlust des Krähenpferdes für Valerius sogar wichtiger als die Last, welche die Inquisitionskammer ihm auferlegte, und der langsame, qualvolle Tod, welcher ihm nun bevorstand. Auf Thrakisch schrie er nach dem Tier. Die vier jungen Männer der Zwanzigsten Legion hingegen dachten, er riefe etwas auf Silurisch. Wieder spuckten sie ihn an und lachten.
Die Wachen waren noch jung, und es fehlte ihnen an Erfahrung. Valerius’ Hände waren nicht mehr gefesselt, und als sie sich umwandten, um die Tür zu verschließen, ließen die Burschen ihn für einen kurzen Augenblick lang unbeobachtet. Wie offen ausgesprochene Einladungen hingen an ihren Hüften ihre Waffen hinab. Wäre er der Krieger gewesen, für den sie ihn hielten, so hätte er in der Zeit, die sie brauchten, um die Riegel vorzuschieben, mindestens einen von ihnen getötet und anschließend sich selbst.
Weil er aber nicht nur kein Krieger war und auch keineswegs vorhatte zu sterben, stemmte Valerius sich hoch, bis er schwankend mitten im Raum stand. Sein Mund war voller Blut, und er schluckte es mehr, als dass er es ausspie. Und in jenem alten Latein, das Claudius stets dem neuen vorgezogen hatte - Valerius setzte damit ein Zeichen seiner immer noch bestehenden Zugehörigkeit zu dem ehemaligen Kaiser -, hob er an: »Als Nächstes müsst ihr mich entkleiden. So heißt es in den Anweisungen: Zum Zeitpunkt der Festnahme ist der Gefangene sämtlicher Kleidung zu entledigen. Ich denke, das zielt darauf ab, den Kriegern auch noch die letzte Wärme und Würde zu rauben; was wiederum voraussetzt, dass ihnen überhaupt noch ein Rest an Würde bleibt, den man ihnen noch nehmen könnte. Dennoch, ich denke, ihr solltet mich entkleiden.«
Entsetzt starrten die vier Männer ihn an. Einer, mit schwarzem Haar und schlanker und etwas aufmerksamer als der Rest, stieß einen Fluch im Namen Mithras’ aus.
Zum Glück hatte Valerius in der Höhle noch keine Entscheidung getroffen - überschwänglich bedankte er sich nun bei dem Stiergott für das Geschenk dieses schlanken jungen Mannes und seines tiefen Glaubens. In aufrechter Haltung fuhr Valerius fort, rezitierte die Worte des Bittgebets des Löwen vor dem Sonnenaltar und beobachtete dabei, wie der junge Novize immer blasser wurde, bis sein Gesicht schließlich die gräuliche Farbe von Pergamentpapier angenommen hatte.
Denn mit etwas Mühe hätte zwar auch ein gut unterrichteter silurischer Spion das Latein Claudius’ beherrschen können, hätte vielleicht sogar schon einmal eine Abschrift der militärischen Anweisungen gesehen; doch nur ein Mann, der in den Rängen der Priesterschaft Mithras’ bereits hoch aufgestiegen war, konnte den Wortlaut des Bittgebets des Löwen so gut kennen, dass er ihn nun laut zu rezitieren vermochte. Und ein solcher Mann wiederum konnte niemals ein Angehöriger der Stämme sein. Unter dem Stiergott herrschte eine Hierarchie, die berüchtigt war für ihre strenge Auswahl jener, welche die höheren Ränge bekleideten: Mit jedem weiteren Wort bewies Valerius nicht nur, dass er ein Bürger Roms war, der in den Legionen gedient hatte, sondern dass er darüber hinaus auch einer jener wenigen Eliteoffiziere gewesen war, die sich im Kampf bereits so stark hervorgetan hatten, dass ihnen sogar jene folgten, die eigentlich in einer ganz anderen Kompanie dienten.
Nachdem Valerius geendet hatte, legte sich ein von geradezu spürbarer Angst erfülltes Schweigen über die jungen Soldaten. Als das Schweigen seinen Höhepunkt erreicht hatte, fluchte der Novize Mithras’ erneut, jedoch nur leise, und sogleich bat er seinen Gott dafür um Vergebung.
Der Bursche war gerade erst in den Kreis von Jüngern aufgenommen und mit dem Zeichen des Gottes gebrandmarkt worden, dies drückte sich in jeder Geste seines Verhaltens aus. Valerius ließ sich gegen die Wand zurücksinken und schaffte es sogar, nicht aufzustöhnen. Er hob die Arme, so dass seine Ärmel zurückglitten und an seinen Handgelenken die Narben seines Ranges als Löwe sichtbar wurden. Den linken Daumen legte er auf die Mitte seiner Tunika, dorthin, wo sie das alte Brandzeichen Mithras’ bedeckte, das schon vor so langer Zeit in Valerius’ Brust eingebrannt worden war: Selbst die Wachen, denen noch nie der Zutritt zu den Kellern und Höhlen des Stiergottes gestattet worden war, würden dieses Brandmal erkennen, wenn sie es sahen.
»Ihr solltet mich nach wie vor entkleiden«, wiederholte Valerius in vergnüglichem Tonfall. »Am Ende wird uns das allen nämlich viel Zeit ersparen, obgleich ich euch dankbar wäre, wenn ihr das hinkriegen könntet, ohne mir wieder etliche Fußtritte zu verpassen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch irgendwo eine Stelle am Körper habe, die nicht erst einen vollen Monat braucht, um wieder auszuheilen.«
Valerius dachte schon, er hätte den Bogen überspannt. Denn alle vier Legionäre starrten ihn stumm und mit offenen Mündern an, und ihre Einfältigkeit schrie förmlich nach der Hilfe eines Vorgesetzten; am besten eines höheren Offiziers, der ebenfalls das Brandmal des Gottes trug und ebenfalls den Rang eines Löwen bekleidete oder auch einen noch höheren.
Und inbrünstig wünschte Valerius sich, dass sie diese Hilfe eben gerade nicht holen würden.
Er schaute an dem jungen Novizen vorbei und fing den Blick des Waffenmeisters auf, welcher der einzige Offizier unter den vieren war. »Eure Wahlmöglichkeiten sind ganz einfach«, erklärte Valerius. »Sollte ich ein Krieger der Silurer sein, dann müsst ihr mich entkleiden, ehe die Inquisitoren hier ankommen; ansonsten sähe das schlecht aus für euch. Sollte ich dagegen kein Krieger der Silurer sein, sollte ich hingegen der sein, als den ihr mich hier vor euch seht und sprechen hört...«, er wollte sich nicht laut als Diener Mithras’ bezeichnen, sondern berührte stattdessen noch einmal das Brandmal des Gottes auf seiner Brust, »dann werdet ihr dafür büßen müssen, dass ihr den Befehl eines höheren Offiziers missachtet habt. Ich habe euch befohlen, mich zu entkleiden. Tut ihr es nicht, so werde ich Meldung erstatten. Überlegt doch mal, Männer...« Valerius schnippte mit den Fingern. Die vier jungen Soldaten zuckten unwillkürlich zusammen. »Im Kampf ist ein zögerlicher Offizier ein toter Offizier, und seine Männer mit ihm. Ihr wisst, was...«
Und fast hätte er sie gehabt. Der junge Offizier holte gerade tief Luft, um den Befehl zu geben, Valerius zu entkleiden - und atmete dann wieder aus, als er jenes Geräusch hörte, das Valerius bereits einen halben Herzschlag vor ihm vernommen hatte und das alle weiteren Argumente endgültig zunichte machte: Draußen war gerade einer Abteilung von Kavalleristen der Hilfstruppe befohlen worden, sich in Reih und Glied vor der Tür zu postieren und stillzustehen.
Ungebetenerweise kam den vier jungen Soldaten damit also tatsächlich die Unterstützung eines vorgesetzten Offiziers zu Hilfe. Der junge Unteroffizier begann strahlend zu lächeln, und deutlich zeichnete sich die Erleichterung auf seinem Gesicht ab. Valerius lächelte mit ihm und stieß auf Irisch einen Fluch aus, um seine rasende Angst zu verbergen.
Noch einmal hätte er sich bewaffnen können; die Wachen trugen ihre Waffen ziemlich achtlos, und ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den Offizier vor der Tür. Es wäre nicht schwer gewesen, einem der Männer das Schwert zu entreißen und es in der eigenen Brust zu versenken. Wäre Valerius bereit gewesen, das Risiko einzugehen, von einer der draußen wartenden Wachen überwältigt zu werden - oder von irgendeinem anderen der fünftausend bewaffneten Männer in dieser Festung -, dann hätte er nun womöglich zumindest noch einen der jungen Legionare töten können - und wäre anschließend mit wenigstens einem letzten Geist, der in den Ländern jenseits des Lebens darauf wartete, ihn zu empfangen, zu seinem Gott emporgestiegen. Beides erwog Valerius in der Zeit, die der neu angekommene Offizier brauchte, um bis zur Tür hinaufzumarschieren, anzuklopfen und zu verlangen, dass man ihn einließ.
Für den Rest seines Lebens hielt Valerius, einstiger Dekurio der Ersten thrakischen Kavallerie, an der Überzeugung fest, dass er sich bereits dafür entschieden hatte, zu leben - und nicht zu töten -, noch ehe er diese Stimme erkannte. Dann wurde der Türriegel zurückgeschoben und das morgendliche Licht hereingelassen, und im Türrahmen erschien die kräftige Gestalt von Longinus Sdapeze, Dekurio der ersten Schwadron der Ersten thrakischen Kavallerie.
Allein, weil er genau hinschaute und weil er Longinus außergewöhnlich gut kannte, erkannte Valerius in dem hastigen Atemzug, den der Offizier nun tat, dass dieser sich offenbar in einem Verdacht bestätigt fühlte. Und Valerius sah auch Longinus’ Bestürzung und wie er gleich darauf blitzschnell überlegte, wie sich seine Gedanken förmlich überschlugen.
Die übrigen Anwesenden sahen nur, wie der groß gewachsene, vielfach dekorierte Offizier der thrakischen Kavallerie den Helm von seinem hirschroten Haar riss, ihn mit einem Grinsen dem Gefangenen entgegenschleuderte und dabei hoch erfreut auf Thrakisch fluchte und dann noch einmal auf Gallisch sowie auf Lateinisch. Anschließend schlug er dem jungen Waffenmeister der Zwanzigsten Legion auf die Schulter und fragte ihn in jenem Tonfall, in dem ein Offizier in Anwesenheit des Pöbels mit einem anderen Offizier zu sprechen pflegte: »Hast du diesen Idioten eigentlich mal gefragt, wer er überhaupt ist, oder war er zu beschäftigt mit seinem Gefluche im Namen Mithras’, um dir das zu sagen?«
Das war ein ausgesprochener Glückstreffer. Valerius ließ den Kavalleriehelm über seinen Kopf gleiten, und obwohl die blutig geprügelten Partien seines Schädels hart gegen das Metall zu pochen schienen, war er doch auch dankbar für diesen Schutz.
Und nun erkannte er auch die acht draußen wartenden Männer wieder. Der Stallmeister, der am Kopf der Truppe stand, hob seinen Daumen zu jenem Zeichen, das im gesamten Kaiserreich das Zeichen für das Überleben des Gladiators war; zugleich aber war es unter den Männern der ersten Schwadron der Ala Prima Thracum das Zeichen für ihren letzten Dekurio gewesen, jenen, der das verrückte, nicht zu reitende Krähenpferd geritten hatte und der sie stets sowohl mit der Verwegenheit, aber auch dem Glück eines wahren Draufgängers in die Schlacht geführt hatte. Etwas weiter hinten stand ein korpulenter Mann, dem drei seiner vier oberen Schneidezähne fehlten - er schenkte Valerius ein nicht sonderlich ansprechendes Grinsen und zwinkerte ihm dabei aufmunternd zu.
Die Hilfstruppe pflegte nicht die Tradition einer Ehrengarde, so wie die Stämme sie für ihre Anführer aufstellten. Doch derlei Dinge konnten auch auf andere Art und Weise zum Ausdruck kommen. Und diese acht Männer hier waren in fast genau der Rangordnung, wie sie nun vor Valerius standen, allesamt seine Ehrengarde gewesen, damals, während der letzten vier Jahre seines Dienstes bei den Legionen. Er kannte sie alle; kannte ihre Namen, die Namen ihrer Geliebten, die Namen ihrer legitimen, aber auch ihrer illegitimen Kinder. Er kannte ihre Pferde und wusste, wie die Männer ritten, kannte ihren Mut - oder auch den Mangel daran - in einer Schlacht, wusste, wem man vertrauen konnte, den linken Flügel einer Linie zu verteidigen, wusste, wer von ihnen nachts am besten mit einer Leine über einen Fluss schwimmen und sie dann festhalten konnte, damit auch der Rest der Truppe ihm folgte.
Sie alle waren Valerius’ Männer gewesen, und nun dienten sie unter Longinus, jenem wilden thrakischen Reiter, der sowohl in der Schlacht als auch in der Liebe stets mit heiterer Unbekümmertheit sämtliche Risiken missachtete. Es stand außer Frage, dass diese Männer gekommen waren, um Valerius zu befreien; es fragte sich nur, ob er ihnen diesen Versuch wirklich guten Gewissens gestatten durfte.
Die vier eifrigen jungen Soldaten der Zwanzigsten Legion hatten geglaubt, sie hätten einen silurischen Krieger gefangen genommen. Hätte man sie mit Valerius allein gelassen, hätten sie ihn wohl auch dahingehend verhört und wären am Ende vielleicht zu der Erkenntnis gekommen, dass er offenbar Nemain huldigte und einige Zeit auf Mona gelebt hatte. Was sie jedoch nicht wussten, und nun womöglich auch nie mehr herausbekommen würden, war, dass sie statt des Kriegers einen ehemaligen Kavallerieoffizier gefangen genommen hatten, der von Kaiser Nero als Verräter verurteilt worden war und dessen Tod in Rom schlimmer, wesentlich schlimmer sein würde als alles, was ihm die hiesigen Inquisitoren anzutun vermochten - und dass das gleiche Schicksal auch all jene treffen würde, die ihm an irgendeiner Station seines Weges behilflich gewesen waren.
Irgendjemand begann ganz in der Nähe übermäßig laut zu sprechen. Longinus lehnte sich gegen den Türpfosten, um die Tür offen zu halten, und sprach dabei ununterbrochen nur noch von Valerius - sprach zu Valerius - und erzählte ihm damit alles, was er wissen musste.
»... das Problem daran ist nur, dass er so lange unter den Eingeborenen gelebt hat, dass er sogar vergessen hat, wie sein lateinischer Name lautet. Aber er ist das beste Paar Ohren, das wir jemals in die Stämme haben einschleusen können. Er hatte uns die Sache mit Caradocs Falle im Tal der Lahmen Hirschkuh verraten, und er war es auch gewesen, der sein verrücktes Biest von einem Pferd bei der Revolte in den Ländern der Eceni über den Festungswall gejagt hat, als Scapulas Sohn uns sonst allesamt hätte umbringen lassen. Ihr solltet mal Priscus fragen, wie der seine Zähne verloren hat. Ihr mögt vielleicht denken, die Silurer sind nur ein Haufen wilder Bastarde...«
Longinus wandte sich um, trat aus dem Türrahmen hinaus und hieß die anderen mit einer Geste, ihm zu folgen. Das meiste von dem, was er erzählte, entsprach auch tatsächlich der Wahrheit und war in den Legionen bereits zur Legende geworden. Die vier Burschen der Zwanzigsten Legion grinsten also, als sie, wenngleich mit anderen Worten, nun erneut all jene Geschichten erzählt bekamen, die sie doch bereits zur Genüge kannten.
»... das größte Problem wird werden, wie man ihn wieder raus zu den Silurern schafft, ohne dass die merken, dass wir ihn absichtlich haben laufen lassen. Zumindest habt ihr ihn ja schon einmal ausreichend verprügelt, damit es echt aussieht. Ich würde sagen, wenn wir schnell sind, hat er noch immer Zeit genug, um zu ›fliehen‹, wenn ihr versteht, was ich...«
Longinus war ein Kavallerist von ganz besonderer Tapferkeit, aber er war noch nie in Rom gewesen; er hatte noch nie die Arena dort gesehen oder war dabei behilflich gewesen, die Leichen jener Männer zu verbrennen, die ein Kaiser zuvor zu Verrätern abgestempelt hatte. Er hatte noch nie gesehen, wie genau sie gestorben waren, oder hatte die ganz außergewöhnliche Sorgfalt miterlebt, die jene Männer bewiesen, deren besondere Fertigkeit einzig darin bestand, die ihnen Zugewiesenen auf gar keinen Fall zu früh sterben zu lassen. In seliger Unkenntnis der Dinge hatte Longinus keinerlei Vorstellung von dem Risiko, das er da gerade auf sich nahm, das er aber auch all jenen aufbürdete, die unter ihm dienten.
Valerius dagegen, der all das schon gesehen hatte, kannte das Risiko genau. In der Zeit, die verstrich, während Longinus den eifrigen jungen Offizier der Zwanzigsten Legion durch die Tür winkte, sah Valerius, wie die zahlreichen Tode der Träumer, die die Inquisitionskammer bereits erfüllten, noch überlagert wurden von neun weiteren Toden, die noch wesentlich langsamer und blutiger waren; er sah das Sterben von acht Kavalleristen, die ihm allesamt am Herzen lagen; er sah den Tod eines Offiziers, den er einst sogar geliebt hatte.
Schon viele Male in seinem Leben hatte Valerius seinen eigenen Tod herbeigesehnt. Jedes Mal hatte er damit das Leben selbst verleugnet, hatte vor jenen Göttern und Menschen zu fliehen versucht, die ihn doch bereits von sich aus verstoßen hatten. Dieses Mal aber, in dem vollen Bewusstsein dessen, was er tat und für wen er es tat, tastete er nach Nemain und wurde von ihr umfangen, suchte nach Mithras und spürte auch dessen ungestümes Verständnis. Und da wusste Valerius, was er tun musste.
Der schlanke dunkelhaarige Novize Mithras’ war an der Tür angelangt. Ebenso wie seine Kameraden war auch er ganz gefangen genommen von Longinus’ Geschichten über vergangene Heldentaten, war beinahe trunken von dem Gedanken, wie äußerst knapp er selbst der Gefahr entronnen war, die mittlerweile allerdings auch schon wieder vorbei war, so dass er nun übermäßig laut lachte während jener Unterhaltung über Kriege und Schlachten und ein Leben, das er ebenso sehr fürchtete wie auch herbeisehnte.
Valerius streckte den Arm aus, um den jungen Mann am Verlassen der Kammer zu hindern. »Wenn sie herausfinden, was ich in der Gotteshöhle oben auf dem Berg angerichtet habe, werden sie dich dafür, dass du das zugelassen hast, lebendig häuten. Und das ist noch nichts im Vergleich mit dem, was Mithras mit dir anstellt, wenn du ihm eines Tages gegenübertrittst, wenn er in Fleisch gekleidet ist und du nur noch so dünn bist wie ein Geist.«
Der Bursche starrte Valerius stumm an, wagte es nicht, dessen Worte zu verstehen. Schließlich löste sich seine anhand von Longinus’ Erzählungen nachempfundene Erregung in Luft auf, als dem jungen Soldaten unwillkürlich die Erkenntnis dämmerte. Geradezu grün im Gesicht vor lauter Angst rang er um Worte.
»Was hast du denn getan?«, stieß er schließlich mühsam hervor.
»Ich habe die achtzehn Eisenstangen herausgezogen, die den Weg zum See des Gottes versperrten. Und ich habe die Opfergaben am Eingang der Höhle Nemain überlassen. Ich habe den Altar abgerissen und mich dann an den Abbau der...«
»Verdammt noch mal, Mann, wirst du wohl endlich aufhören mit deinen verfluchten Eingeborenen-Fantasien? Du befindest dich hier unter Freunden, und wenn wir dir erst den Kopf zurechtsetzen und Vernunft einbläuen müssen, dann werden wir das tun, und zwar mit dem größten Vergnügen...«
Longinus hatte tatsächlich keine Ahnung, was er da gerade aufs Spiel setzte. Er lebte einfach viel zu sehr im Augenblick, um das jetzt wohl angemessene Maß an Angst zu empfinden.
Valerius hatte gerade noch genügend Zeit, um genau diesen einen Gedanken zu fassen, ehe sein Schädel in weißem Licht zu explodieren schien und die Bewusstlosigkeit ihn umfing.
Die Seherin der Kelten
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