Vier

Einen Moment lang verschlug es selbst Katherine die Sprache.

Jonas dachte daran, wie John Hudsons Marker ausgesehen hatte, mit seiner wilden, ungekämmten Matte, den hohlen, narbenübersäten Wangen, den eingesunkenen Augen und den Zahnlücken. Zugegeben, auch Jonas hatte schon eine Weile nicht in den Spiegel geschaut, aber er bezweifelte, dass er so aussah.

»Äh, ich bin kein guter Schauspieler«, sagte er, weil er sich dumm vorgekommen wäre, darauf hinzuweisen, dass er mit diesem grotesken John Hudson nicht die geringste Ähnlichkeit hatte, wenn es schon sonst niemandem auffiel. »Außerdem habe ich keine Ahnung, was ich sagen oder tun soll.«

Es würde ganz anders sein als in den Epochen, die sie bereits besucht hatten. Dort waren ihre Freunde mit ihren Markern verschmolzen und hatten augenblicklich alle ihre Gedanken gekannt und gewusst, was zu tun war. Doch man konnte nur mit seinem eigenen Marker verschmelzen.

»Das hat mit Schauspielerei nicht viel zu tun«, sagte HK. »Du wärst nur ein Lückenfüller. Eine Requisite. Du musst nichts weiter tun, als in der Nähe des Markers zu bleiben, wenn er die Treppe wieder heraufkommt. Das, was sich gleich abspielen wird, dreht sich einzig und allein um Henry Hudson. Nicht um seinen Sohn.«

»Moment mal«, sagte Katherine. »Hast du nicht gesagt, dass eine Meuterei im Anzug ist? Was ist, wenn jemand Jonas erschießt oder ersticht?«

Daran hatte Jonas noch gar nicht gedacht. Er hörte sofort auf, sich darum zu sorgen, dass er ebenso scheußlich aussehen könnte wie John Hudson.

»Sagen wir einfach, dass sein Kostüm sowohl kugelsicher als auch stichsicher sein wird«, sagte HK. »Seine Perücke und die Maske eingeschlossen.«

Oh, ein Kostüm, dachte Jonas. Mit Perücke und Maske. Ja, natürlich.

»Ich mache mit«, sagte er, unendlich erleichtert darüber, nur so tun zu müssen, als habe er eine wilde Matte, Frostbeulen, Pockennarben, Zahnlücken und ein widerlich zerklüftetes Gesicht.

»Bist du verrückt?«, sagte Katherine. Jonas wusste nicht genau, ob sie damit ihn oder HK meinte.

Katherine hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Jonas spürte, wie sich ihm etwas Raues, Kratziges auf die Schultern legte. Er sah an sich herab und erblickte eine scheinbar exakte Kopie des schwarzen Umhangs, den John Hudsons Marker getragen hatte. Nein, das ist keine exakte Kopie, sagte sich Jonas. Nicht, wenn dieser Mantel kugelsicher ist. Sein Gesicht fühlte sich merkwürdig steif an, und als er es betastete, fühlte er tiefe Krater und gezackte Narbenränder. Aus einer schien sogar ein wenig Blut zu sickern.

»Jonas?«, wisperte Katherine mit vor Schreck geweiteten Augen. »Bist du wirklich da drin?«

»Na klar«, sagte Jonas, doch selbst seine Stimme hörte sich an, als gehöre sie John Hudson.

»Wir haben eine Stimmmodulationssoftware in die Zahnprothese eingebaut«, erklärte HK. »Ganz schön raffiniert, was?«

Jonas fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, die sich plötzlich schartig, schief und lückenhaft anfühlten, als habe man ihm gerade mit einer Art umgekehrten Zahnbehandlung das Gebiss ruiniert. Er begann zu würgen und musste gegen Übelkeit ankämpfen. Obwohl der wollene Umhang nur lose auf seinen Schultern lag, hatte er plötzlich das Gefühl, darunter zu ersticken. Er zerrte an seinem Gesicht und an den Haaren, um sich Maske und Perücke herunterzureißen. Sie bewegten sich keinen Millimeter.

Jonas bekam keine Luft mehr. Er wand sich hin und her und versuchte verzweifelt, sich zu befreien.

»Gib ihm eine Ohrfeige, Katherine!«, befahl HK. »Er wird hysterisch!«

»Ich denke gar nicht dran!«, fauchte Katherine. »Nicht, wenn er solche Qualen leidet!« Sie schlang die Arme um ihren Bruder. »O Jonas, ich weiß, dass du da drin bist! Mach dir keine Sorgen, wir holen dich da raus! Ich hab dich lieb! Du bist der beste Bruder auf der ganzen Welt!«

Das war so unglaublich kitschig, dass Jonas gar nicht anders konnte: Er musste einfach lachen.

Vielleicht war es genau das, was er gebraucht hatte, denn als er zu lachen aufhörte, stellte er fest, dass er problemlos atmen konnte.

»Kann ich das Kostüm behalten, wenn wir wieder nach Hause dürfen?«, fragte er HK. Es war immer noch seltsam, zu hören, dass seine Stimme wie die eines anderen klang, doch jetzt gelang es ihm, seine Ängste in Schach zu halten. Jedenfalls im Moment. »Es wäre genial für Halloween! Schau dir nur an, wie leicht ich Katherine erschrecken konnte!«

Er hob die Arme in Zombie-Frankenstein-Monstermanier: »Argghh!«

Katherine schubste ihn weg.

»Du bist so gemein!«, schimpfte sie. »Ich habe mir echt Sorgen um dich gemacht! Ich dachte, du hättest wirklich Angst.«

»Ich doch nicht«, prahlte Jonas, obwohl es gelogen war. »Ich habe vor nichts Angst.«

»Könntet ihr euch bitte konzentrieren?«, ermahnte sie HK. »Der Marker wird jeden Moment die Treppe heraufkommen. Zusammen mit ein paar anderen Leuten, echten Leuten.«

»Dann musst du Katherine unsichtbar machen«, verlangte Jonas. Auch wenn er sie nach Strich und Faden aufzog, würde er sie nicht mitten in einer Meuterei zurücklassen, wo alle sie sehen konnten.

»Das versuche ich ja«, sagte HK grimmig.

»Was soll das heißen, du versuchst es?«, fragte Jonas.

Unmittelbar darauf wurde Katherine so durchsichtig wie ein Marker. Jonas hatte schon öfter gesehen, wie seine Schwester, aber auch er selbst und andere, unsichtbar wurden. Trotzdem war es immer noch ein bizarrer Anblick. Er wusste, dass alle, die ins Jahr 1611 gehörten, durch Katherine hindurchsehen würden; die Mannschaft des Schiffes würde gar nicht wissen, dass sie da war. Nur Jonas als Zeitreisender war in der Lage, ihre verschwommenen Umrisse zu erkennen.

Für ihn sah es aus, als hätte sie sich in Glas verwandelt.

»Was ist mit dem Definator?«, fragte Katherine, weil dieser immer noch für alle sichtbar auf dem Deck lag.

»Ach ja, richtig«, sagte HK, der abgelenkt klang.

Das Gerät schien einen Moment zu vibrieren, doch richtig unsichtbar wurde es nicht.

»Ich schaffe es nicht«, sagte HK. »Schnell, Jonas, steck ihn in die Tasche.«

Er schafft es nicht?, überlegte Jonas. Zuerst hatten sie John Hudson verloren und jetzt wird der Definator nicht unsichtbar – was konnte noch alles schiefgehen?

Für Fragen blieb ihm keine Zeit mehr. Jonas schnappte sich den Definator und schob ihn zusammen mit Andreas Bild unter den Umhang. Genau in dem Moment erschien der schwache Schein von John Hudsons Marker am oberen Ende des Niedergangs. Die Gestalt marschierte zielgerichtet auf eine Tür zu, die sich jenseits der Stelle befand, an der Jonas und Katherine saßen. Der Marker hob die Hand, als wollte er anklopfen.

»Soll ich mich dort hinstellen und anklopfen?«, fragte Jonas. »Wenn ich seine Rolle spiele …«

Er war schon dabei, aufzustehen. Doch weiter kam er nicht. Es war schwer, auf dem rollenden Schiff das Gleichgewicht zu halten. Und er durchlebte einen weiteren Moment der Angst: Wenn er nun tatsächlich anklopfte und jemand machte die Tür auf? Was sollte er dann tun?

»Stell dich dort drüben hin, aber klopfe auf keinen Fall an!«, flüsterte HK angespannt. »Der Marker wird gleich kneifen.«

Tatsächlich war der Marker förmlich erstarrt und seine Hand verharrte in der Luft. Dann zog er sich zurück.

Jonas bemerkte, dass sich die Lippen des Markers bewegten.

»Was hat er gerade gesagt?«, fragte er.

»Er hat gesagt, schlechte Neuigkeiten sind ihm stets zuwider. Ich bin mir nicht sicher …«, flüsterte HK zurück.

»Soll ich das für ihn sagen? Soll ich?«, fragte Jonas.

»Nein, nein. Es hat ihn niemand hören können, also spielt es auch keine Rolle, was er sagt«, flüsterte HK.

Das ist wie bei der Frage, ob es ein Geräusch gibt, wenn im Wald ein Baum umfällt, überlegte Jonas. Wen interessiert es schon, ob es ein Geräusch gibt oder nicht, wenn niemand den Baum fallen hört?

Jonas fühlte sich ein wenig schwindlig und war sich nicht ganz sicher, ob seine Gedanken einen Sinn ergaben.

Vorsichtig stellte er sich genau an die Stelle, die John Hudsons Marker einnahm. Verrückterweise war Katherine direkt hinter ihn getreten, so als müssten sie beide in die Konturen des Markers schlüpfen.

Vielleicht hatte aber auch sie Angst.

Hinter ihnen ertönte ein unterdrückter Schrei und sie fuhren beide herum. Soeben verschwand der Kopf eines Mannes im Niedergang.

Jonas hatte keine Ahnung, was in dem Marker vorging – er wusste selbst nicht, was er denken sollte. War der Mann auf der vereisten Treppe ausgerutscht oder hatte ihn jemand angegriffen?

Verstohlen schlich der Marker auf den Niedergang zu, als wollte er nachschauen, was dem Mann zugestoßen war, ohne selbst gesehen zu werden. Noch nicht ganz im Takt mit den Bewegungen des Markers schob sich auch Jonas vorwärts.

Ah, am besten versucht man es zwischen dem Rollen und Schaukeln. Ist der Wellengang eigentlich immer so stark?, fragte er sich, während er vorwärtstorkelte, um sein Gleichgewicht rang und dann weitertorkelte.

Er erreichte das Ende des Niedergangs nur einen Sekundenbruchteil nach dem Marker und sah hinab in den – wie sagte man dazu? Laderaum? Doch er konnte nicht recht erkennen, was geschehen war, weil sich seine Augen noch nicht an die Dunkelheit dort unten gewöhnt hatten. Er kniff sie zusammen und versuchte Konturen auszumachen.

Dann hörte er über sich einen Schrei.

»Nein! Sie werden meinen Bruder nicht schlagen! Pass auf, Jonas!«