»Hussa! Hussa! Hussa!«
Selbst die halb toten Seeleute fanden die Kraft zu jubeln. Sie reckten die zittrigen Fäuste und boxten kraftlos in die Luft. Ein zahnloses Grinsen überzog die verschrumpelten Gesichter.
»Das war alles geplant«, erklärte Hudson. »Ich wusste, dass es so kommt. Ohne mich sind die Meuterer verloren.«
»Wie haben sie es dann geschafft, zu wenden und wieder zu uns zurückzukommen?«, murmelte Jonas.
Er sah Katherine an und versuchte sie mit Blicken zu fragen: Ergibt das irgendeinen Sinn für dich? Hier stimmt doch etwas nicht!
Sie schüttelte nur stumm den Kopf, die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Neben Jonas saß ein Seemann, der sich über eine kleine Kiste beugte, und erst jetzt begriff Jonas, um was es sich dabei handelte: einen Kompass. Für einen kurzen Moment sah er, wie die Nadel herumschwang und nach Norden wies.
Das ist die Richtung, in die das Schiff davongesegelt ist. Nach Norden … oder Nordosten vielleicht, überlegte Jonas. Und wir sind nach Westen gefahren, als wir versucht haben, dem Treibeis zu entkommen. Aber jetzt kommt das Schiff aus südwestlicher Richtung zu uns zurück! Das ist unmöglich! Wie kann es so schnell um uns herumgesegelt sein?
»Ich bin … kehrtgemacht«, murmelte der Seemann mit dem Kompass. »Die Richtungen … nichts stimmt mehr.«
»Wydowse, die Krankheit verwirrt Euren Geist«, sagte Hudson fast freundlich. »Ihr seid ein vorzüglicher Navigator – und Ihr werdet es auch wieder sein, wenn Ihr erst genesen seid.«
»Die Discovery ist in diese Richtung verschwunden«, sagte Wydowse und zeigte nach Norden. »Und jetzt kommen sie zurück, aber aus Süd-«
»Ihr wisst, dass es in dieser Bai teuflische Winde und Strömungen gibt«, sagte Hudson mit einem leichten Unterton in der Stimme, als gebe er sich Mühe, nicht die Geduld zu verlieren. »Habt Vertrauen. Wir können sie besiegen!«
»Aber wenn das ein Trick ist?«, ließ Wydowse nicht locker. »Womöglich sind sie nur zurückgekehrt, um unsere Qualen zu verlängern?«
Na toll, vielen Dank!, dachte Jonas. Das hat mir gerade noch gefehlt: Noch mehr schreckliche Möglichkeiten, über die ich mir den Kopf zerbrechen kann!
Die Männer auf dem Boot verstummten und sahen zu, wie die Discovery näher kam.
»Master! Master!«, rief eine Stimme.
»Prickett?«, rief Hudson zurück. »Seid Ihr das?«
»Aye, Captain«, antwortete die Stimme. »Alles ist so verlaufen, wie wir es geplant haben.«
Geplant?, wunderte sich Jonas.
Er hätte schwören können, dass er auch über Kapitän Hudsons Gesicht einen Anflug von Verwirrung huschen sah, doch dieser überspielte ihn schnell, indem er rief: »Ganz recht! Ausgezeichnet!«
Dann begann Hudson Befehle zu erteilen, um die Schaluppe in Richtung des Schiffes zu wenden. Jonas griff schnell nach dem Ruder, bevor der Mann Gelegenheit hatte, ihn abermals zu schlagen.
Die meisten Männer hier im Boot sind zu krank und zu weggetreten, um überhaupt mitzukriegen, was geschieht, überlegte er. Ob Staffe wohl findet, dass hier etwas Merkwürdiges vor sich geht? Oder John King?
Es war schwer zu sagen. Beide waren damit beschäftigt, die Schaluppe längsseits des Schiffes zu bringen und die Leinen zu befestigen. Dann wurde das Boot ruckend nach oben gezogen.
»Gemach«, rief Hudson. »Schön gleichmäßig.«
Kurz darauf kletterten alle, die dazu in der Lage waren, zurück an Deck des Schiffes. Jonas half Staffe, die Männer herauszuheben, die zu schwach waren, um sich zu bewegen.
»Master«, sagte ein Mann und verbeugte sich tief.
Der Mann hatte schmutziges, ungekämmtes Haar und seine Kleidung war nicht weniger zerlumpt als die der anderen Seeleute. Auch sein Gesicht war ebenso pockennarbig und zerklüftet. Dennoch hatte er etwas an sich, eine Aura von Stärke und Sicherheit, die niemand sonst besaß, nicht einmal Hudson selbst.
»War der Mann vorher auch schon da?«, erkundigte sich Jonas flüsternd bei Katherine. »Und was hat er dann während der Meuterei gemacht?«
Achselzuckend flüsterte Katherine zurück: »Noch nie gesehen.«
»Prickett«, sagte John King in erstauntem Ton. »Ich dachte, Ihr wäret siech. Ich habe Euch seit Tagen nicht mehr auf den Beinen gesehen.«
Prickett sah Henry Hudson unverwandt an.
»Der Master und ich haben uns verschworen«, erklärte er dann. »Als wir hörten, dass von Meuterei die Rede war, wusste er, dass er auf der Gegenseite einen Spion braucht. Jemanden, der harmlos wirkt. Der nicht einmal laufen kann! Obwohl ich es in Wirklichkeit«, sein Lächeln wirkte fast wie eine Drohung, »mit jedem Einzelnen hier aufnehmen kann, wenn es sein muss.«
»Und was habt Ihr mit den Meuterern gemacht?«, fragte Hudson. »Habt Ihr … habt Ihr meine Befehle ausgeführt?«
Plötzlich war Jonas sicher, dass Hudson dem Mann keine Befehle erteilt hatte. Prickett hatte ihn ebenso überrumpelt wie alle anderen.
»Natürlich, Sir«, sagte Prickett mit einer weiteren Verbeugung. »Die anderen Männer und ich, jene, die Euch nach wie vor treu ergeben sind und sich nur verstellt haben, ließen die Meuterer auf dem Eis zurück.«
»Juet«, sagte Hudson und sah sich um. »Wilson, Greene und Bylot.«
Jonas begriff, dass Hudson die Meuterer aufzählte, jene Männer, die nun fehlten.
»Auf dem Eis?«, fragte Staffe. »Spürt Ihr denn nicht die milde Luft? Es ist ein warmer Tag heute. Das Eis kann bis Mittag komplett geschmolzen sein.«
»Dann wird das Wasser für die Meuterer warm genug sein, um ans Ufer zu schwimmen«, sagte Prickett leichthin. »Das sind bessere Aussichten, als in London wegen Meuterei am Strick zu enden, meint Ihr nicht?«
»Meuterer enden immer am Galgen«, sagte Hudson. Wieder sah er sich um und diesmal schien er jedem Einzelnen in die Augen blicken zu wollen. »Selbst wenn das Wort des Kapitäns gegen das der gesamten Besatzung steht.«
Jonas musste einen Schauder unterdrücken, als Hudson in seine Richtung sah.
Er warnt jeden von uns, auch nur daran zu denken, ihm noch einmal zu widersprechen, dachte er.
»Juet, Wilson und Greene haben uns dem Hungertod preisgegeben«, sagte John King. »Warum sollen wir sie nicht ertrinken lassen? Warum sollten wir unsere kostbaren Vorräte teilen mit solchem … solchem Geschmeiß?«
Einer der kranken Seeleute, der auch in der Schaluppe gesessen hatte, versuchte es mit einem Anfeuerungsruf: »Hört! Hört!« Doch er klang so heiser, dass es schmerzte, ihm zuzuhören.
Niemand schloss sich ihm an.
»Die Meuterer haben Vorräte gehortet«, erklärte Prickett. »Sie wurden entdeckt, nachdem wir die Männer ausgesetzt hatten. Symmes?«
Auf seinen Wink hin kippte einer der Männer hinter ihm – nein, es war noch ein Junge – ein Fass nach vorn und riss den Deckel ab. Jonas sah verschimmelte runde Käselaibe, aufgetürmtes schimmeliges Brot und grünlich verfärbtes … Fleisch? Sah Fleisch so aus, wenn es ganz und gar verdorben war?
Neben ihm kämpfte Katherine stumm gegen das Erbrechen. Sie hielt sich mit beiden Händen den Mund zu und unterdrückte den Würgreiz.
Jonas hätte das Gleiche getan, wenn er unsichtbar gewesen wäre. So aber biss er die Zähne zusammen und versuchte, nicht an Schimmel und Fäulnis zu denken.
Essen ist nicht so wichtig, sagte er sich. In dem Fisch, den wir 1600 gegessen haben, waren sicher tonnenweise Nährstoffe. Die reichen für Jahrzehnte!
Die Seeleute um ihn herum staunten und jubelten, manche geiferten regelrecht, als habe man soeben vor ihren Augen ein Festmahl offenbart.
»Nun«, sagte Hudson, dessen schroffe Stimme den Jubel durchbrach. »Vielleicht bietet das Mittagsmahl Gelegenheit für eine Extraration Fleisch. Vorausgesetzt, alle kümmern sich um ihre morgendlichen Pflichten. Dieser Verrat hat uns genug Zeit gekostet. Es gibt viel zu tun. Wydowse, nehmt Kurs nach Westen. Alle Mann auf ihre Posten!«
Die Männer zerstreuten sich.
O nein, dachte Jonas. John Hudson war Schiffsjunge, er wird auch irgendwelche Aufgaben und Pflichten haben. Was soll ich nur tun?
Symmes, der Junge, der das Vorratsfass aufgerissen hatte, stieß ihm einen spitzen Ellbogen in die Rippen.
»Du musst in den Ausguck«, höhnte er.
»In den A-Ausguck?«, wiederholte Jonas und warf Katherine einen ratlosen Blick zu.
Diese riss Mund und Augen auf.
»Gewiss«, sagte Symmes. »Versuch erst gar nicht, dich zu drücken. Ich klettere heute nicht hoch!«
Er wies mit einem knochigen Finger geradewegs in den Himmel hinauf.
Jonas legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben … höher und höher … und höher.
Ein hölzerner Bottich befand sich hoch oben am Ende des Großmasts, praktisch in den Wolken.
»I-Ich … kann nicht«, sagte Jonas. »Nicht heute.«
Symmes trat Jonas mit aller Kraft auf den Fuß und drehte seinen eigenen Fuß ein paar Mal hin und her, damit es noch mehr wehtat.
»Aye, ist das dann nicht Meuterei?«, fragte er. »Ein Schiffsjunge, der sich weigert, ins Krähennest aufzuentern?« Er verstärkte den Druck auf Jonas’ Fuß, dass diesem der Schmerz das Bein hinaufschoss. »Glaub nicht, ich würde das nicht melden.«
Keine Bange, hätte Jonas am liebsten gesagt. Ich glaube dir! Du würdest es melden! Du würdest hochklettern und mich aus dem Krähennest werfen, wenn du der Ansicht wärst, dass es dir nützt!
»Ich geh ja schon! Ich geh ja schon!«, sagte er.
Er packte eine Webleine.