Fünf

Jonas wandte ruckartig den Kopf und sah einen riesigen Knüppel auf sich zukommen. Er war bereits zu nah, um ihm noch auszuweichen, doch Jonas versuchte es trotzdem. Er zog die Schultern ein, hob schützend die Arme über den Kopf, rollte sich nach rechts und 

Warum hat er mich noch nicht getroffen?

Er merkte, dass er instinktiv die Augen zugemacht hatte, wagte es aber jetzt, eines ein wenig zu öffnen, während er sich gleichzeitig zur Seite rollte.

Der Knüppel schwebte immer noch über ihm, allerdings befand sich Jonas nicht mehr direkt in seiner Bahn. Er rutschte noch weiter nach rechts. Der Knüppel verharrte in der Luft.

Er bewegte sich nicht.

»Was zum –«, murmelte Jonas.

Er raffte genug Mut zusammen, um sich aufzusetzen und zum Griffende des Knüppels zu schauen. Ein unbarmherzig dreinblickender Matrose hielt ihn mit schmutzigen und entzündeten Händen fest.

Auch der Matrose bewegte sich nicht.

Als Jonas sich – ein wenig ruhiger geworden – umsah, bemerkte er, dass auch John Hudsons Marker erstarrt war und genau an der Stelle lag, an der auch er sich noch Sekunden zuvor befunden hatte. Der Marker schien von dem Mann über sich nichts zu ahnen. Sein Kopf befand sich direkt unter dem Knüppel, das perfekte Ziel.

Der Marker bewegte sich nicht einen Millimeter von der Stelle, nicht einmal mit dem Rollen des Schiffs.

Aber eigentlich bewegte sich auch das Schiff nicht mehr. Die Discovery verharrte regungslos auf dem Kamm einer Dünung, die sie auf der rechten Seite anhob und auf der linken nach unten sacken ließ.

»Sag mal, HK«, sagte Jonas und zog in aller Ruhe den Definator aus dem Umhang. »Warum hast du beschlossen, die Zeit anzuhalten?«

»Jonas!«, mit einem Aufschrei schoss Katherine hinter dem Knüppel schwingenden Matrosen hervor. »Der Mann wollte dich umbringen!«

Jonas sah, dass sie den Matrosen an den Armen gepackt und versucht hatte, ihn zurückzuhalten.

»Kugelsicher! Stichsicher!«, fauchte sie. Sie riss ihrem Bruder den Definator aus der Hand und schrie direkt hinein. »Du hast es so dargestellt, als ob Jonas nichts passieren könnte! Wie soll ihn ein blödes Kostüm davor bewahren, totgeschlagen zu werden?«

»Katherine«, sagte HK. »Jonas. Schaut euch den Mann mit dem Knüppel genau an.«

Jonas schaute.

Zuvor hatte er nur den Schmutz und den unbarmherzigen Gesichtsausdruck wahrgenommen. Jetzt betrachtete er das Gesicht des Mannes genauer: Seine Augen lagen noch tiefer in den Höhlen als die des Markers, seine Wangen waren von Wunden übersät und die Knochen zeichneten sich so deutlich ab, als könnten sie jeden Moment die papierne Haut durchstoßen.

»Ich habe schon Skelette gesehen, die gesünder aussahen«, sagte HK. »Er hat kaum genug Kraft, um den Knüppel hochzuheben.«

Es stimmte: Selbst in erstarrtem Zustand sahen die Arme des Mannes aus, als hätten sie beim Schwingen des Knüppels vor Anstrengung gezittert.

»Er hätte Jonas nicht wirklich wehtun können«, sagte HK. »Aber John Hudson, der Marker, ist auch nicht viel besser dran. Ein leichter Schlag und er ist aus dem Rennen, bis er im Ruderboot liegt.«

»Also soll ich während einer ganzen Meuterei so tun, als ob ich ohnmächtig wäre?«, fragte Jonas. Natürlich hatte er sich Gedanken darüber gemacht, was er tun und sagen sollte. Aber war das nicht doch ein wenig … beleidigend? »Hättet ihr für die Rolle nicht einfach eine Puppe nehmen und mich aus dem Spiel lassen können?«

»Das hätte nicht funktioniert«, sagte HK, der nun wieder angespannt klang. »Es war nicht genug Zeit, wir hatten die Sache nicht im Griff.« Jonas spürte einen eisigen Windstoß und das Schiff legte sich leicht nach links, ehe es mit ordentlicher Schieflage wieder erstarrte. »Schnell! Ich kann es nicht länger anhalten! Leg dich wieder an deinen Platz, Jonas!«

Jonas warf seiner Schwester einen Blick zu. Normalerweise war er ein ziemlich folgsamer Junge. Das Leben war einfacher so, fand er. Lieber zwei Minuten erübrigen und den Müll raustragen, als sich einen fünfundvierzigminütigen Vortrag anzuhören, dass »jeder in der Familie eine gewisse Verantwortung hat und seinen Anteil übernehmen muss« und dass »wir nur versuchen, dich auf das Leben als Erwachsener vorzubereiten, Jonas. Dann musst du dich um dich selbst und um andere kümmern …« Und so weiter und so weiter.

Aber Jonas war auch sein Leben lang mit Erwachsenen zusammen gewesen, mit Eltern, Lehrern und Trainern, die nicht müde wurden, ihm Dinge zu erklären. »Der Grund, warum du dein Zimmer putzen sollst, ist der …« »Du musst bei dieser Aufgabe den kompletten Rechenweg aufzeigen, weil …« »Wenn du den Ball abgibst, statt selbst aufs Tor zu schießen, dann …«

Am liebsten hätte er Katherine beiseitegezogen. Gab es eine Möglichkeit, jemanden doppelt aus der Zeit zu holen? Er wollte unter vier Augen mit ihr sprechen, an einem Ort, an dem HK sie nicht hören konnte. Was war, wenn es eine ganz, ganz schlechte Idee war, HK zu folgen? Wenn sie ihm doch nicht vertrauen konnten? Wenn er sie anlog? Sollten er und Katherine vielleicht ihre eigene Meuterei anzetteln?

Jonas versuchte all diese Fragen in einen einzigen Blick zu legen. Er wusste nicht, ob Katherine auch nur eine davon verstand, aber sie verzog gequält das Gesicht.

Dann schob sie ihm den Definator in den Umhang und murmelte: »Mach schon. Ich passe auf dich auf.«

Jonas erwog, ihr eine sarkastische Antwort zu geben, etwa: Du und wer noch? Du bist gerade mal einsfünfzig groß! Und wiegst nicht mal vierzig Kilo. Aber wahrscheinlich war sie tatsächlich stark genug, um dieses Skelett von einem Matrosen zu überwältigen.

Vorsichtig legte sich Jonas auf das Deck und gab sich alle Mühe, die Haltung des Markers einzunehmen. Im letzten Moment legte er aufsässig den Kopf zurück. Er war vielleicht dumm genug, sich mit einem Knüppel auf den Kopf schlagen zu lassen, aber er würde es nicht blindlings über sich ergehen lassen.

Peng!

Der Knüppel knallte ihm auf die Stirn. Jonas kippte nach hinten.

Okay, vielleicht war der Matrose nicht stark genug, um selbst fest zuzuschlagen, dachte er. Aber … die Schwerkraft schon! Hatte denn keiner daran gedacht, dass die Schwerkraft den Knüppel nach unten ziehen würde? Das war ein heftiger Schlag!

Unwillkürlich hob er die Hand zum Kopf, um sich die schmerzende Stelle zu reiben.

»Du solltest lieber so tun, als wärst du weggetreten, Jonas, genau wie der Marker. Sonst schlägt er am Ende noch mal zu«, flüsterte HK kaum hörbar.

Jonas ließ die Hand sinken und erschlaffte.

»Jonas!«, hörte er Katherine aufheulen, die sich auf die Knie fallen ließ und sich über ihn beugte.

Der Matrose, der ihn geschlagen hatte, musste sie ebenfalls gehört haben.

»Hexerei? Teufelswerk?«, murmelte er verängstigt.

Jonas öffnete die Augen gerade so weit, dass er sehen konnte, wie der Matrose sich mit entsetzensstarren Augen nach allen Seiten umsah.

»Halt die Klappe, Katherine! Jonas geht es gut! Er tut nur das, was er tun soll«, zischte HK wieder so leise, dass Jonas ziemlich sicher war, dass dieses Geräusch nicht an die Ohren des Matrosen dringen würde.

Er konnte nicht sehen, was Katherine tat, doch der Seemann zuckte die Achseln, als sei er zu dem Schluss gekommen, dass er andere Sorgen hatte als Teufel und Hexen.

»Ich hab den Strolch gefunden«, rief er in den Niedergang. »Und ihm gegeben, was er verdient hat, jawohl.«

Soweit Jonas hören konnte, erhielt der Mann keine Antwort. Dennoch begann der Matrose an Jonas’ Beinen zu zerren und ihn beiseitezuziehen.

Wenn er mich hochhebt und es so aussieht, als würde er mich gleich über Bord werfen, halte ich nicht länger still, dachte Jonas. Ganz egal, was HK von mir erwartet.

Es war schwer genug stillzuhalten, während er gezogen wurde. Die dünne Eisschicht auf dem rauen Deck erleichterte es seinem Körper vermutlich, über die Planken zu rutschen, doch sie brannte auf der nackten Haut seines Gesichts.

So viel zum Thema schützende Maske, dachte Jonas. Den nächsten Gedanken wollte er gar nicht zu Ende denken, konnte aber nichts dagegen tun: Was ist, wenn es gar keine schützende Maske gibt? Wenn es nur ganz normales Make-up ist?

Der Matrose hörte auf, an Jonas’ Füßen zu zerren, und wickelte ihm nun ein Tau um die Fesseln, führte es hoch zu seinen Handgelenken und band Hände und Füße zusammen. Dann schob er Jonas hinter eine Reihe Fässer, wo es düster war.

»Und da bleibst du jetzt«, murmelte der Matrose, »du Hundesohn.«

Ein großer Wassertropfen platschte Jonas auf die Wange.

Ein Tropfen von einem schmelzenden Eiszapfen?, fragte er sich. Oder Gischt, die vom Meer heraufspritzt?

»Jonas!« Katherines eindringliches Flüstern war direkt neben seinem Ohr. »Der Mann hat dich gerade angespuckt!«

»Igitt, wie ekelhaft!« Jonas vergaß fast zu flüstern und sich wenigstens mit einem halben Auge zu vergewissern, dass sich der Seemann abgewandt hatte, bevor er die Hände hob, um den Speichel abzuwischen. Da seine Hände und Füße zusammengebunden waren, musste er gleichzeitig auch die Füße nach oben zerren.

»Machst du bitte das Seil locker?«, bat er Katherine. »Für alle Fälle …«

Katherine hockte sich neben ihn und zog an den Knoten.

»Autsch – Fingernagel abgebrochen«, murmelte sie und verzog maulend das Gesicht.

»Du wirst es überleben«, murmelte Jonas zurück.

»Pst!«, zischte HK den beiden zu. »Ihr dürft nichts verändern!«

Katherine hielt einen Moment inne, starrte dorthin, wo Jonas in seinem Umhang den Definator verstaut hatte, und fuhr dann fort, an den Knoten herumzuziehen.

»Niemand wird es merken«, murmelte sie. »Und wir können uns im Notfall wenigstens verteidigen.«

Sie zog das Ende des Taus heraus. Jonas lockerte die Schlingen um Hand- und Fußgelenke, sodass er genug Platz hatte, um sie abzustreifen, wenn es notwendig war.

Auf der anderen Seite der Fässer wurden Schritte laut und Jonas machte sicherheitshalber die Augen zu und ließ den Kopf nach hinten fallen.

»Alles klar, sie sind vorbeigegangen«, flüsterte Katherine. »Es ist eine ganze Gruppe. Sie sind auf dem Weg zur Tür, an die der Marker nicht klopfen wollte …«

Sie verstummte.

»Was passiert jetzt?«

»Sie versuchen sich zu einigen, wer anklopfen soll. Warte mal, ich glaube, einer von ihnen hat sich gerade freiwillig gemeldet …« Sie hielt die Luft an. »Nein, sie streiten sich darum.«

Es war unerträglich, dazuliegen und darauf zu warten, dass Katherine ihm das Geschehen beschrieb. Benommen und mit hämmerndem Kopf setzte Jonas sich auf und spähte seitlich an einem Fass vorbei.

Der Kampf schien in Zeitlupe abzulaufen. Einer der Männer schubste einen anderen und ein dritter hob die Faust, um den ersten zu schlagen. Doch der potenzielle Schläger hatte anscheinend ein Problem mit dem Gleichgewicht. Schon das Heben der Faust reichte aus, um ihn rückwärts umfallen zu lassen. Er stürzte mit dumpfem Aufschlag zu Boden und lag blinzelnd da, als wisse er nicht, wie ihm widerfahren war.

Jonas verbiss sich das Lachen.

»Pst, sie werden dich hören«, zischte Katherine. »Die Tür geht auf! Duck dich, bevor dich jemand sieht.«

Jonas kauerte sich zusammen, zog aber den Kopf nicht ein, sondern sah weiter zu.

Die Handvoll Seeleute, die nicht zu Boden gegangen war, trat von der Tür zurück. Unruhig kneteten die Männer die Hände und warfen sich nervöse Blicke zu.

Der Mann, der am dichtesten an der Tür stand, zog eine Waffe.

»Äh, HK?«, flüsterte Katherine. »Ich weiß, dass du gesagt hast, Jonas könnte nichts passieren, weil sein Kostüm kugelsicher ist, aber was ist mit mir? Wenn der Mann in unsere Richtung feuert –«

»Das wird er nicht«, flüsterte HK zurück.

»Vielleicht solltest du noch ein Stück hinter das Fass kommen«, flüsterte Jonas.

Katherine kauerte sich förmlich über ihn. Dann lugten beide hinter dem Fass hervor.

Die Tür war jetzt weit offen. Ein Mann stand im Rahmen und sah gelassen auf die Waffe.

»So weit ist es also gekommen«, sagte er.

Jonas sah, wie die Pistole in der Hand des anderen Mannes zitterte.

»Ihr lasst uns keine andere Wahl, M-Master«, sagte dieser. »Wenn wir nicht in ein eisiges Grab sinken wollen, müssen wir umkehren, solange wir es vermögen, solange der Sommer anhält.«

Sommer?, dachte Jonas. Das hier soll Sommer sein?

»Bist du sicher, dass wir nicht am Nordpol sind, HK?«, murmelte er.

HK gab keine Antwort.

Ebenso wenig wie der »Master« im Türrahmen.

»Bindet ihm die Hände!«, schrie der Mann mit der Pistole.

Zwei andere Matrosen traten mit Tauen vor.

Der Mann im Türrahmen streckte die Hände aus, als kümmere es ihn nicht, was die anderen taten.

»Dann wird der Ruhm der Entdeckung also mir allein gebühren«, sagte er. »Wenn Ihr längst tot und vergessen seid, werden die Menschen meinen Namen preisen, derweil sie die Hudson Passage durchfahren!«

Katherine drückte Jonas den Ellbogen in den Rücken.

»Das muss Henry Hudson sein!«, flüsterte sie.

»Ich bin ja nicht blöd!«, gab Jonas zurück. Am liebsten hätte er gefragt: Gibt es denn irgendwo eine Hudson Passage? Hat der Mann recht behalten? Aber schließlich wollte er nicht wie ein Idiot dastehen.

»’s wird keine ›Hudson Passage‹ geben«, sagte der Mann mit der Pistole. »Wir segeln nach Hause.«

»W-Weil Ihr uns in den Tod treiben wollt für etwas, das es gar nicht gibt«, sagte ein anderer.

Nach Zustimmung heischend wandte er sich zu seinen Kameraden um.

Die nickten und rückten bedrohlich vor.

Hudson rührte sich nicht vom Fleck.

»Ihr habt den Glauben verloren«, sagte er. »Ausgerechnet jetzt, wo ich herausgefunden habe …«, er verstummte und musterte die versammelten Männer mit eisigem Blick. »Es ist müßig, mit Ungläubigen zu disputieren.«

Jonas war beeindruckt von Hudsons Gelassenheit. Entweder war der Mann komplett verrückt oder ausgesprochen mutig.

Womöglich ist er blind?, überlegte er. Sieht er denn die Pistole nicht?

Der Mann, der sie in den Händen hielt, ließ die Waffe sinken.

»Wie solltet Ihr etwas herausgefunden haben?«, fragte er. »Wir sind seit Montag eingeschlossen. Sind mitten im Juni von Eis eingeschlossen!«

»Ich bin ein vortrefflicher Kapitän«, sagte Hudson leichthin. »Ich vermag die Winde und die Wellen zu lesen. Ich sehe Dinge, die kein anderer sieht.«

Die Männer wechselten nervöse Blicke. Weiter hinten steckten einige von denen, die aufs Deck gestürzt waren, die Köpfe zusammen und tuschelten.

Der Mann mit der Pistole funkelte die Geheimniskrämer wütend an und richtete die Waffe noch entschlossener auf Hudson.

»Ist Euch klar, dass Ihr nicht länger Herr des Schiffes seid?«, fragte er.

Zum ersten Mal sah ihn Hudson direkt an.

»Mir ist klar, dass Ihr wegen Meuterei hängen werdet«, erwiderte er. »Ihr und alle, die sich Euch anschließen.«

Das löste weiteres Geflüster aus.

»Wir werden erklären, dass Ihr eines natürlichen Todes gestorben seid«, sagte der Mann mit der Waffe. »Wir leisten einen Schwur; niemand wird das Wort ›Meuterei‹ auch nur in den Mund nehmen. Keiner wird je davon erfahren.«

Hudsons Kopf fuhr in die Höhe.

»Ihr werdet erklären, dass Ihr mich in der Schaluppe zurückgelassen habt«, sagte er. »Auf eigenen Wunsch.«

»Schaluppe?«, flüsterte Jonas. »Was ist das?«

»Das Beiboot«, erklärte HK flüsternd.

»Er bittet sie, ihn in einem Ruderboot auszusetzen?«, wunderte sich Jonas. »Im Packeis?«

»Besser, als erschossen zu werden«, sagte Katherine mit zitternder Stimme.

»Wollt Ihr einem alten Seemann seinen letzten Wunsch abschlagen?«, drängte Hudson.

Der Mann mit der Pistole zog sich zurück, um sich leise mit den anderen zu beraten.

Jonas schnappte einige Bruchstücke der Diskussion auf, denn die Seeleute waren nicht sehr gut darin, mit gesenkter Stimme zu sprechen.

»Was ist, wenn wir die Schaluppe zum Fischen brauchen?«, maulte einer der Matrosen.

»Erhöht oder mindert das unsere Aussichten auf den Strick?«, plärrte ein anderer.

Schließlich kehrte der Mann mit der Pistole zu Hudson zurück.

»Also gut«, sagte er. »Ihr bekommt die Schaluppe. Und jeden, der närrisch genug ist, Euch zu folgen.« Er stieß Hudson die Waffe gegen die Brust. »Und wir behalten die Vorräte, die Ihr versteckt habt.«

»Wie war das? Im Ruderboot wird es auch nichts zu essen geben?«, fragte Jonas.

»Psst, Jonas!«, zischte HK.

»Geht und holt die anderen«, raunte der Mann mit der Pistole den Seeleuten neben sich zu. Zwei Männer lösten sich aus der Gruppe und hasteten den Niedergang hinab. Jonas bewunderte die Schnelligkeit, mit der sie sich auf dem schwankenden Schiff bewegten.

Kurz darauf kehrten die Männer zurück, wobei sie eine kleine Schar noch schwächer wirkender Seeleute mitschleiften oder vor sich herstießen.

»Sind das etwa Leichen?«, fragte Katherine. »Wollen sie Hudson mit einem Haufen Toter in einem Ruderboot aussetzen?«

»Nein, sie sind nicht tot … noch nicht«, flüsterte HK grimmig. »Aber auch nicht mehr weit davon entfernt. Hudson wird mit einem Ruderboot voller sterbender Seeleute im Eismeer festsitzen.«

Katherine sank zu Boden und rutschte ein Stück von Jonas fort. Sie machte keine Anstalten mehr, weiter um die Ecke zu schauen, und starrte blicklos auf das dunkle Holz des Fasses vor ihr.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Klar sind die Seeleute sauer auf Henry Hudson, weil sie nach Hause wollen und er nicht. Aber die anderen Männer da liegen doch schon im Sterben. Man schickt keine sterbenden Männer in einem Ruderboot ins Eis. Man steckt sie ins Bett und füttert sie mit, was weiß ich, Hühnersuppe.«

»Wenn niemand mehr ein Huhn zu Gesicht bekommen hat, seit sie vor über einem Jahr von England fort sind?«, wandte HK ein. »Wenn jeder Bissen, der in den Mund eines Sterbenden wandert, einem anderen fehlt? Wenn ohnehin alle auf dem Schiff Angst haben, zu verhungern?«

Jonas schauderte. Er war sich nicht sicher, ob es an der Kälte lag oder an HKs harten Worten. Dieses Schiff war ein schrecklicher Ort. Selbst wenn sie nicht im Eis treiben würden, wäre es grausam, kalt und widerlich.

Er schubste John Hudsons bewusstlosen Marker an.

»He, du da«, flüsterte er. »Willst du nicht langsam aufwachen und den Helden spielen und für deinen Dad und all die sterbenden Matrosen kämpfen?«

Natürlich fuhr seine Hand mitten durch den Marker hindurch.

Katherine sah ihren Bruder an.

»Jonas«, sagte sie. »Glaubst du nicht –«

Sie verstummte, weil unter den Seeleuten auf der anderen Seite des Fasses Geschrei einsetzte.

»Pass auf!«

»Nein, nicht –«

»Er hat ein Schwert!«