»Sie fahren ohne mich ab?«, sagte Jonas ungläubig.
Er setzte sich ruckartig auf, streckte den Fuß aus und stieß dabei gegen den unteren Rand des Fasses, das wie in Zeitlupe in Bewegung geriet. Ganz langsam begann es zu schwanken und sich Jonas und der Reling zuzuneigen. Jonas streckte den Arm aus, drückte gegen den oberen Rand und versuchte es an seinen Platz zurückzuschieben.
Das hätte wunderbar funktioniert, wenn sich Jonas auf ebenem, unbeweglichem Boden befunden hätte. Doch sein Stoß erfolgte genau in dem Moment, als das Schiff auf eine große Welle traf, nach unten sackte und sich dann wieder aufrichtete.
Das Fass kippte nach vorn, stürzte aufs Deck und begann auf die Meuterer zuzurollen.
»Ich mache das! Nicht bewegen!«, zischte Katherine.
Es war unendlich schwer, zusammenzusacken und sich bewusstlos zu stellen, wenn einem so viel Adrenalin durch den Körper rauschte. Jede einzelne Nervenzelle in Jonas’ Körper schien zu schreien: Nein! Tu etwas! Lauf weg!
Jonas ließ eines seiner Augenlider ein wenig nach oben gleiten – so etwas taten Leute manchmal, wenn sie ohnmächtig waren, nicht wahr?
Er wünschte auf der Stelle, er hätte es nicht getan.
Auf der anderen Seite des Decks waren die Meuterer herumgefahren. Erstaunt starrten sie auf das Fass, das direkt auf sie zurollte. Und sie staunten noch mehr, als das Fass urplötzlich anhielt, obwohl sich das Deck weiter zur Seite neigte.
Der Anführer riss seine Pistole heraus.
Er richtete sie auf das Fass und damit auf Katherine, da sie es war, die das Fass, für die anderen unsichtbar, festhielt.
»Was ist das für ein Höllenwerk?«, murmelte der Meuterer. »Ist ein Geist in unser Wasserfass gefahren?«
»Das beweist, dass der Master mit dem Teufel im Bunde ist!«, schrie ein anderer Meuterer.
»Nein, es beweist, dass eure Meuterei des Teufels ist!«, schrie einer der Männer aus der Schaluppe zurück.
Dann standen alle einfach nur da. Jonas hatte das Gefühl, einer defekten DVD zuzusehen, die willkürlich vorsprang oder hängen blieb. Die Zeit war nicht stehen geblieben, das Schiff hob und senkte sich immer noch ruckartig und die Schaluppe schaukelte an den Flaschenzügen ungleichmäßig hin und her. Und auch die Männer waren nicht völlig bewegungslos. Der Mann mit der Pistole machte schmale Augen, als versuche er genauer zu zielen … genauer in Katherines Richtung zu zielen.
Ich weiß, dass du gesagt hast, Jonas könnte nichts passieren, weil sein Kostüm kugelsicher ist, aber was ist mit mir?, hatte sie HK erst vor wenigen Minuten gefragt.
Ihr hatte er nicht gesagt, dass ihr nichts passieren könne.
»He, ihr da!«, rief Jonas und sprang auf. Die losen Fesseln rutschten ihm von den Hand- und Fußgelenken. »Gefällt euch mein neuer Fasstrick?«
Er ließ die Taue liegen und trat vor. »Mach Platz!«, flüsterte er Katherine ins Ohr, dann sprang er auf das umgekippte Fass. Vielleicht konnte er darauf balancieren wie ein Zirkusartist und es vorwärts- und rückwärtsrollen, dann würden die Matrosen so fasziniert sein, dass sie vergäßen, auf welch seltsame Weise das Fass zum Stehen gekommen war.
Doch offensichtlich brauchte man als Zirkusartist viel Übung und Erfahrung. Jonas schaffte es nicht einmal, sich gerade hinzustellen, ehe er wieder herunterfiel und sich an der Kante das Kinn aufschlug. Er landete auf dem Deck und das Fass eierte weiter, bis es an der Reling zerbrach.
Gluckernd lief das Wasser heraus und sammelte sich in Pfützen an Deck.
Jonas hoffte inständig, dass Wasser an Bord nicht ebenso knapp war wie Lebensmittel.
»Hoppla«, sagte er. »Tut mir leid.«
Alle starrten ihn an. Die Männer wirkten ganz und gar fassungslos. Der Matrose, der Jonas auf den Kopf geschlagen und ihn hinter die Fässer gezogen hatte, sah aus, als habe er ihn völlig vergessen. Vielleicht war er auch nur verblüfft, dass »John Hudson« plötzlich wieder bei Bewusstsein war und sich so lächerlich aufführte.
Doch die Mienen der anderen Männer vermochte Jonas nicht ganz zu deuten.
Und wenn HK nun völlig danebengelegen hat mit dem, was John Hudson widerfahren sollte?, überlegte er. Wenn es nie vorgesehen war, dass er in der Schaluppe landet, und er stattdessen mit den Meuterern davonsegeln und seinen Vater im Eis zurücklassen soll?
Jonas spähte zu Henry Hudson hinunter, als könnte dieser ihm einen Hinweis geben. Vielleicht würde Hudson ihn stolz und voller Liebe anblicken und murmeln: »Mein Sohn, du weißt, dass ich dich nie allein zurücklassen würde.« Oder er machte ein enttäuschtes Gesicht, weil er gehofft hatte, dass sein Sohn wohlbehalten an Bord bleiben und nach England zurückkehren könnte, und sei es mit einer hinterlistigen Bande von Meuterern.
Stattdessen sah keiner verwirrter aus als Henry Hudson selbst.
»Sie haben dich zurückgeschickt?«, murmelte er ungläubig. »Sie haben dich zurückgeschickt?«
Er wirkte am Boden zerstört beim Anblick seines Sohnes. Zum ersten Mal begann er sich wirklich wie ein Kapitän zu verhalten, der in Schimpf und Schande von seinem Schiff geworfen worden war. Er ließ Kopf und Schultern hängen und in seiner Miene spiegelte sich die Enttäuschung. Er hielt sich die gefesselten Hände vor den Mund, als könnte er seine Erregung nur mühsam im Zaum halten.
Hudsons offensichtliche Verzweiflung schien den Meuterern zu helfen, über ihr weiteres Vorgehen Klarheit zu gewinnen.
»Meint Ihr nicht, dass auch die Schaluppe einen eigenen Schiffsjungen braucht?«, schrie einer der Seeleute.
»Aye«, erwiderte ein anderer. »Dann wird er jetzt Schaluppenjunge!«
Zwar hatte Jonas das Wort »Schaluppe« bis vor wenigen Augenblicken noch nie gehört, dennoch war ihm klar, dass dies als grobe Beleidigung gemeint war, etwa so, als wollte man Lance Armstrong zwingen, Dreirad zu fahren. Einige der Matrosen lachten so sehr, dass sie umfielen.
»Der Teufel soll auf seine Brut nicht verzichten müssen!«, schrie einer der Männer.
Er ging zu Jonas, hob ihn hoch und warf ihn in die Schaluppe, die man bereits ein Stück abgelassen hatte.
Sobald Jonas im Boot landete, veränderten seltsamerweise alle ihre Position. Es ging nicht darum, ihm Platz zu machen, davon gab es genug. Vielmehr war es eher so, als könnten sich jetzt, wo er da war, alle auf ihren richtigen Platz setzen.
»Gut gemacht«, flüsterte da jemand mit dem Hauch einer Stimme.
Sie schien aus Jonas’ Umhang zu kommen.
Aus dem Definator?, fragte sich Jonas. HK?
Wie gern hätte er gerufen: Okay, ist damit alles behoben? Sind wir wieder auf dem richtigen Gleis? Doch er saß nur etwa dreißig Zentimeter vom nächsten Matrosen entfernt und konnte sich unmöglich mit seinem Umhang unterhalten, ohne dass es auffiel. Er sah sich nach Katherine um, weil er hoffte, dass sie vielleicht eine Idee hatte, was sie tun könnten.
Aber natürlich hatte sie niemand hochgehoben und in die Schaluppe geworfen.
Katherine befand sich noch auf dem Schiff.