Zwei

»Nein, nein«, erwiderte HK. »Es ist 1611.«

Er sprach das Datum aus, als müsste Jonas und Katherine dadurch ein Licht aufgehen. Als keiner von beiden etwas sagte wie: »Ach so! Natürlich! 1611!«, erklärte er mit einem Seufzen:

»1611 wussten die frühen Entdecker bereits, dass es keinen Zweck hat, den Weg über den Pol zu nehmen«, sagte er und klang dabei wie ein Lehrer, der sich von ganzem Herzen wünschte, es mit gescheiteren Schülern zu tun zu haben. Oder zumindest mit welchen, die gebildeter waren. »Ihr seid in der James Bay, die einmal zu Kanada gehören wird. Und ihr befindet euch auf Henry Hudsons Schiff – jedenfalls noch für eine Weile. Er war derjenige, der die Theorie von ›je näher der Pol, desto wärmer das Wasser‹ widerlegt hat. Aber ihr nehmt an einer späteren Reise teil; an seiner letzten, um genau zu sein.«

Wieder ließ der unheilvolle Unterton in HKs Stimme Jonas schaudern.

Er warf einen Blick zu Katherine hinüber, die tatsächlich grinste.

»Henry Hudson?«, fragte sie und klang dabei fast so aufgeregt, als drehe sich ihr Gespräch um die Jonas Brothers und nicht um einen verstaubten alten Entdecker. Oder eher einen vereisten alten Entdecker?, ging es Jonas durch den Kopf. »Eines der verschollenen Kinder der Geschichte hieß John Hudson, nicht?«

»Richtig«, sagte HK.

»Aus der gleichen Familie?«, wollte Katherine wissen.

»Ich glaube, das kannst du dir denken«, sagte HK. »John war Henry Hudsons Sohn.«

Katherine knuffte Jonas gegen die Schulter, dass dieser fast wieder umgefallen wäre.

»Also das ist Jonas’ wahre Identität!« Jetzt quietschte sie förmlich. »Er muss John Hudson sein, weil du keine anderen verschollenen Kinder zurückgebracht hast!«

Jonas spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Er glaubte nicht, dass er die Zeitkrankheit länger dafür verantwortlich machen konnte. Aber vielleicht war es die Seekrankheit?

Er wusste, dass er eines der verschollenen Kinder war, die Gary und Hodge, zwei skrupellose Babyschmuggler aus der Zukunft, aus der Geschichte entführt hatten. Er wusste, dass er irgendwann in sein ursprüngliches Zeitalter zurückkehren musste, um den Schaden zu reparieren, den Gary und Hodge angerichtet hatten. Und ihm war klar, dass er schon vor Ewigkeiten hätte nachfragen müssen, wer er wirklich war und aus welcher Zeit er eigentlich stammte.

Doch es war beängstigend zu wissen, dass er jemand anders sein sollte als Jonas Skidmore, ein ganz normaler Junge, der von einer ganz normalen Familie adoptiert worden war.

Nein, es war grauenhaft. Und Jonas’ Strategie bestand darin, möglichst nicht daran zu denken.

Katherine, die nicht adoptiert war und die sich nie darum hatte sorgen müssen, jemand anderes zu sein als sie selbst, kannte solche Ängste nicht.

Sie boxte ihm abermals gegen die Schulter.

»Volltreffer, Jonas!«, rief sie. »Der Sohn eines großen Entdeckers!«

»Du willst, dass er der Sohn von Henry Hudson ist?«, unterbrach HK ihren Jubel. »Der Sohn eines Entdeckers, dem die Geschichte nachsagt, er sei verrückt, monomanisch oder vielleicht auch nur grottenschlecht im Umgang mit Untergebenen gewesen?«

»HK«, sagte Katherine gedämpft, als wollte sie nicht, dass Jonas sie hörte. »So was solltest du nicht sagen, wenn es sich wirklich um Jonas’ leiblichen Vater handelt.«

»Was zum Glück nicht der Fall ist«, erwiderte HK trocken. »Jonas ist nicht John Hudson.«

Jonas fühlte sich unendlich erleichtert. Auch sein Magen schien plötzlich wieder in Ordnung zu sein … nur hungrig.

Im Jahr 1600, erinnerte er sich, hatten sie nichts als Fisch gegessen. Jonas war noch nie ein großer Fan von Fisch gewesen, vor allem deshalb, weil er jede Menge davon essen konnte und eine Viertelstunde später trotzdem wieder hungrig war.

Zeitreisen brachten zwar alles ziemlich durcheinander, doch er hatte tatsächlich das Gefühl, als hätte er vor elf Jahren das letzte Mal etwas gegessen.

»Verrückt, monomani- oder was auch immer. Wen interessiert das schon!«, sagte er. »Was ich wissen will, ist, ob Henry Hudson haufenweise Essen auf seinem Schiff gebunkert hat.«

HK lachte leise vor sich hin.

»Ach, was hätte seine Geschichte für einen Verlauf nehmen können, wenn er das getan hätte«, sagte er.

»Bitte!«, flehte Jonas. »Können wir etwas zu essen bekommen, bevor wir tun, was immer wir hier tun sollen? Ich bin am Verhungern!«

»Nein, tut mir leid«, murmelte HK. Obwohl seine Stimme aus dem Definator kam und es daher schwer zu sagen war, hatte Jonas den Eindruck, als blicke sich HK schuldbewusst nach allen Seiten um, so sehr veränderte sich die Lautstärke seiner Stimme.

»Kannst du uns nicht einfach aus der Zeit holen, uns etwas essen lassen und uns dann wieder zurückbringen?«, schlug Katherine vor. Normalerweise machte sie sich gern darüber lustig, dass Jonas ständig Hunger hatte. Wenn sie ebenfalls um Essen bat, musste es wirklich dringend sein. »Oder uns etwas geben, das wir schnell verdrücken können, ohne Lärm zu machen? Wir hinterlassen schon keine Krümel, verspro-«

»Nein!«, explodierte HK. »Und wir haben keine Zeit, um über Essen zu reden! Gleich wird alles anfangen!«

Wieder begann Jonas’ Magen zu rebellieren. Doch das lag nicht nur am Hunger. Da war etwas in HKs Stimme – als hätte er sogar noch mehr Angst als Jonas und Katherine. Und bildete sich Jonas das nur ein oder drang aus dem Definator nicht nur HKs Stimme, sondern auch, ganz schwach, das leise Heulen einer Sirene?

»Was fängt gleich an?«, fragte Jonas herausfordernd. »Du musst es uns sagen.«

»Wir haben keine Zeit mehr«, erwiderte HK angespannt. »Da! Seht ihr den Marker?«

Auf einem Niedergang, der zum Deck heraufführte, erschien eine geisterhafte Gestalt. Ein schwaches Leuchten ging von ihr aus und erfüllte den Nebel um sich herum mit unheimlichem Licht.

Jonas wusste, dass dies kein echter Geist war, genauso wenig wie der Definator ein echtes antikes Metallkästchen. Vor langer Zeit, auf ihrer ersten Reise durch die Zeit, hatte er gelernt, was Marker waren: mehr oder weniger durchsichtige Gestalten, die zeigten, was Leute getan hätten – welchen Verlauf die Geschichte genommen hätte –, wenn sich keine Zeitreisenden eingemischt hätten. Sie existierten nicht wirklich und waren nur für Zeitreisende sichtbar.

Jonas fand Marker immer noch unheimlich. Und seine Erfahrungen aus dem Jahr 1600 hatten sein Misstrauen ihnen gegenüber noch verstärkt. Argwöhnisch beobachtete er die Gestalt.

»Kommt nur der eine Marker die Treppe hoch?«, fragte Katherine mit kaum hörbarem Flüstern. »Oder sind da auch echte Menschen? Müssen wir uns verstecken?«

»Zerbrecht euch darüber noch nicht den Kopf«, flüsterte HK zurück.

Der Marker schwankte unsicher an die Seite des Schiffs. Es war schwer auszumachen, um wen es sich handeln könnte, denn er war in einen zerlumpten, dreckigen Umhang gehüllt. Dann beugte sich die Gestalt über die Reling. Der Wind wehte ihr die Kapuze vom Kopf und enthüllte ein schmutziges Gewirr hellbrauner Haare und ein knochiges, von Pockennarben übersätes Gesicht.

»Gestattet mir, euch John Hudson vorzustellen«, murmelte HK. »Schiffsjunge auf den letzten vier Fahrten seines Vaters.«

»Das soll ein Junge sein?«, fragte John. »Seine Haut hat so viele Runzeln, dass ich ihn für einen alten Mann gehalten habe.«

»Das kommt vom Skorbut, den Frostbeulen und den Messerstechereien … Der Winter war hart«, sagte HK bitter. »Und der Frühling auch.«

John Hudsons Marker wandte sich von der Reling ab und rief etwas in Richtung Falltür.

»Das Eis bricht!«

Jonas brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die heisere, knarrende Stimme nicht aus dem Mund des Markers gekommen war, auch wenn seine Lippen sich synchron bewegten, sondern aus dem Definator.

»HK?«, zischte er. »Was machst du da? Ich dachte, die Zeit darf nicht verändert werden? Und –«

»Ich verändere die Zeit nicht. Ich versuche sie in der Bahn zu halten.« Die Stimme aus dem Definator hörte sich wieder wie HK an, allerdings in einer sehr gedämpften und angespannten Version. »Der Rest von John Hudsons Schiffskameraden muss hören, wie der Junge ruft, dass das Eis bricht. Da niemand einen Marker rufen hören kann, musste ich das für ihn übernehmen.«

Mit zusammengekniffenen Augen sah John zum Definator hinüber. Sein Hirn arbeitete immer noch nicht mit normaler Geschwindigkeit, aber irgendetwas an HKs Antwort kam ihm merkwürdig vor.

»Warum hast du den echten John Hudson nicht schon längst zurückgebracht und es ihn selber sagen lassen?«, fragte Katherine. »Wäre das nicht einfacher?«

»Ja, das wäre es«, erwiderte HK, der jetzt klang, als müsse er die Zähne zusammenbeißen. »Das wäre uns auch am liebsten gewesen.«

»Und warum habt ihr es dann nicht gemacht?«, fragte Jonas, der allmählich wieder folgen konnte. »Wo liegt das Problem?«

»Das versuche ich euch schon die ganze Zeit über zu sagen«, meinte HK.

»Was?«, fragte Katherine genervt.

HK zauderte. Jonas spürte auf fast unheimliche Weise, wie die Sekunden verrannen – Sekunden, die markiert wurden durch das Auf und Ab des Schiffes im Wasser; die Eiszapfen, die auf das Deck tropften; den Wind, der ein loses Seilende wie ein Pendel hin und her blies. Die Zeit wartete nicht auf HKs Antwort.

»Ich habe versucht euch zu sagen«, stieß HK schließlich hervor, »dass wir den echten John Hudson verloren haben.«