Achtunddreißig

Jonas wachte auf.

Das überraschte ihn. Vor seinem geistigen Auge stand immer noch das Bild der beiden riesigen Vordertatzen, die zum Schlag ausholten, und nach so etwas wachte man nicht mehr auf. Oder wenn man es tat, litt man unerträgliche Schmerzen, war blutüberströmt und stand an der Schwelle des Todes.

Jonas fühlte sich gut. Nur ein bisschen schlapp. Außerdem konnte er nichts sehen, doch das mochte daran liegen, dass er im Dunkeln lag.

»Ist das der Himmel?«, flüsterte eine Stimme neben ihm. Katherine.

Jemand lachte.

»Ihr beide seid nicht tot. Glaubt ihr, das würde ich zulassen? Nach allem, was ihr für mich getan habt? Und bei all dem, was ihr in der Zukunft noch zu tun haben werdet?«

Jonas konnte die Stimme nicht genau erkennen. Sie war zu verzerrt, zu weit entfernt. Vielleicht war sie auch ganz nah und normal und Jonas’ Ohren funktionierten nicht richtig. Er hatte fast das Gefühl, als leide er an … Zeitkrankheit.

»Jemand hat uns aus der Zeit geholt«, murmelte er. Es fiel ihm schwer, die Worte auszusprechen, was seine Annahme bestätigte. »Aber … wo sind wir jetzt?«

»In einer Art Zeitloch, glaube ich«, flüsterte Katherine neben ihm. Wieder einmal schien sie sich schneller zu erholen als er.

»Es wäre mir ein Vergnügen, euch beiden dabei zuzusehen, wie ihr euch alles zusammenreimt, aber die Zeit drängt«, sagte die Stimme. »Wir müssen die Sache vorantreiben.«

»Das ist Zwei, der da redet«, sagte Jonas. Enttäuschung kroch in ihm hoch. Er hatte sich gewünscht, es wäre HK. HK sollte da sein und ihnen versichern, dass sie alles richtig gemacht hatten, dass alles vorbei war und alle in Sicherheit waren.

»Aber Zwei ist nicht hier, oder?«, fragte Katherine. Jonas konnte gerade so viel erkennen, dass er sah, wie Katherine sich umschaute und im Dunkeln herumtastete. »Er redet mit uns, aber nur über den –«

»Definator«, sagte Jonas.

Er zog das Gerät aus seinem Umhang, das auf der Stelle zu leuchten begann. Man sah, dass es seine Erscheinungsform als Windlicht des 17. Jahrhunderts an etwas angeglichen hatte, das eher einer Art Handy ähnelte.

»Ihr habt für eure Schlussfolgerungen eine Belohnung verdient«, drang Zweis Stimme aus dem Definator. »Nun denn, es werde Licht.«

Der Definator wurde heller und erleuchtete einen leeren, fensterlosen und sterilen Schutzraum.

Kein Bär ging auf sie los. In diesem Raum herrschte keinerlei Gefahr.

Doch das spielte keine Rolle. Jonas sah trotzdem immer wieder vor sich, wie die Pranken des Bären ausholten. Er spürte den Nachhall der Todesangst, die er kurz zuvor empfunden hatte: Sein Herz klopfte, als würde die Stimme in seinem Kopf immer noch schreien: Ich muss sterben, ich muss sterben, ich muss sterben 

Jonas schüttelte den Definator.

»Warum haben Sie die Sache so lange laufen lassen?«, wollte er wissen. »Warum haben Sie uns nicht früher rausgeholt? Sie hätten es tun können, sobald man mich von der Schaluppe aus nicht mehr sehen konnte. Oder sogar noch früher: als sich die Zeit verschoben hat oder was immer das war. Katherine und ich hätten sterben können!«

»Beruhige dich – und hör auf damit! Du machst den Definator kaputt!«, schrie Zwei. »Ich musste warten, bis du zustichst. Das Messer musste genauso tief eindringen wie das Markermesser, damit der Bär so viel Blut verliert, dass Hudsons Männer seiner Spur folgen konnten. Als sie das Messer sahen, nahmen sie an, der Bär hätte John Hudson getötet. Und der Bär war durch seine Verletzung so geschwächt, dass sie ihn erlegen konnten. Das Fleisch hielt sie am Leben und sie hatten etwas, das sie eintauschen konnten, als sie den Ureinwohnern begegneten.«

Das alles erzählte Zwei so leichthin, als wären der Tod des Bären, der Tod John Hudsons und das Überleben der anderen Männer nicht mehr als historische Fakten, Erfordernisse für einen ordnungsgemäßen Verlauf der Zeit, und nicht bedeutender oder wichtiger als die Tatsache, dass ein »i« einen Punkt und ein »t« einen Querstrich erforderte. Nun war es vorbei und erledigt, und das war alles, was Zwei interessierte.

Aber Jonas hatte den heißen Atem des Bären im Gesicht gespürt. Er hatte neben seiner Todesangst auch Ehrfurcht empfunden beim Anblick des sich aufrichtenden Tieres.

Mein armseliges Messer hat mitgeholfen, diesen Koloss zu töten?, staunte er.

Und er hatte praktisch einen ganzen Tag damit zugebracht, John Hudsons Leben zu leben. Er hatte den Zorn abbekommen, der John Hudson gegolten hatte: Einer der Meuterer hatte sich gebrüstet, dass er dem »Strolch« gegeben habe, was er verdiene; ein anderer Meuterer hatte gestichelt, dass die Schaluppe einen Schaluppenjungen brauche, und John King hatte ihn mit dem Hals zwischen die Bretter des Prangers geklemmt.

Jonas hatte die Fürsorge und die Anteilnahme eingeheimst, die John Hudson sich erworben hatte. Er hatte Staffe sagen hören: »Dieses Schiff wird vom falschen Hudson kommandiert.« Und er hatte gesehen, wie praktisch die komplette Schiffsbesatzung die Augen abwandte, als er am Pranger stand.

Zudem hatte er mit den anderen Männern in der Schaluppe gesessen und wie sie um sein Leben gebangt.

»Wer ist gestorben?«, fragte er. »Wer hat überlebt? Wen habe ich mit dem Messerstich gerettet?«

»Na ja, letztendlich sind alle gestorben«, sagte Zwei. »So ist es nun mal. Die Menschen leben, sie sterben, die Zeit bleibt nicht stehen …«

»Sie wissen, was er meint!«, unterbrach ihn Katherine.

»Philip Staffe hat überlebt«, sagte Zwei. »Er heiratete eine Ureinwohnerin und bekam Kinder … soweit ich es vom Zusehen beurteilen kann, hatte er ein glückliches Leben.«

Ich habe geholfen, Staffe das Leben zu retten, dachte Jonas. Die paar Minuten Todesangst waren Staffes Leben wert.

»Und die anderen?«, fragte Katherine.

»Hatten kein so glückliches Ende«, sagte Zwei. »Hudson wurde vor Kummer über den Tod seines Sohnes mehr oder weniger wahnsinnig. John King starb an einem mysteriösen Fieber. Und Wydowse starb nur einen Monat später.«

»Das ist ein Monat mehr, als Sie ihm gegeben hätten!«, wandte Jonas ein.

»Wie ich schon sagte«, fuhr Zwei mit stählerner Stimme fort. »Wir müssen die Sache vorantreiben.«

»Warum?«, fragte Katherine. »Wir sind an einem sicheren Ort. Ein Zeitloch befindet sich außerhalb der Zeit. Hier vergeht die Zeit nicht. Wir könnten Ihnen den ganzen Tag Fragen stellen.«

»Nein«, erwiderte Zwei. »Diesmal nicht. Nicht in diesem Zeitloch.«

Eine böse Vorahnung ließ Jonas einen Schauer über den Rücken rieseln.

»Wovon reden Sie?«, fragte er.

»Unsere Zeit wird knapp«, sagte Zwei. »In ein paar Minuten wird HK hier auftauchen.«

»Er ist in Sicherheit?«, rief Jonas. »Dann sind Brendan und Antonio es auch – und Andrea? Sie halten also Ihr Versprechen? Sie lassen sie aus 1600 heraus!«

»Noch ist es nicht so weit, das Versprechen einzulösen«, sagte Zwei so düster, dass Jonas das Jubeln auf der Stelle verging. »Es wird nicht der HK sein, der aus dem Jahr 1600 gerettet wurde, sondern der HK davor. Als er auf dem Weg war, sich in Gefahr zu begeben, um euch zu retten.«