Jonas rechnete fast damit, dass Zwei sich sein Abacuk-Prickett-Kostüm herunterreißen und seine wahre Gestalt enthüllen würde. Als sie sich 1600 das erste Mal begegnet waren, hatte er den Mann nur flüchtig gesehen; außerdem hatte er unter Schock gestanden, weil er damit beschäftigt war, die massiven Veränderungen der Zeit zu begreifen. Doch er erinnerte sich noch an Zweis käsige Haut, die aussah, als käme er so gut wie nie vor die Tür, an sein in alle Himmelsrichtungen abstehendes blondes Haar, sein halb eingestecktes, halb über der Hose hängendes Hemd und den selbstgefälligen, spöttischen Tonfall, der fast jedes seiner Worte begleitete.
Deshalb hat sich Prickett für mich anders angehört, als ich sein Gesicht nicht sehen konnte, dachte Jonas. Selbst mit Pricketts Stimme hat Zwei spöttisch geklungen. Und das eine Mal habe ich tatsächlich sein arrogantes Grinsen aufblitzen sehen.
Zweis Äußeres blieb unverändert. Er sah immer noch aus wie der narbengesichtige, halb verhungerte Abacuk Prickett, dessen Haut wettergegerbt war wie ein alter Schuh.
»Also, was machen Sie hier?«, fragte Jonas vorwurfsvoll. »Was haben Sie vor?«
»Die letzten zwanzig Minuten war ich damit beschäftigt, euch beide in dieses Krähennest hochzulocken«, erklärte Zwei. »Das ist mir gelungen, würde ich sagen.«
Katherine sprang auf und packte das Geländer des Mastkorbs, an dem sie sich ebenso verzweifelt festhielt wie Jonas.
»Na, na«, sagte Zwei. »Ich habe dir gerade das Leben gerettet. Glaubst du, das hätte ich getan, wenn ich vorhätte, euch etwas anzutun?«
»Sie haben Wydowse umgebracht«, warf Katherine ihm vor, obwohl Jonas nachdrücklich den Kopf schüttelte.
Mach ihn nicht wütend!, sagte er im Stillen zu seiner Schwester. Sehen wir zu, dass wir hier runterkommen und uns irgendwo in Sicherheit bringen. Dann können wir mit den Anschuldigungen loslegen!
Aber Zwei tippte sich nur nachdenklich ans Kinn.
»Habe ich Wydowse umgebracht?«, fragte er, als handle es sich um eine rein akademische Frage. »Oder ist er lediglich zu einem sehr passenden Zeitpunkt von selbst abgetreten? Wie wollt ihr das jemals mit Sicherheit wissen? Er war ein sehr kranker Mann. Die Zeit, die er in der Schaluppe verbracht hat, und das Herumstehen an Deck, um zuzusehen, wie Jonas an den Pranger gestellt wurde, selbst seine fieberhaften Aufzeichnungen am Schreibtisch … all das musste ja seinen Tribut von ihm fordern.«
»Sie hatten ein Motiv«, ließ Katherine nicht locker. »Das, was er über Sie geschrieben hat, über Prickett, meine ich …«
Zwei lachte und schlug Katherine spielerisch Wydowses zusammengerollte Aufzeichnungen auf den Kopf.
»Ehrlich gesagt, sind diese Papiere für meine Ziele belastender als für Pricketts Charakter«, meinte er. »Wydowse war Wissenschaftler und hatte ein geschultes Auge. Selbst kurz vor dem Ende war er noch in der Lage, die logischen Widersprüche um sich herum wahrzunehmen. Außerdem wollte er seine Beobachtungen unbedingt festhalten, weil er hoffte, jemand in der Zukunft würde sie verstehen. Doch leider sind seine Aufzeichnungen zu gefährlich, um an Bord zu bleiben.«
Zwei klang so ungezwungen und sorglos, dass Jonas nicht darauf gefasst war, was dann geschah: Zwei zerriss die Aufzeichnungen.
Sowohl Jonas als auch Katherine gingen auf ihn los, was in dem engen Krähennest gefährlich war.
Wenn er die Arme ausstreckt, müssen wir uns die Papiere schnappen, bevor er sie aufs Wasser hinauswirft, dachte Jonas. Wir müssen springen. Aber nicht zu hoch und nicht zu weit, sonst fallen wir alle zusammen runter.
Doch Zwei versuchte erst gar nicht, ihnen die zerrissenen Seiten vorzuenthalten. Stattdessen gab er sie ihnen: die obere Hälfte Katherine und die untere Jonas.
Dieser ließ seinen Anteil vor Verblüffung fast fallen.
»Ihr wolltet sie doch unbedingt. Weißt du auf einmal nicht mehr, was du damit machen sollst?«, fragte Zwei spöttisch. »Was ist, wenn ich es mir anders überlege und versuche, sie euch wieder abzunehmen?«
Schweigend schob Jonas seine Hälfte der Papiere in seinen Umhang. Dann kam er zu dem Schluss, dass das nicht reichte, und stopfte sie sich unter das Hemd. Katherine steckte ihre in die Hosentasche ihrer Jeans.
Zwei lachte.
»Keine Sorge, ich nehme sie euch nicht wieder ab«, sagte er kopfschüttelnd. »Wahrscheinlich bin ich darauf angewiesen, dass ihr sie habt.«
Was soll das denn heißen?, fragte sich Jonas.
Er fühlte sich wie ein hilfloses Beutetier, das vom Blick einer Schlange hypnotisiert wird.
Überlasse ihm nicht die Kontrolle über das Gespräch, sagte er sich. Überrumple ihn. Überrasche ihn so, dass er mehr preisgibt, als er eigentlich vorhat.
Aber Zwei war der Meister der Vorhersagen. Ehe er HK hintergangen hatte, war Zwei ein Zeitanalyst gewesen, jemand, der immer wusste, mit was man rechnen musste. Ihn überraschte gar nichts.
»Warum wollten Sie, dass wir hier hochkommen?«, fragte er unvermittelt. »Was soll das?«
Das brachte Zwei abermals zum Lachen.
»Endlich denkst du mit!«, gluckste er. »Befasse dich nicht mit der Vergangenheit, konzentriere dich auf das Jetzt, den einzigen Moment, den du beeinflussen kannst. Richtig? Ist das nicht das, was die Menschen über die Zeit zu sagen pflegten, ehe sie begriffen, dass sie doch zurückreisen und die Vergangenheit verändern können?«
Jonas erinnerte sich, dass Zwei im Jahr 1600 ein wenig verdreht auf ihn gewirkt hatte, ein wenig zu fröhlich.
Ein wenig verrückt.
Trotzdem hat er uns überlistet, dachte er. Und HK auch. Manchmal funktioniert Verrücktheit eben.
»Ist euch aufgefallen, wie klein dieses Schiff ist?«, fragte Zwei. »Wie schwer es ist, ein abgeschiedenes Plätzchen zu finden, an dem sich drei Leute vertraulich unterhalten können, ohne dass sie gehört oder gesehen werden?« Er sah zu Katherine hinüber. »Letzteres ist für dich kein allzu großes Problem, meine Liebe, aber für Jonas und mich …« Er schüttelte den Kopf. »Die Leichtgläubigkeit dieser Leute ist heute schon genug strapaziert worden, selbst wenn es sich um eine Horde abergläubischer und von Fieber und Hunger geplagter Seeleute handelt. Hier oben kann ich unser Gespräch mit dem Geräusch eines künstlichen Windes übertönen.«
Das war der Grund, warum der Wind so stürmisch geklungen hatte, obwohl er ihn kaum spüren konnte, begriff Jonas.
Zwei war noch nicht fertig.
»In der jetzigen Situation würden die Männer komplett aus dem Häuschen geraten, wenn sie eine weibliche Stimme hören, die praktisch aus dem Nichts kommt«, sagte er. »Oder mit ansehen müssten, wie sich eingeschworene Feinde ein gemütliches Stelldichein geben.«
Jonas zwang sich, mit ihm Schritt zu halten.
»Moment mal«, sagte er. »Sie meinen, Sie und ich – also, Abacuk Prickett und John Hudson –, wir sind eingeschworene Feinde?«
»Oh, bis heute waren wir das nicht«, sagte Zwei. »John Hudson war so eine Art Musterknabe, der Friedensengel auf dem Schiff, auch wenn einige Besatzungsmitglieder ihn einfach wegen seines Vaters gehasst haben. Aber heute war ich gezwungen, dich komplett in Misskredit zu bringen, für den Fall, dass du anfängst zu reden und mich beschuldigst – keine Ahnung – die Zeit durcheinanderzubringen vielleicht? Oder ein Hochstapler zu sein?«
Zwei grinste, als sei das alles nur ein Witz.
»Außerdem musste ich dafür sorgen, dass du an den Pranger kommst«, fuhr er fort. »Heute Morgen bist du unbedacht ins Krähennest aufgeentert. Was hättest du gemacht, wenn dich jemand aufgefordert hätte, das Großsegel zu setzen? Oder das Fall loszumachen? Du wärst verloren gewesen. Womöglich hättest du dich verletzt. So oder so wärst du als John Hudson aufgeflogen.«
»Dann haben Sie mich also beschützt, indem Sie mich an den Pranger gebracht haben?«, fragte Jonas kleinlaut.
»Dich beschützt oder die Zeit – das war heute ein und dasselbe«, sagte Zwei achselzuckend.
»Ihnen liegt immer noch an der Zeit?«, fragte Katherine mit Verwunderung in der Stimme. »Nach allem, was Sie getan haben, um sie zu ruinieren?«
»Nun ja, so, wie es aussieht, bleibt mir nichts anderes übrig«, sagte Zwei. »Es ist eigentlich nur ein technisches Detail, aber ein paar Kleinigkeiten müssen in Ordnung gebracht werden.«
Jonas spürte, wie ihm vor Erleichterung die Knie weich wurden.
»Dann werden Sie die Zeit reparieren«, sagte er. »Sie sind wieder in HKs Team. Auf unserer Seite.«
»Äh, nein«, erwiderte Zwei. »Tut mir leid. Es ist eher so, dass … ihr meinem Team beitreten müsst. Ihr werdet die Zeit retten, nicht ich.«
»Und wenn wir das nicht wollen?«, fragte Katherine. »Sie sind schließlich ein Mörder!«
»Ach, das schon wieder«, sagte Zwei und wischte den Vorwurf mit einer Handbewegung beiseite, als sei er völlig bedeutungslos. »Ich fürchte, ihr habt keine andere Wahl. Wenn ihr nicht tut, was ich euch sage, werden die Paradoxe uns alle begraben.«
»Begraben?«, fragte Jonas kläglich.
»Die Wortwahl war vielleicht ein wenig unglücklich. Ihr beide habt heute Abend aber auch einen pessimistischen Blick!«, sagte Zwei. »Ich wünschte, ich könnte euch das ein bisschen subtiler beibringen, aber die Zeit wird allmählich knapp. Also, kurz gesagt, ihr müsst mir helfen.«
»Was passiert, wenn wir es nicht tun?«, fragte Katherine herausfordernd.
»Dann sterben wir alle – mit Mann und Maus«, sagte Zwei. Sein Grinsen war verschwunden, sein Tonfall todernst. »Wenn ihr mir nicht helft, endet die Zeit im Jahr 1611.«