SIEBEN

»Äh, HK«, stammelte Jonas. »Äh …«

Er zermarterte sich den Kopf. Konnte er übersehen haben, wie der Marker aufgestanden und davongegangen war? Er sah zu den Männern hinüber, die bei der Schaluppe standen, doch es befand sich kein Marker unter ihnen. Und wenn John Hudsons Marker aufgewacht und über die Reling gestürzt war? Womöglich hangelte er sich außen am Schiff entlang und machte sich bereit herabzuspringen, um die Meuterer anzugreifen und seinen Vater doch noch zu retten.

Aber hätte HK nicht erwähnt, wenn Jonas etwas Derartiges hätte tun sollen?

»Also, HK, wenn ich John Hudson spielen soll, wo müsste ich mich dann gerade befinden?«, fragte Jonas und versuchte möglichst gelassen zu klingen.

»Ich weiß es nicht!«, fauchte HK.

»Ich habe nämlich sozusagen den Marker verloren«, gab Jonas zu.

»Ich auch!«, sagte HK. »Wir haben alle Marker verloren! Jeden … einzelnen!«

Jonas versuchte das zu begreifen. Keine Marker bedeutete, dass es nichts gab, was den eigentlichen Verlauf der Geschichte anzeigte. Es gab keine Richtschnur mehr. Keine Hilfe.

»Ist das nicht ein gutes Zeichen?«, fragte Katherine. »Die Marker tauchen doch nur dann auf, wenn Zeitreisende irgendetwas verändern. Wenn es also keine Marker gibt, bedeutet das doch, dass alles wieder in den richtigen Bahnen verläuft. Also … können wir jetzt nach Hause? Oder zurück ins Jahr 1600, damit wir sicherstellen können, dass dort auch alles in Ordnung ist?«

»Nichts verläuft wieder in den richtigen Bahnen!«, schäumte HK. »Es ist alles ein einziges Chaos. Und zwar so sehr, dass wir nicht mal wissen, was überhaupt los ist!«

So hatte Jonas HK noch nie reden hören. Selbst im Jahr 1600, als sich alles verändert hatte, war er relativ ruhig geblieben und hatte sich darauf konzentriert, die Kinder vor der Katastrophe in Sicherheit zu bringen.

»Also … müsst ihr uns aus dieser Epoche herausholen?«, fragte Jonas möglichst gelassen.

»Das kann ich nicht!«, sagte HK. »Das Zeitreisen funktioniert nicht mehr! Die Zeit selbst funktioniert nicht mehr!«

»Sag so was nicht«, murmelte Katherine. »Du machst mir Angst.«

»Aber es stimmt!«, beharrte HK.

Diesmal war sich Jonas sicher, dass es keine Einbildung war: Außer HKs Stimme waren im Hintergrund eindeutig Alarmglocken und Sirenen zu hören.

»Aber du kannst immer noch mit uns reden«, stellte er fest. »Katherine ist noch unsichtbar. Und ich höre mich immer noch an wie John Hudson. Und ich wette, dass ich auch noch aussehe wie er. Hab ich recht, Katherine?«

Seine Schwester nickte, biss sich dabei aber auf die Unterlippe.

»Also funktioniert vieles noch«, sagte Jonas. »Richtig?«

»Hast du eine Ahnung, wie dicht wir davorstehen, nicht mehr …«, begann HK, und es war deutlich zu hören, dass er dabei die Zähne zusammenbiss. »Es ist, als stündet ihr beide am Rand einer Klippe, als schwanktet ihr am Rand.«

»Das ist nicht gerade hilfreich, HK«, sagte Katherine.

Wenn sie nicht sowieso schon unsichtbar wäre, würde sie jetzt vermutlich kreidebleich werden, ging es Jonas durch den Kopf. Im nächsten Moment war sie es tatsächlich. Sie wirkte nicht mehr gläsern, sondern sah aus wie das Zeichenpapier, das sie im Kunstunterricht der Grundschule benutzt hatten, irgendwie durchsichtig, aber ohne jeden Zweifel vorhanden.

Jonas packte Katherine am Arm und zerrte sie zu sich herunter, sodass sie nicht mehr über den Rand des Fasses hinausragte.

»Au!«, schimpfte sie und stieß ihn von sich. »Was soll denn das?«

Dann erlahmte ihr Widerstand. Als Jonas sie ansah, hielt sie sich die Hand vor das Gesicht und betrachtete sie mit einer Miene, als hätte sie sie noch nie gesehen.

»Ohhh«, stöhnte sie.

Im nächsten Moment war sie wieder unsichtbar.

»Tut mir leid«, meldete sich HK über den Definator, doch seine Stimme klang dünn und sehr weit weg. »Womöglich werden wir … eine Weile unregelmäßig … versucht … verhalten … wie John …«

Der Definator verstummte.

»Heißt das, wir sind gerade von der Klippe gefallen?«, murmelte Katherine.

»Du bist wieder unsichtbar«, sagte Jonas auf der Suche nach etwas Tröstlichem. »Und ich sehe weiter aus wie John Hudson, nicht? Wir haben immer noch sechsundsechzig Prozent von dem, was wir vorhin hatten. Mit sechsundsechzig Prozent besteht man jeden Test.«

Aber wollte er denn weiter so aussehen wie John Hudson, wenn er genauer darüber nachdachte? Bislang hatte ihm das nicht mehr eingebracht als einen Schlag auf den Kopf und dass man ihn hinter ein paar Fässer gezerrt hatte.

»Wir sind gestrandet!«, sagte Katherine. »Wir stecken für alle Ewigkeit im Jahr 1611 fest!«

»Nein, das tun wir nicht«, sagte Jonas. »Wenn wir lange genug hierbleiben, ist es irgendwann 1612.« Er grinste, um es wie einen Scherz aussehen zu lassen. »Die Männer haben gesagt, dass es schon Juni ist. Es sind nur noch sechs Monate bis zum neuen Jahr.«

»Wenn wir sechs Monate hierbleiben, sind wir tot«, sagte Katherine bitter. »Verhungert, verstehst du?« Sie zeigte auf die Seeleute. »Die haben schließlich auch nichts zu verschenken.«

Ach ja, dachte Jonas. Essen.

Sein Magen knurrte wütend. Auf seinen vorangegangenen Reisen durch die Zeit hatte er schon einige Male gehungert, vor allem im Jahr 1600, als sie sich ausschließlich von Fisch ernährt hatten. Den hatte es allerdings in rauen Mengen gegeben, so viel sie davon nur hatten fangen und essen können.

Zwischen Eisschollen zu fischen würde vermutlich nicht funktionieren.

Wir könnten verhungern, dachte Jonas. Wirklich verhungern. Oder erfrieren. Oder 

Die Augen in Katherines nach wie vor gläsernem Gesicht waren groß und rund und voller Angst. Ihre Unterlippe zitterte.

»He«, sagte Jonas. »He, lass das! Es wird alles gut gehen! Das Einzige, was sich geändert hat, ist, dass HK uns nicht mehr sagen kann, was wir tun sollen. Aber wir sind auch ohne ihn klargekommen, als wir 1600 den Definator verloren haben, stimmt’s? Und als wir ihn 1483 stumm geschaltet haben. Wenn wir die Jahre überlebt haben, schaffen wir auch das hier!«

»Aber diese Jahre sind vorbei«, sagte Katherine. »Und wir wissen, wie sie ausgegangen sind. Jedenfalls zum größten Teil«, fügte sie hinzu.

»HK hat gesagt, dass ich bleiben soll, wie ich bin«, sagte Jonas. »Ich wette, wenn ich mich weiter wie John Hudson verhalte, hilft das der Zeit. Und das ist schließlich keine große Kunst! Ich muss mich einfach weiter bewusstlos stellen.«

Er rechnete damit, dass Katherine eine Spitze loslassen würde wie: Stimmt, sich hirntot zu stellen dürfte dir nicht allzu schwerfallen.

Als sie schwieg, lugte er hinter dem Fass hervor.

»Siehst du, ich wette, es kommt schon jemand, um mich zu –« Er erstarrte mitten im Satz, als er sah, was auf der anderen Seite des Decks vor sich ging.

Niemand war unterwegs, um John Hudson zu holen und ihn in die Schaluppe zu legen. Und niemand würde es tun.

Die Meuterer waren bereits dabei, das Boot ins eisige Wasser abzulassen.