Siebenundzwanzig

»Zeigen Sie her!«, sagte Jonas und wollte nach dem Buch greifen.

Er ging davon aus, dass Staffe sich irrte. Wie genau hatte er sich das Bild von Andrea schon ansehen können, ehe er es über Bord geworfen hatte? Doch wenn es auch nur die geringste Chance gab, musste Jonas nachsehen.

Staffe zog das Buch weg.

»Nimm dich in Acht«, sagte er. »Im Umgang mit Büchern hast du dich nicht gerade als zuverlässig erwiesen. Du nimmst das Windlicht. Ich halte das Buch.«

Jonas knirschte mit den Zähnen und hielt das Licht fest, während Staffe die Seiten umblätterte.

»Ich glaube, es war hier, nein, ein paar Seiten weiter«, murmelte er. »Ja, hier ist es.«

Er hielt Jonas das Buch vor das Gesicht. Das Windlicht beleuchtete nur das halbe Blatt, daher las Jonas die Bildunterschrift, ehe er das Bild selbst sah.

»Der Tod von John White«, stand da.

Jonas schluckte.

»Ist das nicht das Mädchen?«, fragte Staffe betrübt.

»Doch, ich glaube, sie ist es, lassen Sie mich sehen«, rief Jonas und packte das Buch mit der anderen Hand.

Er hielt Buch und Licht so, dass der größte Teil des Lichtscheins auf das Bild fiel.

Es zeigte tatsächlich Andrea, die sich über einen alten weißhaarigen Mann beugte. Beide hatten die Augen geschlossen, doch irgendwie hatte der Künstler, der die Zeichnung angefertigt hatte – vielleicht einer ihrer Freunde, Brendan oder Antonio? – es fertiggebracht herauszuarbeiten, dass Andrea die Augen vor Kummer geschlossen hatte, während der Mann gar nicht bei Bewusstsein war. Die Spitzen von Andreas Zöpfen berührten seinen Kragen und sie schien ihm die Stirn zu küssen.

Ihm einen Abschiedskuss zu geben.

»Gib Acht, Junge, das Wachs tropft«, sagte Staffe.

Jonas neigte Buch und Windlicht in die andere Richtung, sodass das Wachs folgenlos über das Deck rann.

»Sie haben mir nicht gesagt, dass ihr Großvater gestorben ist«, sagte Jonas mit erstickter Stimme.

»Weinst du am Ende?«, fragte Staffe.

Jonas gab keine Antwort.

»Kennst du dieses Mädchen und seinen Großvater?«, fragte Staffe und klang noch verwunderter als zuvor. »War dir sein Tod nicht bekannt, als wir in See stachen? Das Buch stand die ganze Fahrt über im Regal deines Vaters. Hat er dir vom Hinscheiden dieses Mannes nichts erzählt?«

Jonas schniefte.

»Das ist kompliziert«, sagte er.

Wegen John White – der im ursprünglichen Verlauf der Geschichte Andreas Großvater gewesen war – hatte Andrea als Virginia Dare im Jahr 1600 bleiben wollen. Er war der Grund, warum es Zwei gelungen war, mit Andreas Hilfe die Zeit zu manipulieren und zu verändern.

Und nach all dem war John White einfach gestorben?

»Wann?«, fragte Jonas. Er neigte das Windlicht so, dass sein Schein wieder auf den Text unter dem Bild fiel, um das Datum zu lesen, falls es dort stand.

Der Text unter der Bildunterschrift war klein und verschwommen und enthielt nichts über den Tod von John White.

 

John White, der Gouverneur der unglückseligen Kolonie von Roanoke, berichtete, dass unter den Schiffsführern, welche die nordamerikanischen Küstengewässer befahren, mannigfaltige Gerüchte über die verlorene Karte des John Cabot kursieren. Hingegen hatten die Indianer, denen er in Virginia begegnete, weder Kenntnis von der Karte noch von der Nordwestpassage.

 

Ein Schauer ergriff Jonas, der nichts mit dem kalten Luftzug zu tun hatte, welcher über das Deck strich.

»Eine Karte!«, flüsterte er. »Die Nordwestpassage! Dann hängt alles zusammen? Aber wie? Und wer ist John Cabot?«

»John Cabot«, wiederholte Staffe nachdenklich. »Mich dünkt, ich hätte deinen Vater schon von ihm sprechen hören, du nicht auch?« Er senkte die Stimme und zog die Vokale ein wenig in die Länge, um Henry Hudson nachzuahmen. »›John Cabot hat gar nichts erreicht. ’s ist schwer zu glauben, dass er je an den Orten war, die er vorgibt mit eigenen Augen gesehen zu haben. Aber ich, ich werde Beweise zurückbringen! Mich werden die Menschen kennen und im Gedächtnis bewahren!‹«

Jonas lachte.

»Genau so hört er sich an!«, sagte er. »Sie können das wirklich gut!«

Ein ängstlicher Gesichtsausdruck legte sich wie eine Maske über Staffes Gesicht.

»Es … es tut mir leid«, stotterte er. »Es ist nicht mein Begehr, den Kapitän zu verspotten. Erzähle niemand davon, ich bitte dich!«

»He, ich stehe am Pranger«, sagte Jonas. »Wer wird mir schon glauben?«

Das schien Staffe nicht zu beruhigen. Er riss Jonas das Windlicht aus der Hand und schwenkte es im Kreis herum, als wollte er nachschauen, ob jemand in der Nähe war.

»Hast du gerade etwas gehört?«, fragte er.

Wind, wollte Jonas erwidern. Die Leinen, die gegen die Masten schlagen. Und die Strömung, die gegen das Schiff prallt. Eben das, was ich schon den ganzen Tag höre.

Aber er wusste, was Staffe wirklich meinte.

»Entspannen Sie sich«, sagte Jonas. »Die anderen sind entweder unter Deck oder haben sich in der Kapitänskajüte verkrochen. Niemand kann Sie gehört ha-«

Das letzte Wort schluckte er hinunter, denn Staffes Lichtschein fiel direkt hinter ihm auf ein Gesicht – ein Gesicht, das vom Licht durchdrungen wurde und fast völlig unsichtbar war. Ein Gesicht, das Staffe nicht sehen konnte.

Es war Katherine.

Du kannst dich doch nicht so anschleichen!, wollte Jonas sie anfahren. Ich habe mir fast in die Hosen gemacht vor Angst. Wie soll ich das jetzt Staffe erklären?

»Was?«, fragte Staffe mit Panik in der Stimme. Er schwang das Windlicht noch wilder, auch wenn die flackernde Flamme dabei fast erlosch.

»Nichts«, sagte Jonas. »Ich habe bloß einen Schatten gesehen, der mich getäuscht hat.« Er versuchte ein Schulterzucken, was mehr oder weniger unmöglich war, solange sein Hals im Pranger steckte.

Wütend schaute er dorthin, wo er Katherines Gesicht gesehen hatte, obwohl dieser Bereich jetzt komplett im Dunkeln lag, da Staffe das Licht wegbewegt hatte.

Katherine tippte Jonas auf die Schulter. Sie trat an die Stelle, die jetzt vom trüben Kerzenschimmer erhellt wurde, zeigte auf Staffe und deutete einen Stoß an. Dann zeigte sie auf ihren Mund, tat, als wollte sie sprechen, und richtete den Finger dann auf Jonas.

Im Jahr 1600 hatte Katherine sich mächtig über Jonas aufgeregt, weil dieser ihre improvisierte Zeichensprache nicht sofort verstand. Diesmal jedoch war Jonas hundertprozentig sicher, sie zu verstehen. Was sie sagte, war: Werde Staffe los! Ich muss mit dir reden! Jetzt sofort!

»Äh, kann ich vielleicht später mit Ihnen über all das reden?«, wandte sich Jonas an den Seemann. »Es war wirklich nett von Ihnen, mir das Buch zu zeigen, und ich würde es mir später gern noch mal ansehen, aber …«

»Weißt du eigentlich, wie schwer es war, mich davonzustehlen?«, fragte Staffe ungläubig. »Ich musste wach bleiben, bis alle anderen um mich herum tief und fest schliefen. Ich –«

»Ich weiß!«, unterbrach ihn Jonas. »Ich will einfach nicht, dass Sie meinetwegen Schwierigkeiten bekommen! Wenn man Sie hier erwischt und bestraft … dann würde ich mich schrecklich fühlen.«

Staffe starrte ihn an. Jonas kam zu dem Schluss, dass er Kerzenlicht nicht ausstehen konnte. Es war gerade so hell, dass man meinte, etwas sehen zu können, doch ganz egal, wie sehr man sich anstrengte, man sah nie gut genug. Staffes Gesicht lag immer noch weitgehend im Dunkeln, seine Narben hatten sich in tiefe Schatten verwandelt. Jonas konnte nicht einmal ansatzweise entschlüsseln, was der Mann dachte.

»Verstehe«, sagte Staffe schließlich. »Wie rücksichtsvoll von dir.«

Er glaubt mir nicht, dachte Jonas. Er merkt, dass ich andere Absichten habe. Jetzt wird er mir überhaupt nicht mehr vertrauen.

»Danke, dass Sie mir das Buch gezeigt haben«, sagte Jonas.

Staffe zuckte die Schultern. Er nahm das Buch wieder an sich und ging davon.

Sobald er fort war, wandte sich Jonas Katherine zu.

»Wehe, wenn das nichts Wichtiges ist«, zischte er.

»Ist es!«, flüsterte sie eindringlich zurück. »Gerade ist etwas Schreckliches passiert!«

»So, und was?«, fragte Jonas ungeduldig.

Sie streckte die Hand aus und stützte sich am Pranger ab, hielt sich fest, um die Wellenbewegungen auszugleichen. Oder – Jonas betrachtete sie ein wenig genauer – um das Zittern ihrer Glieder auszugleichen.

»Ich habe die Augen offen gehalten, weil ich herausgefunden habe, wer den Brief oben im Krähennest hinterlassen hat«, sagte sie. »Es war Wydowse. Der uralte Mann, erinnerst du dich? Ich habe ihn noch eine Botschaft schreiben sehen.«

»Das hört sich nicht besonders schrecklich an«, meinte Jonas, weil Katherine ihm langsam wirklich unheimlich wurde. »Es sei denn … was stand denn in der Botschaft?«

»Ich habe sie noch nicht gelesen«, sagte Katherine. »Weil, weil dann …« Sie rang keuchend nach Atem, während auf ihrem Gesicht Furcht und Entsetzen um die Oberhand rangen.

»Weil was?«, fragte Jonas. »Was ist dann passiert?«

Katherine holte tief und verzweifelt Luft.

»Prickett hat Wydowse umgebracht«, sagte sie.