Siebenundvierzig

»Dieser Schmacko soll ursprünglich so grauslich ausgesehen haben?«, entfuhr es Katherine, die so verblüfft war, dass sie vergaß leise zu sprechen.

»Äh, grauslich?«, fragte Dalton Sullivan/John Hudson wieder mit zitternder Stimme. »Ist mir, ich meine, soll mir irgendwas Schreckliches zustoßen?«

»Sie will eigentlich nur sagen, dass du 1611 ein bisschen verwitterter ausgesehen hättest«, sagte Jonas. Er hatte das Gefühl, John Hudsons Aussehen ein wenig verteidigen zu müssen. »Das liegt bloß am Skorbut, den Frostbeulen und den Messerstechereien und – ach, keine Sorge. Du warst ein ziemlich netter Junge, egal, wie du ausgesehen hast. Und die ganzen schrecklichen Sachen hast du, glaube ich, verpasst. Stimmt’s, HK?«

HK kauerte über dem Definator, murmelte, scrollte und tippte, dass einem Hören und Sehen verging.

»Dann hat Zwei John Hudson also nach 1605 geschickt statt nach 1611«, murmelte HK. »Durch ein Versehen oder mit Absicht? Was könnte er vorgehabt haben?« Er sah Dalton einen Moment lang in die Augen. »Du bist 1605 wirklich mitten im Brand angekommen? Du bist nirgendwo sonst hingereist?«

»Du meinst, in eine andere Zeit?«, fragte Dalton. »Weißt du, für mich ist ›irgendwo hinreisen‹ eine geografische Angelegenheit. Ich bin immer noch dabei, mit diesem ganzen Zeitreisezeugs klarzukommen.«

»Er kann unmöglich mehr als zwei Minuten in der Vergangenheit verbracht haben«, unterbrach ihn Katherine, die sich wieder gefasst zu haben schien. »Ansonsten würde er das nicht sagen.«

»Aber … 1605?«, wiederholte HK. »Das ist unmöglich. Der echte John Hudson war bereits im Jahr 1605, vermutlich hat er damals in England gelebt.« Er sah auf den Definator. »Genau. Hier ist der Beweis.«

Er tippte auf das Display.

»Also gab es 1605 zwei Minuten lang zwei John Hudsons auf der Welt?«, hakte Jonas nach. »Ich dachte, das wäre nur möglich, wenn sich die Zeit in Auflösung befindet. Dann hat Zwei die Zeit also in umgekehrter Richtung aufgelöst? Bis zurück ins Jahr 1605?«

»Ja, ja«, sagte HK, das blanke Entsetzen im Gesicht.

»Und wann hört es auf?«, jammerte Dalton.

»Jetzt«, sagte eine gebieterische Stimme.

Jonas sah sich um. Konnte der Raum etwa sprechen?

»Eingebaute Lautsprecher, kein Grund zum Ausflippen, Leute«, sagten die Wände.

»Zwei«, stellte HK gelassen fest. »So begegnen wir uns also wieder.«

Jonas sah, dass Andreas Großvater und einige der älteren Ureinwohner ohnmächtig geworden waren.

»Nur die Ruhe, Leute. Das ist bloß eine seltsame Art von Donner«, sagte Antonio beim Zeichnen über die Schulter.

Die besorgten Mienen der Ureinwohner entspannten sich.

Jonas fühlte sich nicht sonderlich beruhigt.

»Hast du gesagt, dass wir uns wiederbegegnen?«, dröhnte Zweis Stimme durch den Raum. »Mit der Begegnung ist es nicht weit her. Ich bin sicher, wenn du alle Möglichkeiten durchgehst, wirst du begreifen, dass diese Nachricht voraufgezeichnet wurde, so wie viele andere auch. Und wenn du diese Nachricht ausgelöst hast, bedeutet das sogar, dass wir uns nie wiederbegegnen werden.«

»Du verstehst sicher, dass mir das nicht unbedingt das Herz brechen würde – vorausgesetzt, ich glaube dir«, sagte HK ironisch.

»Ich übertrage in diesem Moment Beweise an deinen Definator«, sagte Zwei, dessen Stimme von überall herzukommen schien, sodass alle vor ihr zurückschreckten.

»Ich habe mit Jonas und Katherine eine Vereinbarung getroffen«, fuhr Zwei fort. »Sie haben ihren Teil der Abmachung gehalten und 1611 für mich gerettet. Und jetzt werde ich meinen Teil der Abmachung einhalten und ihnen erlauben, ihre Freunde zu retten.«

»Wir haben HK, Andrea, Brendan und Antonio schon gerettet, Idiot«, schrie Katherine die Wand an. »Wir haben es selbst getan – besser gesagt, Jonas. Wir brauchen die Vereinbarung nicht mehr.«

»O doch, das tut ihr«, sagte Zwei, als könnte er sie tatsächlich hören und ihr spontan antworten. »Wenn ich es wollte, könnte ich auch weiterhin in eure Zeit eingreifen. Aber ich verspreche, dass ich von jetzt an in meiner Zeit bleiben werde.«

»Was soll das Gerede von ›meiner Zeit‹ und ›eurer Zeit‹?«, fragte HK und sah vom Definator auf. »Zeit ist und bleibt Zeit. Alles ist miteinander verbunden. Selbst wenn du im Jahr 1611 bleibst, wird alles, was du tust, Auswirkungen auf die Zukunft haben. Und das Leben dieser Kinder ist in höchster Gefahr, wenn –«

»Du kapierst es immer noch nicht, was?«, dröhnte Zwei. »Armer HK, du bist so ein braver Regelbefolger, dass du gar nicht auf die Idee kommst, dich zu fragen, was alles möglich ist, wenn man die Regeln bricht. Ich will dir auf die Sprünge helfen. Wir haben immer gewusst, dass die Zeit sich selbst beschützt, nicht? Wenn jemand sie mit zu vielen Veränderungen bombardiert, zu viele Paradoxe verursacht …«

»Bricht die Zeit zusammen«, sagte HK düster. Er war blass geworden unter der Asche- und Rußschicht auf seinem Gesicht.

»Normalerweise«, stimmte Zwei ihm zu. »Aber nicht, wenn man die Paradoxe sorgfältig unter Kontrolle hält. Auf diese Weise haben die Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts herausgefunden, dass die Atomspaltung nicht nur für den Bau von zerstörerischen Bomben genutzt werden kann, sondern dass sich mithilfe der Kernkraft auch Glühbirnen mit Strom versorgen lassen.«

»Aber denk nur an den Kernschmelzeunfall von Harrisburg«, murmelte HK. »An Tschernobyl. Menschen machen Fehler. Es ist zu gefährlich, um …«

»Ah, aber Jonas und Katherine haben die Menschen vor meinen möglichen Fehlern bewahrt, indem sie die Zeit aufgesplittet haben«, sagte Zwei zuversichtlich. »Sie haben alles repariert.«

»Haben wir das?«, fragte Jonas überrascht.

Er dachte an den Moment in der Schaluppe, als sich alles zu teilen schien: Eine Schaluppe voller Seeleute war auf das Land zugefahren, die andere zum Schiff zurückgekehrt, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war. In diesem Moment hatte sich die Zeit tatsächlich zweigeteilt. Die eine Version war geheilt und die Marker waren zurückgekehrt.

Die andere Version war verändert worden – und stand völlig unter Zweis Kontrolle.

»Ich war mir sicher, dass Jonas und Katherine sich entscheiden würden, Menschen zu retten – Wydowse in der Schaluppe und ihre Freunde im Jahr 1605«, erklärte Zwei. »Sie sind sehr vorhersehbar.«

»Hast du auch vorhergesehen, wie viele Menschen Jonas aus dem Jahr 1605 retten würde?«, murmelte HK. Er sah sich in dem mit Leuten vollgestopften Raum um. Dann begegnete er Jonas’ Blick. »Aber ich will mich nicht beklagen. Ich wollte jetzt nicht um meine Freunde trauern müssen.«

HK legte den Arm um die Schultern des Häuptlings. Dieser hatte verstört die sprechenden Wände angestarrt, doch nun sah er HK an und nickte gefasst.

Jonas wechselte einen Blick mit Katherine.

»In der anderen Zeitversion hat Zwei Wydowse umgebracht«, erklärte er, weil er sich dessen nun sicher war. »Wahrscheinlich bringt er auch noch andere um. Das kümmert ihn nicht.«

»Warum sollte es?«, erwiderte Zwei. »Diese Leute haben doch schon in ihrer ursprünglichen Zeit ein Leben gehabt. Ist es nicht großzügig von mir, ihnen trotzdem eine zweite Chance zu bieten? Andere Entscheidungsmöglichkeiten?«

»Sie bieten Leuten keine Chancen oder Entscheidungsmöglichkeiten«, widersprach Jonas. »Sie zwingen sie bloß, zu tun, was Sie wollen!«

Er hatte nicht das Gefühl, mit einer Wand zu sprechen oder auf eine Aufzeichnung zu reagieren. Obwohl er wusste, dass Zwei nicht wirklich da war, empfand er es so, als könnte er ihm endlich die Meinung sagen.

Es fühlte sich richtig gut an.

Die Wand blieb eine ganze Weile still. Jonas glaubte schon, er hätte die Auseinandersetzung vielleicht gewonnen. Vielleicht hatte Zwei keine Antworten mehr auf Lager.

Dann antwortete er im Flüsterton.

»Ach, Jonas, hast du denn nicht schon die ganze Zeit über deine eigenen Entscheidungen getroffen?«, fragte er. »Welche Wahl willst du, die du nicht schon hast? Weißt du denn nicht, dass es vorbei ist, dass du einfach nach Hause zurückkehren kannst?«