Achtundzwanzig

»Umgebracht?«, stieß Jonas hervor. »Er hat ihn wirklich umgebracht? Bist du sicher?«

Er sah instinktiv zum Niedergang, denn wenn unter Deck gerade ein Mord stattgefunden hatte, würden sicher gleich Männer heraufgerannt kommen, um den Kapitän zu benachrichtigen. Und sicher würden irgendwelche Seeleute schreien: »Legt die Pistole hin!« oder »Legt das Schwert nieder!« oder »Nein! Bringt mich nicht auch noch um!«

Auf dem Niedergang war es jedoch still und dunkel und, soweit Jonas feststellen konnte, völlig leer. Das Einzige, was er von unten hörte, war die Andeutung eines leisen Schnarchens.

»Warum schreit niemand?«, fragte Jonas.

Katherine verzog gequält das Gesicht.

»Es weiß noch niemand, dass er tot ist, außer mir. Und Prickett.« Sie presste die Hände auf den Mund, ließ sie dann aber langsam wieder sinken. »O Jonas, ich hätte ihn aufhalten müssen. Aber das ging nicht. Ich hatte keine Ahnung, was vor sich geht, bevor es vorbei war.«

»Erzähl es mir der Reihe nach«, sagte Jonas. Das sagte seine Mutter immer zu Katherine, wenn diese völlig aufgelöst aus der Schule nach Hause kam, weil wieder mal eine Freundin gemein zu einer anderen Freundin gewesen oder Katherine nicht zur größten Party des Jahres eingeladen worden war oder etwas in der Art. Und dann hörte Katherine gar nicht mehr auf zu erzählen.

Jonas fand, dass ein Mord es tatsächlich wert war, sie aufzufordern, der Reihe nach zu erzählen.

»Ich habe überall nach weiteren Aufzeichnungen gesucht, wie wir sie im Krähennest gefunden haben«, berichtete Katherine. »Unten waren welche in einem Schreibtisch versteckt, aber sie drehten sich nur um Dinge, die schon vor Wochen passiert sind. Irgendein Kerl namens Juet ist degradiert worden und jemand, der Bylot heißt, wurde ihm übergeordnet, und der Kapitän hat alle gegen sich aufgebracht.«

»Juet, Bylot – waren das nicht die Leute, die Prickett auf einer Eisscholle ausgesetzt hat, wie er erzählt hat? Diejenigen, die hinter der Meuterei steckten?«, fragte Jonas.

Katherine zuckte die Achseln.

»Kann sein«, sagte sie niedergeschlagen. »Was meinst du, wie viele Leute Prickett heute umgebracht hat?«

Jonas schüttelte den Kopf.

»So darfst du nicht darüber denken«, sagte er. »Erzähl weiter.«

»Ja, und während ich so dastand, ist Wydowse zum Schreibtisch gehumpelt und hat sich hingesetzt. Seine Handschrift war genau die gleiche wie in den Briefen oben im Krähennest«, berichtete Katherine weiter.

Wenn er in anderer Stimmung gewesen wäre, hätte Jonas sich zu der sarkastischen Bemerkung veranlasst gefühlt: »Sehr gut, Sherlock, was du da herausgefunden hast!«, nur um zu verhindern, dass Katherine ihr detektivisches Gespür zu Kopf stieg. Doch jetzt sagte er einfach nur behutsam: »Okay.« Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Aber du hast nicht einfach nur dagestanden und ihm über die Schulter geschaut?«

»Nein«, sagte Katherine. »In dem Moment hat oben das Gebrüll eingesetzt und ich bin hinaufgegangen. Und da stand dieser Ureinwohner und hat erzählt, dass er den Fluss noch nie gesehen hat, und dann hast du auch noch angefangen mit ihm zu reden –«

»Schon gut, schon gut, das weiß ich noch«, unterbrach sie Jonas ungeduldig.

Da weder er noch Katherine ein Windlicht oder eine Lampe bei sich hatten, konnte er um sie herum nicht das Geringste sehen. Trotzdem ließ er den Blick immer wieder über das Deck schweifen, um Ausschau zu halten – nach was eigentlich? Nach Prickett, der Wydowses Körper an Deck brachte, um ihn über Bord zu werfen? Oder nach einem anderen Schrecken oder einer Gefahr, die Jonas sich nicht einmal vorstellen konnte?

»Danach bin ich wieder nach unten gegangen, wo Wydowse so über seinem Brief lag.« Sie imitierte jemanden, der einen Schlaganfall oder Herzschlag erlitten hat und über einem Tisch zusammenbricht.

»Sein Gesicht und seine Arme lagen über den Blättern und das Tintenfass hatte er umgestoßen. Ich habe es wieder aufgestellt, weil ihm die Tinte in die Haare lief«, sagte Katherine. »Ich konnte sehen, dass es gerade erst passiert sein musste, weil noch nicht viel Tinte ausgelaufen war … was hättest du denn gemacht, Jonas?«

Auf diese Frage war er nicht gefasst. Was er gerade gedacht hatte, war: Boah, ich bin froh, dass Katherine mit all dem klarkommen musste und nicht ich. Am Pranger zu stehen fühlt sich dagegen nur noch halb so schlimm an.

»Ich weiß es nicht«, sagte Jonas gedehnt. »Wahrscheinlich hätte ich überlegt, wie ich für Wydowse Hilfe holen kann. Ohne mich selbst zu verraten oder den Leuten das Gefühl zu geben, dass es auf dem Schiff spukt oder so etwas.«

»Das Gleiche habe ich auch gedacht!«, sagte Katherine und knuffte ihn vor Aufregung gegen den Arm.

»Und was hast du getan?«, fragte Jonas.

»Es waren ja noch andere Leute unter Deck, sie waren nur nicht in Wydowses Nähe. Und so wie sein Schreibtisch ausgerichtet ist, hätte es Stunden dauern können, ehe jemand merkt, dass er zusammengebrochen ist«, erzählte Katherine. »Also habe ich mich direkt neben ihn gestellt und ein Geräusch gemacht. Ich habe versucht mich anzuhören wie ein alter Mann, der Schmerzen hat: ›Helft mir! Ich … ächz …‹ Ich musste es drei- oder viermal machen, ehe jemand aufmerksam wurde.«

»Schlau«, gab Jonas widerwillig zu.

»Dann sind ein paar Seeleute gekommen und haben Wydowse ins Bett gesteckt – also in seine Hängematte«, sagte Katherine. »Einer hat vorgeschlagen, ihm ein bisschen Brühe zu geben, aber die anderen haben gesagt: ›Nein, wir vertun keine Brühe an einen Mann, der gleichwohl stirbt.‹ Es war schrecklich. Genau so, wie HK es uns am Anfang beschrieben hat: Sie denken alle nur egoistisch an ihr eigenes Essen!«

Ist das wirklich egoistisch, wenn es nicht genug zu essen für alle gibt?, fragte sich Jonas.

»Also wollte ich Wydowse selbst ein bisschen Brühe besorgen, nur um es ihnen heimzuzahlen!«, erzählte Katherine empört. »Aber … da standen überall Leute zusammen, deshalb ging es nicht.«

»Was hat Prickett gesagt?«, fragte Jonas.

»Zuerst war er nicht da«, erwiderte Katherine. »Ich bin nach oben, um zu fragen, was ich deiner Meinung nach tun soll, aber um dich herum waren auch überall Leute.«

»Ich hätte gesagt: ›Lies die Papiere auf dem Schreibtisch!‹«, sagte Jonas und schüttelte empört den Kopf.

»Oh, daran habe ich gedacht«, sagte Katherine. »Als sie Wydowse zu seiner Hängematte getragen haben, habe ich gleich nachgesehen, aber die Seiten lagen verkehrt herum, als hätte er gerade das letzte Blatt umgedreht, um auf der Rückseite weiterzuschreiben.«

»Dann hättest du sie mitnehmen können!«, sagte Jonas, der sich nur mit Mühe eine Beleidigung wie »Bist du doof, oder was?« verkneifen konnte.

»Da waren Leute in der Nähe, hast du das vergessen?«, erwiderte Katherine. »Oder meinst du, sie hätten ruhig ein bisschen Papier durch die Luft schweben sehen sollen?«

Ach ja

Jonas war froh, dass er es sich verkniffen hatte, seine Schwester doof zu nennen.

»Ich habe gewartet und gewartet, bis zum richtigen Moment«, fuhr Katherine fort. »Die Leute zerstreuten sich nämlich, weil es nichts mehr gab, was sie für Wydowse tun konnten. Aber dann hat er angefangen zu reden.«

»Zu reden?«, wiederholte Jonas.

»Ja, wie wenn jemand lallt«, sagte Katherine. »Er hat immer wieder ›das ergibt doch keinen Sinn‹ gesagt und ›John Cabots Karte kann hier draußen nicht mehr als hundert Jahre überdauert haben‹ und –«

»Warte mal, er hat von John Cabots Karte gesprochen?«, unterbrach sie Jonas. »Aber … das stand in dem Buch, zusammen mit dem Bild von Andrea und John White!«

»Wirklich?«, fragte Katherine. »Ich kann mich nicht erinnern, es –«

»Nicht das erste Bild«, sagte Jonas. »Das andere, das Staffe mir gezeigt hat … ach, erzähl erst deine Geschichte zu Ende, dann erzähle ich dir meine.«

Katherine machte ein verwirrtes Gesicht, fuhr aber kopfschüttelnd fort.

»Jemand muss Prickett geholt haben, denn er kam rein und sagte: ›Lassen wir den armen Mann in Frieden‹«, berichtete sie. »Und dann …« Katherines Stimme wurde hohl, als müsste sie sich zwingen weiterzusprechen. »Prickett hat so getan, als ginge er mit den anderen zusammen weg. Ich habe ihn selbst rausgehen sehen! Dann gingen unter Deck sämtliche Lichter aus und es sah aus, als würde Wydowse sich ein bisschen beruhigen. Er hat nur ab und zu ein bisschen gewimmert. Ich wollte mir gerade die Papiere schnappen und davonschleichen, als ich hörte, wie Prickett Wydowse zuflüsterte: ›Ich kann nicht dulden, dass du so redest. Du bist zu klug. Du hast viel zu viel erraten.‹«

Sie sprach genauso, wie Prickett es getan haben musste: ein tiefes, drohendes Knurren, das niemand, der weiter weg stand, hätte hören können. Die Imitation war fast zu gut. Jonas fing an zu zittern und konnte gar nicht mehr aufhören.

»Und dann muss Prickett Wydowse erstickt oder vergiftet haben«, sagte Katherine.

»Aber du hast nicht gesehen, was er getan hat?«, erkundigte sich Jonas.

»Es war stockdunkel!«, sagte Katherine. »Ich konnte kaum die Hand vor den Augen sehen! Aber Prickett hat sich lange über Wydowse gebeugt und dann habe ich ihn auf Zehenspitzen davonschleichen hören. Ich bin gleich darauf zu Wydowse hinübergegangen, um nachzuschauen, warum er nicht weiterredet. Und, und …«

»Das war nicht der erste Tote, den du gesehen hast«, sagte Jonas, was durchaus tröstlich gemeint war.

»Aber ich habe noch nie einen angefasst!«, wandte Katherine ein. »Ich konnte spüren, wie seine Haut kalt wurde!«

Das wollte Jonas lieber nicht vertiefen.

»Schon gut, schon gut, Katherine«, sagte er in seinem beruhigendsten Tonfall. »Ich weiß, dass es schrecklich ist, aber du musst wieder runter und die Papiere holen. Sie sind wahrscheinlich so etwas wie Beweise gegen Prickett und –«

»Ich bin nicht blöd«, sagte Katherine. »Und Panik habe ich auch nicht bekommen! Ich habe die Papiere auf dem Weg nach draußen mitgenommen! Hier!«

Sie drückte Jonas etwas in die Hand. Dieser musste sich einen Augenblick sammeln. Das sind bloß ein paar Seiten Papier, dachte er. Zugegeben, sie wurden von jemandem geschrieben, der gerade eben ermordet wurde, aber das ist nur Papier in deiner Hand. Du musstest den Toten nicht anfassen. Du musst lediglich klar denken.

»Licht«, sagte er laut und versuchte völlig normal zu klingen. »Wir brauchen ein Windlicht oder eine Laterne und, ach so, irgendwas, mit dem wir sie anzünden können.«

»Oder vielleicht etwas, mit dem ihr die Papiere verbrennen könnt?«, sagte da eine tiefe Stimme.

Im nächsten Augenblick hielt Jonas keine Papiere mehr fest. Sie waren ihm aus der Hand gerissen worden.