Der echte John Hudson wäre deutlich schneller im Krähennest angekommen, vermutete Jonas.
Ich habe keine Höhenangst, sprach er sich Mut zu, während er sich Stück für Stück hinaufzog, dabei immer wieder anhielt und sich dann zwang weiterzuklettern. Ich. Habe. Keine. Angst.
Für den größten Teil seines Lebens traf das zu. Aber letztes Jahr, im Sommerlager der Pfadfinder, hatte es ganz oben an der Kletterwand einen Moment gegeben … Jonas hatte komplett den Halt verloren. Natürlich hatte er einen Klettergurt getragen, daher währte sein Sturz kaum eine Sekunde, ehe ihn das Seil abfing. Er war nicht wirklich in Gefahr gewesen. Aber offensichtlich hatte ein freier Fall von einer Sekunde gereicht, um sein Hirn umzupolen und die Stimme auszuschalten, die ihm immer voller Gewissheit zugeflüstert hatte: Höhen? Kein Problem! Nur her damit! An ihrer Stelle meldete sich nun etwas, das ihm ängstlich einflüsterte: Nein, nein, geh nicht da hoch! Du wirst runterfallen! Du wirst dir wehtun. Vielleicht sogar sterben!
Vielleicht hatten auch die Reisen durch die Zeit, der Anblick von Menschen, die wirklich starben, und das Wissen darum, dass Menschenleben von ihm abhingen – vielleicht hatte all das auch etwas mit seiner Angst zu tun.
Ich trage nicht einmal einen Klettergurt, dachte Jonas, dessen Muskeln zum x-ten Mal den Dienst verweigerten.
Er sah nach unten, weil er hoffte, dass irgendjemand, vielleicht Henry Hudson, der immerhin John Hudsons Vater war, zu ihm hinaufrufen würde: »Na, na, hast du nicht etwas vergessen? Sicherheit geht vor, weißt du das nicht mehr?« Nicht, dass Jonas mit einem ausgeklügelten Sicherungssystem rechnete, und Karabiner waren 1611 wahrscheinlich noch gar nicht erfunden. Aber vielleicht gab es irgendwo ein nicht benötigtes Seil, das er sich für den Fall der Fälle umbinden konnte?
Unten liefen ein paar Seeleute barfuß über das immer noch vereiste Deck. Ein Mann, der der Koch zu sein schien, zerteilte mit einem Hackbeil das grünliche Fleisch und verpasste dabei nur knapp seine Finger. Ein anderer ging ihm zur Hand und hatte einen Topf mit kochendem Wasser auf offener Flamme stehen, der bei jeder Welle davonzurollen drohte.
Na gut, Arbeitssicherheit war 1611 wohl noch kein großes Thema, dachte Jonas.
»Sieh lieber nicht nach unten«, flüsterte eine Stimme unter ihm.
Jonas kniff die Augen zusammen – es war Katherine. In den dünnen Nebelfetzen konnte er ihre Konturen unter sich kaum ausmachen.
»Was machst du denn hier oben?«, fragte er. »Du musst dein Leben doch nicht aufs Spiel setzen und so tun, als wärst du John Hudson.«
»Glaubst du vielleicht, ich bleibe allein dort unten?«, fragte Katherine zurück. »Die Leute sind gruselig.«
Gruseliger, als ins Krähennest hinaufzuklettern?, wollte Jonas sie fragen.
Aber Katherine litt natürlich nicht unter Höhenangst.
»Außerdem können wir von hier oben vielleicht mit dem Definator HK erreichen«, sagte sie. »Keine Ahnung, vielleicht ist es wie bei einem Handy. Die funktionieren auch besser, wenn man weit oben steht.«
»Nein, sie funktionieren besser, wenn man in der Nähe eines Handymasts steht«, korrigierte sie Jonas.
»Der Mast hier ist ja wohl hoch genug dafür, oder?«, gab Katherine zurück.
Das war in so vielerlei Hinsicht unlogisch, dass Jonas im Geiste eine Liste anzulegen begann.
Der Definator ist kein Handy. Wir haben keine Ahnung, wie er funktioniert.
HK ist elf Jahre entfernt und sitzt im Jahr 1600 fest. Auf der Spitze eines Masts zu sitzen bringt uns der Vergangenheit kein Stückchen näher.
Es spielt keine Rolle, wie hoch der Mast ist. Wenn er an der Spitze keinen Handymast hat, dann ist er kein Handymast.
Und auch kein Definatormast.
Oder …
Bei jedem Punkt, der ihm einfiel, kletterte Jonas ein weiteres Stück hinauf.
»Aber vielleicht ist der Mast gar nicht so hoch«, meinte Katherine. »Erinnerst du dich, wie sehr das Zeitreisen das Gefühl für Entfernungen durcheinanderbringen kann?«
»Natürlich ist er hoch«, sagte Jonas. »Er ist ein Mast auf einem riesigen Schiff!«
Wieder sah er nach unten. Sie waren inzwischen so weit oben, dass die Discovery gar nicht mehr groß aussah. Sie wirkte winzig – wie ein Spielzeug, das in der endlosen offenen Bucht auf den Wellen tanzte.
Jonas war schwindelig – schwindelig und zu Tode verängstigt.
»Ich hab dir gesagt, du sollst NICHT NACH UNTEN SEHEN«, ermahnte ihn Katherine.
»Hör auf, mich herumzukommandieren«, protestierte Jonas und kämpfte gegen die Schwindelgefühle. Nur um zu beweisen, dass er ihre Anweisungen nicht brauchte, griff er, noch während er wütend zu ihr hinuntersah, weiter hinauf.
Er sah ein winziges Lächeln über ihr Gesicht huschen, das sie sofort verbarg.
»Versuchst du etwa, mich auf die Palme zu bringen?«, fragte er misstrauisch.
»Ja«, gab Katherine zu. »Um dich von deiner Angst abzulenken.«
Das machte ihn natürlich noch wütender.
»Ich hab keine Angst«, beteuerte er. Zum Beweis zog er sich die letzten Sprossen hinauf, ließ sich auf den Bauch fallen und landete auf einem runden, mit Segeltuch bedeckten Holzboden, der von halbhohen abgerundeten Holzwänden umgeben war.
Er hatte das Krähennest erreicht.
Kurz darauf folgte ihm Katherine mit größter Vorsicht.
»Jonas«, sagte sie sanft und ein wenig atemlos. »Ich habe auch Angst. Es ist verrückt, ohne Klettergurt hier hochzuklettern. Mom und Dad würden uns umbringen, wenn sie wüssten, was wir gerade getan haben.«
»Das würde uns jedenfalls davor bewahren, uns beim Runterklettern den Hals zu brechen«, murmelte Jonas.
Katherine schien noch eine Spur blasser zu werden, was beeindruckend war, da sie ohnehin bereits durchsichtig war.
»O Gott! Ich habe gar nicht daran gedacht, dass es beim Runterklettern noch viel schlimmer wird!«, stöhnte sie. »Vielleicht … vielleicht findet HK den echten John Hudson und versetzt ihn hierher, bevor sein Dienst im Ausguck vorbei ist. Dann muss er runterklettern und nicht wir.«
Sie beugte sich über Jonas’ Umhang und zog den Definator heraus.
»HK? HK, bitte! Antworte uns!«, rief sie hinein.
Stille.
»HK?«, flüsterte Katherine.
Nichts.
»Er wird nicht antworten«, sagte Jonas. »Merkst du denn nicht, dass alles aus der Spur ist? Dass wir uns immer weiter vom vorgesehenen Lauf der Zeit entfernen? Man merkt es doch schon daran, dass wir keine Marker mehr sehen können, nicht einmal den von John Hudson, obwohl wir wissen, dass er verschwunden ist!«
»Aber das muss HK doch nicht davon abhalten, mit uns zu reden«, sagte Katherine dickköpfig. »HK!«, schrie sie in den Definator.
Ihre Stimme schien vom leeren Himmel widerzuhallen.
»Pst!«, sagte Jonas. »Sonst kommt Henry Hudson hoch, um mir eine Tracht Prügel zu verabreichen, weil er glaubt, dass ich seinen Feinden verschlüsselte Botschaften schicke.«
Hastig spähte er über den Rand des Krähennests – wovon ihm gleich wieder schwindelig wurde. Aber wenigstens starrte niemand zu ihm herauf.
»Glaubst du, Henry Hudson war ursprünglich auch so verrückt?«, fragte Katherine.
»Ich weiß überhaupt nichts über Henry Hudson in der ursprünglichen Zeit«, erwiderte Jonas schmollend.
»Klar tust du das«, widersprach Katherine. »Denk an den Hudson River. Und die Hudson Bay. Die muss er entdeckt haben.«
»Gratuliere«, sagte Jonas sarkastisch. »Du hast mich gerade beim Geografie-Quiz geschlagen.«
Katherine fuhr fort, als sei nichts gewesen.
»Und HK hat uns erzählt, dass Hudson am Ende mit seinem Sohn und einem Haufen sterbender Seeleute in einer Schaluppe landen würde«, sagte sie.
Jonas schlug mit der Faust gegen die hölzerne Wand des Krähennests.
»Am Ende«, sagte er. »Für die Hudsons sollte die Schaluppe das Ende ihrer Geschichte sein. Und zwar für Henry und John Hudson. Das beweist doch, dass das Schiff definitiv nicht zurückkommen sollte.«
»Und warum ist es dann zurückgekommen? Warum benehmen sich alle so merkwürdig? Warum antwortete HK uns nicht? Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Katherine.
Es war typisch für sie, alles aufzuzählen, was sie nicht wussten. Jonas wäre es lieber gewesen, all diese Fragen unausgesprochen zu lassen.
Moment! Eine davon konnte er sogar beantworten.
»Ich nehme an, ich muss einfach weiter John Hudson spielen«, murmelte er. Er sah hinaus in den grauen Nebel, den grauen Himmel und die graue See. Es war schwer zu sagen, wo das eine aufhörte und das andere begann. »Was glaubst du, was ich als Ausguck zu tun habe? Nach was muss ich Ausschau halten?«
»Nach Eisbergen, wie in Titanic?«, schlug Katherine vor.
Wunderbar. Da fühlte er sich gleich besser.
»Wenn du schon unsichtbar bist, könntest du doch runterklettern und Hudson, Prickett und die anderen belauschen, um rauszufinden, was wirklich vor sich geht«, schlug Jonas vor, weil er seine Schwester in diesem Moment einfach gerne losgeworden wäre.
»Und was ist, wenn ich aufhöre, unsichtbar zu sein, Jonas, wenn sie mich erwischen?«, fragte Katherine, die plötzlich Tränen in den Augen hatte.
Ist sie so durcheinander?, wunderte sich Jonas. Hat sie solche Angst?
Katherine war nur ein Jahr jünger als er. Solange er zurückdenken konnte, war sie wie eine Naturgewalt durch sein Leben gefegt: Ständig stürmte sie ins Haus oder wieder hinaus, war sie hinter ihm und seinen Freunden hergezockelt und hatte gestänkert: »Jonas hat mich gekränkt! Sag ihm, dass er mit mir spielen soll!« Katherine musste nur ins Zimmer treten und schon wusste Jonas, ob sie glücklich oder traurig, wütend, eingeschüchtert oder ekstatisch war. Und wenn er oder seine Eltern ihre Signale nicht sofort auffingen, wurden sie von ihr in stundenlangen Vorträgen ins Bild gesetzt.
War es möglich, dass auch Katherine sich verändert hatte? Dass sie auf ihren Reisen durch die Zeit – bei denen sie sich verirrt, ihr Leben aufs Spiel gesetzt und ihre Freunde gerettet hatten, ohne zu wissen, wie die Sache ausgehen würde – tatsächlich gelernt hatte, ihre Gefühle zu verbergen? Jedenfalls einige?
Eine Träne rollte ihr über die Wange, die sie wortlos wegwischte.
Sie zitterte, verlor aber auch darüber kein Wort.
»Äh, hier, Katherine, wahrscheinlich ist dir ziemlich kalt«, sagte Jonas. »Du kannst meinen Umhang haben.«
Er machte Anstalten, ihn auszuziehen, aber die Tränen quollen ihr nur noch reichlicher aus den Augen. Plötzlich erschien es ihm wichtiger, sie zum Lachen zu bringen, als sie aufzuwärmen.
»Oder du legst dir die Segeltuchdecke um«, sagte er und hob eine Ecke des Tuchs an, auf dem sie saßen. »Ich wette, sie riecht nur so, als hätte man darin tote Fische übers Meer transportiert.« Er legte sich die Decke zu Demonstrationszwecken selbst um. »Siehst du? Ist fast wie eine Kuschel-«
Er verstummte, denn unter dem Segeltuch lag etwas. Etwas Flaches, Glattes … Er zog ein Päckchen hervor, das in getrocknete Tierhäute eingewickelt war. Als er die Häute abpellte, entdeckte er einige Aufzeichnungen.
»Vielleicht hat jemand verschlüsselte Botschaften hier oben gelassen!«, vermutete Katherine aufgeregt.
»Ich glaube nicht, dass sie verschlüsselt sind«, flüsterte Jonas und starrte auf die Seiten. »Ich glaube, die sind ziemlich geradeheraus.«
Er hatte den ersten Satz bereits gelesen:
Etwas sehr Merkwürdiges und Gefährliches ist auf der Discoverie im Gange …