Jonas’ Hirn hatte einen Kurzschluss. Nicht genug, dass er mit einem Bären hatte fertig werden müssen, einer Meuterei, Eisschollen, einem Knüppel auf den Kopf und einer Charakterrolle, bei der es um Leben und Tod ging. Musste er jetzt auch noch mit Zweis verdrehtem Zeitgefühl klarkommen?
»HK befindet sich noch vor seiner Reise ins Jahr 1600 und wir danach?«, fragte Katherine gedehnt. »Das heißt …«
»Das heißt genau genommen, dass diese Art von Begegnung strengstens verboten ist, weil die Zeitpolizei permanent fürchtet, dass dadurch gefährliche Paradoxe hervorgerufen werden können«, sagte Zwei. »Aber dort glaubt man, dass alles Paradoxe verursachen kann, obwohl das hier in Wirklichkeit den Heilungsprozess der Zeit abschließen wird. Ihr müsst nichts weiter tun, als ihm den Definator zu geben und ihm zu sagen, dass er sich auf die Insel Croatoan begeben soll, am 3. August 1600. Sonst nichts.«
»Nein«, sagte Jonas.
Katherine sah ihren Bruder an.
»Ich sehe das genauso«, sagte sie. »Nein.«
»Was, nein?«, fragte Zwei mit einem Hauch von Frustration in der Stimme. »Nein, ihr werdet ihm den Definator nicht geben, oder nein, ihr sagt ihm nicht, dass er sich nach Croatoan begeben soll?«
»Oh, das machen wir schon«, erklärte Jonas. »Aber wir werden ihm noch mehr erzählen als das.«
»Alles«, sagte Katherine.
Jonas grinste sie an und nickte.
»Was?«, rief Zwei. »Versteht ihr denn nicht, wie gefährlich Paradoxe sind?«
»Wir verstehen, dass Sie uns benutzt haben«, erklärte Jonas, der mit jedem Wort mehr Sicherheit gewann. »Wir verstehen, dass wir für Sie nur Spielfiguren sind. Genau wie Hudson seine Männer als Spielfiguren betrachtet hat, bis sie sich gegen ihn aufgelehnt und ihn eines Besseren belehrt haben.«
»Und HK werden wir das nicht antun«, sprach Katherine für Jonas zu Ende. »Wir werden ihn nicht in Gefahr bringen, ohne ihn vorher zu warnen.«
»Aber … aber … das ist anmaßend!«, zeterte Zwei. »Ihr seid Kinder! Ihr habt keine Ahnung, was ihr da tut! Ihr könntet die Zeit vollends zum Zusammenbruch bringen! Das … das unterläuft unsere Abmachung!«
»Sie haben nur gesagt, dass wir Ihnen 1611 unter die Arme greifen müssen!«, sagte Jonas. »Und nicht, dass wir für immer Ihre Sklaven sind! Und Sie haben auch nicht gesagt, dass wir alles ausführen müssen, was Sie sagen! Sie –«
Jonas verstummte, denn die Luft vor ihnen begann zu schimmern. Einen Augenblick später tauchte HK auf.
Jonas hatte ihn in der Vergangenheit bereits diverse Male in aufreibenden Situationen erlebt – oder musste es »in der Zukunft« heißen? –, trotzdem hatte HK immer eine gewisse Zuversicht und Sicherheit verströmt. Einer der Gründe dafür war, dass er so gut aussah. Noch bevor sie wussten, wer er wirklich war, hatte Katherine ihn wegen seiner dunklen Haare, der grünen Augen und seiner schönen Gesichtszüge »süßer Hausmeisterknabe« genannt.
Jetzt sah HK weniger gut aus. Und weder zuversichtlich noch sicher. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, sorgenvoll nach unten verzogene Mundwinkel und seine Haare waren so durcheinander, als habe er sie seit Tagen weder gewaschen noch gekämmt.
Hatte er bei seiner Ankunft im Jahr 1600 so schlecht ausgesehen? Oder waren Jonas und Katherine selbst zu mitgenommen gewesen, um es zu bemerken?
»HK?«, sagte Katherine zögerlich, als erkenne sie ihn in diesem ungekämmten Zustand kaum wieder.
HK musterte sie mit misstrauischem Blick.
»Katherine?«, fragte er. »Bist du das wirklich oder ist das nur wieder einer von Zweis Tricks?«
»Natürlich sind wir es!«, sagte Jonas.
HK machte noch schmalere Augen, als er sich Jonas zuwandte.
»Und wer bist du?«, fragte er.
Jonas hatte ganz vergessen, dass er immer noch als John Hudson verkleidet war und wahrscheinlich schlimmer aussah denn je nach seinem Tag am Pranger, dem wiederholten Aufenthalt in der Schaluppe und seiner Begegnung mit dem Bären.
Jonas zerrte an seiner Maske, doch sie rührte sich nicht vom Fleck.
»Ich bin Jonas!«, protestierte er, aber natürlich hörte sich seine Stimme völlig verkehrt an. Im Laufe des zurückliegenden Tages hatte Jonas fast vergessen, wie sehr sich John Hudsons Stimme von seiner eigenen unterschied, doch nun kehrte das Fremdheitsgefühl zurück.
Es überraschte ihn nicht, dass HK vor ihm zurückwich.
»Netter Versuch, Zwei«, murmelte er, »aber wenn mir diese Hologramme – falls es welche sind –, wenn mir keiner von euch sagen kann, wo ich den echten Jonas, die echte Katherine und Andrea finden kann, verschwinde ich von hier.«
»Wir –«, begann Katherine.
Aber Jonas hielt ihr schnell den Mund zu.
»Sag es ihm noch nicht!«, befahl er.
Katherine zwinkerte ihm zu.
»Ich wollte gerade sagen, dass wir der echte Jonas und die echte Katherine sind«, murmelte sie, auch wenn Jonas ihre Worte erstickte.
»Ich hab es eilig, Kinder«, sagte HK. »Ich habe keine Zeit für so etwas.«
»Doch, das hast du«, erwiderte Jonas. Er versuchte sich auf etwas zu besinnen, das HK klarmachen würde, wer sie waren. Allerdings war Zwei, bevor er seine Skrupel abgelegt hatte, HKs bewährtester Zeitanalyst gewesen; wenn er Hologramme oder andere Nachahmungen von Jonas und Katherine geschaffen hatte, dann konnte er sie mit jeder beliebigen Art von Geheimwissen ausstatten.
Es war schrecklich. Jonas würde auf die gleiche Art von Taktik zurückgreifen müssen wie Zwei.
»Du musst uns zuhören«, sagte er. »Wir haben Informationen, die du brauchst. Aber die werden wir dir nicht geben, ehe du dir nicht die ganze Geschichte angehört hast.«