Dreißig

Jonas’ Beine waren steif nach den endlosen Stunden am Pranger. Katherine war deutlich früher als er an den Wanten.

»Warte!«, rief er. »Wir klettern zusammen hoch!«

»Aber Prickett entwischt uns!«, rief Katherine ihm über die Schulter zu und kletterte los.

Sie hatte recht. Da Prickett das Windlicht dabeihatte, konnten sie seine Fortschritte gut erkennen. Er befand sich einige Meter über ihnen und das Licht schraubte sich gleichmäßig schwankend in die Höhe.

Hält er das Windlicht mit den Zähnen fest?, fragte sich Jonas. Oder hat er es irgendwie an seinem Arm befestigt?

Es ärgerte Jonas, dass sein Verstand sich in einem solchen Moment um derart unnütze Einzelheiten sorgte. Auf was er sich wirklich konzentrieren musste, war, seine schmerzenden Muskeln wieder zum Leben zu erwecken und Arme und Beine in einen Top-Kletterzustand zu bringen. Er musste schnell sein, um Katherine einzuholen – und Prickett.

Er packte die erste Webleine und versuchte sich hochzuziehen. Seine Arme schlotterten.

Na schön, dachte er. Der Tag am Pranger hat also auch meinen Armmuskeln zugesetzt.

Er schüttelte die Arme aus und versuchte es wieder. Es war nicht gerade hilfreich, dass die Leinen so kalt und nass waren. Schon vor Stunden, als die Sonne noch am Himmel stand, hatte er Henry Hudson gewarnt, dass die Leinen vereist sein könnten. Inzwischen waren sie es vermutlich.

Seine Finger wurden so schnell taub, dass er gar nicht feststellen konnte, ob die Leinen vereist waren oder nicht.

Langsam und gleichmäßig, ermahnte ihn sein Verstand. Wenn du zu schnell wirst, stürzt du ab.

Wie kam es, dass Prickett dort oben bei dem Tempo nicht abstürzte?

Jonas sah den Mann vor seinem geistigen Auge unter unentwegtem Schreien geradewegs aufs Deck stürzen.

Doch dann erstarrte er, denn nun sah er sich selbst fallen, anstelle von Prickett.

Noch ein Stück höher und es ist hoch genug, um zu sterben, wenn ich aufs Deck knalle, dachte er.

Aber er musste Prickett daran hindern, die Papiere zu verbrennen!

Jonas’ Muskeln verweigerten immer noch den Dienst. Über ihm kletterten Prickett und Katherine immer höher und höher.

Dann überlasse ich es also Katherine, allein mit einem Mörder fertig zu werden?, fragte er sich.

Das brachte Leben in seine Glieder. Seine Finger waren immer noch taub und seine Muskeln immer noch steif, aber er fand einen Rhythmus. Er wurde schneller und dachte nicht mehr an die Entfernung zum Krähennest. In gewisser Weise war es leichter, im Dunkeln zu klettern, weil er unter sich das Deck nicht sehen konnte. Er musste sich nur auf das Licht konzentrieren, das über ihm hin und her wippte. Er kam ihm jetzt tatsächlich näher. Er…

… stieß gegen Katherines Fuß.

»Tut mir leid«, flüsterte er.

»Pst«, flüsterte sie zurück. »Wir sind so nah, dass er uns hören kann.«

Nicht bei dem Wind, dachte Jonas. Denn es war unheimlich: Obwohl er den Wind um sich herum kaum spüren konnte, hörte er ihn dennoch heulen wie einen schrecklichen Sturm. Vielleicht lag es einfach an der Höhe, in der sie sich inzwischen befanden.

Denk so etwas nicht, sagte er sich.

Oben hörte er ein dumpfes Geräusch und das Licht stieg nicht mehr höher.

»Jetzt ist er im Krähennest!«, zischte Jonas Katherine zu. »Nimm ihm die Papiere weg und versuch es so hinzukriegen, dass er glaubt, der Wind hätte sie fortgeweht!«

Katherine kletterte schneller und kam Prickett, dem Krähennest und dem Licht immer näher. Prickett hatte das Windlicht außen am Mastkorb an einen Haken gehängt, sodass der Lichtschein nach unten fiel, geradewegs durch Katherine hindurch.

Wie gut, dass sie durchsichtig ist, dachte Jonas. Sonst könnte ich überhaupt nichts sehen.

Er wollte seiner Schwester eine Warnung zurufen, etwas wie: »Pass auf, dass er dich nicht sieht«, aber das war lächerlich, weil sie für Prickett natürlich völlig unsichtbar war. Er und alle anderen, die tatsächlich in das Jahr 1611 gehörten, hatten an diesem Tag schon Hunderte Male durch sie hindurchgesehen.

»Vorsichtig«, murmelte Jonas trotzdem.

Prickett nutzte diesen Moment, um sich ein wenig vornüberzubeugen und nach unten zu sehen. Aber natürlich konnte er Jonas bei dem Wind nicht gehört und ihn auch nicht gesehen haben, weil das Licht so trübe war.

Jonas hielt inne.

Ich steige nur zum Krähennest hoch, wenn Katherine mich braucht, dachte er. Wenn sie die Papiere nicht erwischt oder es nicht so aussehen lassen kann, als wären sie im Wind davongeweht.

Katherine war nun ganz oben, dort, wo sie sich in den Mastkorb hinüberschwingen musste.

Schnapp dir die Papiere, verstecke sie in deinen Klamotten und komm wieder runter, dachte Jonas, als könnte er seine Schwester telepathisch fernsteuern.

Er war so darauf konzentriert, was sie tun und was sich als Nächstes abspielen sollte, dass er das tatsächliche Geschehen, das ihm seine Augen in diesem Moment zeigten, fast nicht begriff.

Katherine rutschte mit der Hand ab.

Sie kippte nach hinten und Jonas schrie: »Nein! Halt dich fest!«, denn in diesem Augenblick zählte einzig und allein, dass Katherine nichts geschah, dass sie sich festhielt und nicht stürzte.

Nein! Nein! Nein!, schrie es in Jonas’ Kopf.

Denn sie fiel tatsächlich. Sie versuchte wieder Halt zu finden, rutschte aber mit den Händen von den Leinen ab. Auch ihre Füße glitten ab und sie fiel. Das flackernde Kerzenlicht verlieh allem den Anschein, als geschehe es in Zeitlupe. Doch das würde sich gleich ändern, sie würde in die Dunkelheit stürzen und 

Prickett streckte den Arm aus und packte Katherine am Handgelenk. Dann zerrte er sie zu sich ins Krähennest.