»Nein!«, rief Jonas. Und schon hielt ihm jemand den Mund zu. Er versuchte in die Finger zu beißen, doch da umklammerte ein Arm seinen Kopf.
Und drückte zu.
»Noch einen Ton und ich lasse mir etwas Schlimmeres einfallen als den Pranger«, flüsterte ihm die Stimme ins Ohr.
Jonas war sich fast sicher, dass es Prickett war, aber die Dunkelheit verwirrte ihn. Er hörte die Stimme anders, als wenn er dem Mann ins Gesicht sah.
Ein Kratzen war zu hören – Feuerstein vielleicht? –, dann flammte ein Licht auf, das in einem Metallhalter stand, der Jonas merkwürdig vertraut vorkam.
Ja klar, dachte er. Sieht aus wie der Zwilling unseres Definators.
Das Licht flackerte und Jonas erblickte Pricketts vernarbtes, wettergegerbtes Gesicht. Was immer er gerade in dessen Stimme gehört zu haben meinte, war fort.
»Keinen Ton. Einverstanden?«, sagte Prickett.
Hinter Prickett konnte Jonas seine Schwester sehen, die auf ihren weit geöffneten Mund deutete, dann mit den Händen fuchtelte und schließlich fragend die Arme hob. Diesmal verstand Jonas genau, was sie meinte: Ich kann sofort losschreien. Er kann mich nicht daran hindern! Er kann mich nicht mal sehen! Soll ich schreien oder nicht?
Jonas schüttelte fast unmerklich den Kopf.
»Keinen Ton«, flüsterte er zustimmend.
Du bist unsere Geheimwaffe, Katherine, sagte er im Stillen zu seiner Schwester und hoffte, dass sie das auch verstanden hatte. Verrate nicht, dass du hier bist, wenn es nicht unbedingt sein muss. Lass uns zuerst rausfinden, was hier vorgeht.
Prickett zog die Hand zurück, ließ sie jedoch angewinkelt, um Jonas jederzeit erneut den Mund zuzuhalten, wenn es nötig sein sollte.
»Kluger Junge«, sagte Prickett. »Dir ist doch klar, dass kein Mensch einem Jungen, der am Pranger steht, seine verrückte Geschichte glauben wird. Schon gar nicht, wenn er den Mann verleumdet, der am gleichen Morgen den Kapitän des Schiffs vor dem sicheren Tod bewahrt hat.«
Er hielt die Papiere ein wenig zur Seite. Jonas sah Katherine nach ihnen greifen, aber unheimlicherweise wählte Prickett genau diesen Augenblick, um sie sich vors Gesicht zu halten.
»Wydowse hingegen, ihm glauben möglicherweise alle«, sinnierte Prickett und blickte auf die Seiten. »Vor allem dann, wenn er sich schriftlich klarer ausgedrückt hat als in den letzten Stunden mündlich.«
»Sie –«, begann Jonas, bremste sich aber. Sie haben ihn umgebracht!, hatte er rufen wollen. Aber selbst wenn er nicht versprochen hätte, den Mund zu halten, schien es ihm keine gute Idee zu sein, Prickett daran zu erinnern, dass er des Mordes fähig war. Nicht, solange das Deck so dunkel und verlassen dalag. Nicht, solange Jonas an den Pranger gefesselt war.
Jonas erinnerte sich an die Axt, die der Matrose mit dem Tau beim Mast liegen gelassen hatte.
Es wäre so leicht für Prickett, mich umzubringen, dachte er und unterdrückte ein Schaudern. Und Katherine könnte ihn nicht daran hindern. Sie konnte ihm nicht mal die Aufzeichnungen wegnehmen.
Prickett las immer noch in den Papieren.
»Tse, tse«, sagte er. »Was für schreckliche Anschuldigungen Wydowse da vorbringt.« Wieder blickte er zu Jonas auf. »Und wie kommst du zu diesen Seiten, wenn du doch den ganzen Tag am Pranger gestanden hast? Wer hat sie dir gegeben?«
Jonas öffnete den Mund. Sollte er lügen und jemandem die Schuld in die Schuhe schieben, der nichts getan hatte? Oder sollte er versuchen, jemanden reinzuwaschen? Selbst wenn er sagte: »Staffe war es nicht!«, würde sich das anhören, als wäre Staffe schuldig.
»Egal. Von einem Taugenichts wie dir würde ich doch keine ehrliche Antwort erwarten«, sagte Prickett. »Irgendjemand hat sie dir gegeben. Ich werde schon noch dahinterkommen.«
Jonas funkelte Prickett wütend an. Doch im trüben Kerzenlicht konnte dieser sein Gesicht vermutlich nicht einmal sehen.
»Meine Zuträger berichten mir, dass Wydowse überall auf dem Schiff verborgene Berichte hinterlassen hat«, fuhr Prickett in gelassenem Ton fort. »Der andere Schiffsjunge, Nicholas Symmes, der arme Tropf – er kann, wie so viele an Bord, nicht einmal lesen –, hat zugegeben, dass er für Wydowse Papiere oben im Krähennest versteckt hat. Er hatte keine Ahnung, was er da versteckte. Aber um Wydowse endgültig zum Schweigen zu bringen, sollte ich sie vielleicht zusammen mit diesen hier vernichten? Meinst du nicht?« Mit höhnischem Triumph sah er Jonas an. »Ach ja, richtig – dich habe ich auch zum Schweigen gebracht.«
Das Hohnlächeln wurde zu einem arroganten Grinsen, als Prickett die Augenbrauen hochzog.
Dieser Gesichtsausdruck … er sieht irgendjemandem ähnlich. Und das ist nicht Billy Rivoli zu Hause, dachte Jonas.
Es war verrückt, in einem solchen Moment über Pricketts Aussehen nachzudenken.
»Nicht!«, stieß Jonas hervor. »Sie können doch nicht –«
»Was? Willst du mich vielleicht aufhalten?«, fragte Prickett.
Lachend wirbelte er herum und ging zu den Wanten, die zum Krähennest hinaufführten.
»Ich halte ihn auf!«, zischte Katherine und folgte ihm.
»Nein, Katherine – nicht allein! Hol mich hier raus! Ich komme mit dir!«, rief Jonas ihr gedämpft nach.
Einen Augenblick lang dachte er, Katherine würde ihn ignorieren. Sie rannte weiter. Doch dann wandte sie sich in der Dunkelheit halb zu ihm um.
»Das wird auffallen«, sagte sie, immer noch gewillt weiterzurennen. »Ich kann dich nicht rausholen, ohne Spuren zu hinterlassen.«
»Das spielt keine Rolle!«, zischte Jonas. »Schnell! Die Axt!«
Katherine sah sich um. Es gab so wenig Licht. Würde sie viel Zeit damit verschwenden müssen, herumzutasten, um die Axt zu finden? Nein, da war sie. Sie hob sie auf und schlug damit auf das Schloss, das den Pranger zusammenhielt. Jonas hörte Holz splittern.
»Hat nicht ganz funktioniert … noch mal«, flüsterte Katherine.
Pricketts Windlicht war inzwischen so weit entfernt, dass Jonas nicht einmal sehen konnte, wie Katherine die Axt schwang. Es war zu dunkel. Doch er spürte die Erschütterung des Holzes, als die Axt aufschlug. Dann hob Katherine über seinem Kopf und den Händen das obere Brett des Prangers an.
»Los komm!«, flüsterte sie.
Sie rannten zusammen los.