Sechsundvierzig

Beim Aufwachen hörte Jonas Jubelgeschrei.

»Das ist der Junge, der uns gerettet hat!«

»Er ist am Leben!«

»Jonas!«

Dann hörte er Katherine spotten: »Und ich dachte, du hättest im John-Hudson-Kostüm schlimm ausgesehen. Hast du dich im Schlamm gewälzt oder in Asche?«

Sie schlang die Arme um ihn, dass er einen Moment lang nicht wusste, ob sie ihn umarmen oder schlagen wollte.

»Du Idiot! Ich dachte, du wärst tot! All die Leute hier sind aufgetaucht, nur du nicht.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Warum hast du mich nicht dabehalten, damit ich dir helfen kann?«

»Du warst praktisch im Koma!«, verteidigte sich Jonas.

»Das hätte sich geändert, wenn du mir eine Minute mehr Zeit gelassen hättest, mich von der Zeitkrankheit zu erholen«, erwiderte Katherine.

»Eine Minute mehr war aber nicht drin«, sagte Jonas.

Katherines Umklammerung wandelte sich zu einer richtigen Umarmung. Der Dreck und die Asche schienen vergessen zu sein.

»Du hast mir Angst gemacht«, flüsterte sie.

»Kann ich mit ihm reden?«, sagte eine leise Stimme hinter Katherine.

Es war Andrea.

Katherine ließ Jonas los, damit er an ihr vorbeischauen konnte. Zumindest hätte er dazu in der Lage sein sollen. Blinzelnd versuchte er seine Augen in Schwung zu bringen. Allmählich konnte er eine Gruppe dunkelhaariger Menschen erkennen: Es waren die indianischen Dorfbewohner. Hinter ihnen sah er kahle Wände, was ihm verriet, dass sie sich tatsächlich in dem kühlen, konturlosen Raum außerhalb der Zeit befanden. Doch es dauerte eine Weile, ehe seine Augen auch Dinge in der Nähe scharf sehen konnten, wie Andrea.

Das war doch Andrea, oder? Sie hatte immer noch diese eindrucksvollen grauen Augen und das lange braune Haar, das im Licht glänzte. Außerdem trug sie ein Kleid aus Rehleder, genau wie zu dem Zeitpunkt, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Trotzdem war sie nicht ganz dieselbe. Es lag nicht nur daran, dass der traurige Ausdruck verschwunden war, der vorher ihr Gesicht beherrscht hatte. Sie sah auch … älter aus.

»Danke, Jonas«, sagte sie mit einer würdevollen Gelassenheit, die sie noch reifer wirken ließ. »Danke, dass du – schon wieder – dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, um meines zu retten.«

War dies ein guter Augenblick für ihn, um ihr zu sagen: Andrea, ich habe 1611 pausenlos an dich gedacht. Du hättest wissen müssen, dass ich zurückkommen würde. Du hast mir so gefehlt.

Nein, es war kein guter Augenblick, denn Andrea war noch nicht fertig.

»Und vor allen Dingen: Vielen Dank, dass du meinen Großvater gerettet hast«, endete sie.

Jonas blinzelte und sah, dass ein alter Mann mit sauber getrimmtem weißen Bart ihren Arm umklammerte.

»Deinen … Großvater? Ich?«, entfuhr es Jonas. »Aber ich dachte, er sei schon tot! Ich habe ein Bild von seiner Beerdigung gesehen!«

Andrea fuhr zurück.

»Was?«, stieß sie hervor.

»Jonas, das war in der anderen Zeit«, warnte ihn Katherine, die neben ihm stand.

»Was sagt der junge Bursche?«, erkundigte sich Andreas Großvater. »Außerdem will ich immer noch wissen, wie er es vermocht hat, uns alle hierherzuzaubern. Ich weiß, dass Wissenschaft und Philosophie für alles eine Erklärung liefern können, aber –«

»Wir unterhalten uns später, Jonas«, sagte Andrea und führte ihren Großvater beiseite. »Vielleicht ist das wieder so ein Moment, den du als Traum betrachten solltest, Großvater. Als etwas, das dich künstlerisch inspirieren kann vielleicht …«

»Sei gepriesen«, dröhnte eine tiefe Stimme hinter Andrea.

»Ja, Mann, vielen Dank«, fügte eine ebenso tiefe Stimme hinzu.

Wieder musste Jonas die Augen zusammenkneifen. Seine Sehkraft wurde langsam besser, aber er traute ihr immer noch nicht ganz. Die Jungen, die ihn angesprochen hatten, waren so groß, dass er sie wahrscheinlich lieber als Männer betrachten sollte. Aber wie war das möglich?

»Boah«, sagte Katherine neben ihm und hielt die Luft an. »Bist du das, Brendan? Und du – Antonio?«

»Nein, Der Vieles Überlebt und Geht Voller Stolz«, korrigierte sie Antonio.

»Es ist lange her, seit uns jemand mit diesen Namen angesprochen hat«, entschuldigte sich Brendan. »Wir haben sie fast vergessen.«

Jonas blinzelte immer noch und versuchte in den beiden Riesen, die vor ihm standen, den Brendan und den Antonio zu erkennen, die er gekannt hatte. Sie waren Teenager gewesen, also war es durchaus denkbar, dass sie innerhalb kürzester Zeit ein ordentliches Stück gewachsen waren, oder nicht? Und prahlte sein Dad nicht immer, dass er mit fünfzehn im Laufe eines Sommers sieben Zentimeter in die Höhe geschossen war?

Brendan und Antonio sahen aus, als wäre jeder von ihnen dreißig Zentimeter gewachsen.

»Ich weiß, es ist ziemlich viel verlangt, aber … du hast nicht zufällig ein paar unserer Werke gerettet, oder?«, fragte Brendan.

»Ich nicht«, erwiderte Jonas, »aber ich habe gesehen, wie jemand anderes eine ziemlich große Schnitzarbeit davongetragen hat.«

Brendan und Antonio klatschten sich ab. Und zwar ziemlich hoch oben in der Luft.

»Dann preise ich auch zeitreisende Kunsträuber!«, jubelte Antonio. »Hauptsache, unser Werk überlebt!«

Ein merkwürdiger Ausdruck trat in sein Gesicht.

»HK, die kahlen Wände in diesem Raum machen mich fertig«, sagte er über die Schulter. »Ich habe da ein paar Ideen. Was dagegen, wenn ich sie umsetze?«

»Die Wände sind im Augenblick meine geringste Sorge«, ertönte HKs Stimme mitten aus der Gruppe der Ureinwohner. »Tu dir keinen Zwang an.«

Jonas war erleichtert, HK am Leben zu sehen – und bei Bewusstsein.

»Was dagegen, wenn ich mir deine Schuhe leihe?«, wandte sich Antonio an Jonas.

»Meine … Schuhe?«, fragte Jonas.

»Ja. Ich gebe sie dir gleich zurück«, sagte Antonio.

Jonas streifte sie ab und sah zu, wie Antonio mit ihnen zur Wand ging und die Sohlen auf den Anstrich presste. Aschefarbene Abdrücke des Nike-Logos erschienen auf der Wand. Brendan trieb irgendwo ein Stückchen Kohle auf und begann einen Pfad neben die Schuhabdrücke zu zeichnen.

Die beiden schienen Jonas und Katherine völlig vergessen zu haben.

»Die sind jedenfalls glücklich«, murmelte Katherine. »Aber … was glaubst du, wie alt sie sind?«

Jonas zuckte die Achseln.

»Im fünfzehnten Jahrhundert sind Chip und Alex in der Zeit, als wir getrennt waren, zwei Jahre älter geworden«, sagte er. »Aber als wir nach Hause zurückgekehrt sind, wurden sie wieder normal. Also ist das so wichtig?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Katherine. Aber sonderlich beruhigt sah sie nicht aus.

Ein Bobtail drängte sich durch die Menge und rieb den Kopf an Jonas’ Bein.

»Dare hat es auch geschafft!«, freute sich Katherine.

»Dann hat ihn der Definator wohl in der Hütte, in der er gerade gesteckt hat, unter ›alle‹ eingeordnet«, murmelte Jonas. Er tätschelte Dare den Kopf, doch er war nicht ganz bei der Sache. War da nicht noch etwas, das er beachten sollte?

Er sah zu HK hinüber, der von Dutzenden verwirrt aussehender Ureinwohner umringt war. Sie schienen alle gleichzeitig auf ihn einzureden. HK nickte und sagte: »Hm-hm, hm-hm«, während er mit geübten Fingern immer wieder über das Display eines Definators fuhr – jenes Definators, den Jonas in der Hand gehalten hatte, als er in das Zeitloch gekommen war.

Verwirrte Indianer. HK. Definator.

Jonas rappelte sich mühsam auf und hechtete auf HK und den Definator zu.

»HK, nein!«, schrie er. »Schick sie nicht einfach ins Feuer zurück!«

HK blickte vom Definator auf.

»Glaubst du im Ernst, das würde ich tun?«, fragte er gekränkt.

»Weil wir doch die Zeit … wir haben sie verändert … und du willst, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind …« Jonas brachte die Worte kaum heraus.

»Jonas, diese Leute sind seit fünf Jahren meine Freunde und Nachbarn«, erklärte HK. »Sie haben mich aufgenommen und am Leben erhalten. Sie sind meine Blutsbrüder

Einer der Ureinwohner sagte etwas auf Algonkin und HK übersetzte seine eigenen Worte. Der Indianer nickte nachdrücklich, offensichtlich fand die Sache mit den »Blutsbrüdern« seine Zustimmung.

Jonas sah sie nur sprachlos an.

»Hast du gerade … fünf Jahre gesagt?«, fragte Katherine zögerlich. »Du … und Brendan … und Antonio … und Andrea, ihr habt wirklich fünf Jahre im Jahr 1600 verbracht?«

»Nun, im Jahr 1600 nur ein halbes Jahr, aber dann kam das ganze 1601 und so ging es immer weiter bis jetzt, zum Jahr 1605«, sagte HK. »Jedenfalls war das der Zeitpunkt, als ihr uns gerettet habt.«

Jonas hatte alle Mühe, das zu verdauen.

»Dann sind Brendan, Antonio und Andrea jetzt achtzehn«, sagte er und sah die anderen an.

»Und Jonas und ich sind praktisch immer noch kleine Kinder«, sagte Katherine fast schmollend.

Du vielleicht, hätte Jonas am liebsten erwidert, weil er nicht wollte, dass Andrea ihn für einen kleinen Jungen hielt. Aber es war hoffnungslos. Sie war jetzt achtzehn und er immer noch dreizehn.

Der Ureinwohner neben HK meldete sich wieder zu Wort und HK antwortete ihm auf Algonkin: »Es tut mir leid, großer Häuptling, aber ich kann nicht alles erklären, was hier gerade besprochen wird. Es ist eine sehr lange Geschichte, die sich am besten an einem langen Abend am Lagerfeuer erzählen lässt.«

»Und in diesem Raum gibt es keinen Abend«, sagte der Häuptling mit einem Nicken. Er betrachtete die fensterlosen Wände. »Und auch keinen Morgen.«

Jonas fand, dass der Häuptling das Konzept des Zeitlochs erstaunlich schnell begriffen hatte.

»Also was hast du mit ihnen vor?«, fragte Jonas.

»Im Moment versuche ich einfach nur dahinterzukommen, wer hier ist, was passiert ist und was mit der Zeit vor sich geht. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was wir als Nächstes tun sollen«, sagte HK. Er wollte sich wieder dem Definator zuwenden, hob dann aber schnell den Kopf. »Nur, dass niemand zurückgeschickt wird, in den sicheren Tod.«

»Entschuldigt bitte«, sagte da eine Stimme im hinteren Teil des Raums. Sie klang merkwürdig vertraut, auch wenn Jonas sie nicht ganz zuordnen konnte.

Dann schob sich ein Junge durch die Menge auf HK, Katherine und Jonas zu. War es jemand, den Jonas schon einmal gesehen hatte? Mit seinen hellen Haaren und den blauen Augen wirkte er in einem Raum voller amerikanischer Ureinwohner merkwürdig fehl am Platz.

»Noch so ein Schmacko!?«, hörte Jonas seine Schwester vor sich hin murmeln. »Er ist zwar kein Brendan oder Antonio«, sie warf einen Blick auf die beiden hochgewachsenen Jungen, die immer noch völlig auf ihre Zeichnungen konzentriert waren, »aber hallo!«

Jonas erinnerte sich, dass Brendan und Antonio erzählt hatten, ihr Stamm sei sehr großzügig, wenn es darum ging, Menschen aus anderen Kulturen aufzunehmen. Er vermutete, dass das auch bei diesem Jungen der Fall gewesen sein musste. Doch als dieser näher kam, sah Jonas, dass er die kerzengeraden Zähne eines Menschen hatte, der jahrelang eine Zahnspange getragen haben musste. Und während alle anderen männlichen Anwesenden im Raum – selbst HK – mit irgendeiner Art von Lendenschurz oder Hose aus Hirsch- oder Rehleder bekleidet waren, trug dieser Junge ein T-Shirt der Cincinnati Reds und Shorts mit einem kleinen Reebok-Logo am Saum.

»Kann mir bitte jemand sagen, was hier los ist?«, fragte der Junge mit leicht zitternder Stimme. »Da taucht dieser Typ auf und sagt zu mir, dass es an der Zeit ist, in die Vergangenheit zurückzureisen, und plötzlich stehe ich in einer brennenden Hütte. Und einen Augenblick später bin ich in diesem Raum. Was ist passiert? War das alles, was ich tun musste? Kann ich jetzt wieder nach Hause?«

Jonas begriff, dass der Junge eines der anderen verschollenen Kinder der Geschichte sein musste. Er musste damals zusammen mit den anderen in der Höhle im Zeittunnel gewesen sein – wahrscheinlich war das der Grund, warum er ihm so bekannt vorkam.

HK musterte den Jungen.

»Wie heißt du?«, fragte er mit ungewöhnlich sanfter Stimme.

»Äh.« Aus irgendeinem Grund verzog der Junge das Gesicht und sah HK an, als sei das eine äußerst schwierige Frage. »Mein echter Name – jedenfalls betrachte ich ihn immer noch als meinen echten Namen – ist Dalton Sullivan.«

Genau, dachte Jonas. So hatte eins der anderen Kinder in der Höhle geheißen, damals auf der Adoptionskonferenz, wo sie sich alle begegnet waren. Jonas hatte gehört, wie einer der Organisatoren den Namen »Dalton Sullivan« ausrief. Aber er war zu beschäftigt gewesen, um darauf zu achten, wer sich gemeldet hatte.

»Und hat dich jemand über deine ursprüngliche Identität aufgeklärt?«, fragte HK immer noch äußerst behutsam. »Oder in welches Jahr du zurückreisen sollst?«

Aus irgendeinem Grund schien HK regelrecht die Luft anzuhalten.

Der Junge verzog das Gesicht.

»Das Jahr nicht«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Aber ich glaube, eigentlich soll ich jemand sein, der John Hudson heißt.«