Zehn

Mit weit aufgerissenen Augen hielt Jonas erwartungsvoll Ausschau nach dem ersten Anzeichen eines schönen, sicheren und sterilen Zeitlochs oder – noch besser – seines eigenen Elternhauses im einundzwanzigsten Jahrhundert. Doch der trostlose Nebel ringsum veränderte sich nicht, bis auf die Tatsache, dass der Eisbrocken immer näher und näher kam.

HK würde sie nicht retten. Vielleicht konnte er es auch nicht.

»Hisst die Segel!«, schrie Henry Hudson. »Rudert nach Steuerbord!«

Eine Hand schlug Jonas gegen den Kopf.

»Rudern, habe ich gesagt!«, knurrte Henry Hudson.

Es war Katherine, die ihm den Griff des Ruders in die Hand drückte. Jonas sah sich kurz um und bemerkte, dass John King auf der anderen Seite der Schaluppe bereits das Ruderblatt ins Wasser tauchte. Henry Hudson und der Mann, den die anderen Staffe genannt hatten, hissten die Segel.

Dann ist eine Schaluppe also nicht nur ein Ruderboot, dachte Jonas benommen. Man kann damit auch segeln.

Katherine half ihm, das Ruder durchzuziehen und den Rhythmus mit John King abzustimmen. Doch es waren die Segel, die sie wirklich retteten. Sobald der Wind in das erste hineinfuhr, wandte sich die Schaluppe ruckartig nach links und schob sich um Haaresbreite an dem hoch aufragenden Eisbrocken vorbei.

Erleichtert ließ sich Jonas an die Bootswand sinken.

»Ich bin ein vortrefflicher Kapitän!«, schrie Henry Hudson in den Nebel. »Ihr hattet kein Recht, mich vom Schiff zu verbannen!«

In der kurzen Zeit, die es gedauert hatte, dem Eisbrocken auszuweichen, war das große Schiff vollends verschwunden. Henry Hudsons Schreie hallten vom Eis um sie herum wider.

Verbannen

Verbannen 

Wieder erhielt Jonas einen schmerzhaften Schlag aufs Ohr.

Also gut, ich gehe mal davon aus, dass John Hudson und sein lieber alter Herr nicht das beste Verhältnis hatten, dachte er und duckte sich weg.

»Wer ist dieser ›HK‹, nach dem du gerufen hast?«, fragte Henry Hudson misstrauisch. »Ist das ein Deckname? Kann es sein, dass mein eigener Sohn gegen mich intrigiert?«

»Aber nein«, sagte Staffe sanft und hielt die Segel fest. »Euer Sohn wollte nur den Anstand wahren. Sicher bedeutet HK ›Heiliges Kanonenrohr‹; ein ungebührlicher Ausdruck, um den Herrn um Hilfe anzuflehen. Aber fragt Euch selbst: Woher kamen diese Winde? Sein Flehen wurde also erhört!«

Der Wind trieb sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit vom Eis fort.

Misstrauisch sah Henry Hudson zwischen Jonas und Staffe hin und her. Kaum hatte er den Kopf abgewandt, zwinkerte Staffe Jonas zu, um sogleich erneut eine Unschuldsmiene aufzusetzen, sobald sich Hudsons Blick wieder auf ihn richtete.

So läuft der Hase also, dachte Jonas. Kapitän Hudson ist fies zu seinem Sohn – äh, also im Augenblick zu mir – und dieser Staffe beschützt ihn.

Es war nicht die gleiche Art von Schutz wie zusammen mit Katherine von HK aus der Zeit geholt zu werden, aber Jonas war froh, nicht länger geschlagen zu werden.

»Sir?«, sagte John King und übernahm die Segel von Staffe. »Sollen wir Kurs auf das Ufer nehmen, um uns in der Winterhütte einzurichten?«

Das Ufer? Winterhütte? Wovon redet er?, fragte sich Jonas. Er erinnerte sich, dass HK ihnen erzählt hatte, Winter und Frühjahr seien für die Männer von Hudsons Schiff sehr hart gewesen. Offensichtlich hatten sie nicht die ganze Zeit auf dem Schiff zugebracht, sondern ihre Sachen gepackt, um den schwimmenden Eisbrocken und den heulenden Winden zu entkommen und an Land zu kampieren. Jonas starrte auf das Eis, das an der Schaluppe vorbeitrieb, und hielt sich vor Augen, dass es Juni war. Sommer. Doch wenn das hier Juni war, wollte er wirklich nicht wissen, wie es sein musste, hier den Januar und den Februar zu verbringen.

»Die Winterhütte?«, höhnte Hudson. »Zum Henker, Mann, wir sind Seeleute und keine Hasen. Ich jedenfalls nicht. Henry Hudson verkriecht sich nicht in einem Loch, wenn es Schatzrouten zu entdecken gilt, Ruhm und Ehre zu erlangen und Kontinente zu erobern.«

Er ist verrückt, dachte Jonas. Total übergeschnappt. Hat er denn schon vergessen, dass man ihn vom Schiff geworfen hat? Dass wir in einem ruhmreichen Ruderboot hocken? Mitten im Eis? Müsste er sich nicht vor allem darum sorgen, am Leben zu bleiben?

»Aber wenn wir uns zur Hütte begeben, können wir Vorräte für den nächsten Winter anlegen«, sagte Staffe, der John Kings Vorschlag aufgriff. »Im nächsten Frühjahr kommt sicher eine Rettungsexpedition –«

»Henry Hudson wird nicht gerettet!«, donnerte der Kapitän und knallte zornig die Hand gegen die Bootswand. »Henry Hudson kehrt ruhmreich nach Hause zurück, mit einer Schiffsladung voller Schätze aus dem Orient!«

Dem »Orient«?, überlegte Jonas. War das nicht einer dieser superaltmodischen Ausdrücke, die seine Großeltern immer benutzten? Hatte er 1611 die gleiche Bedeutung gehabt wie für seinen Großvater und seine Großmutter?, fragte er sich.

Das konnte nicht sein. So, wie seine Großeltern den Ausdruck verwendeten, waren mit »Orient« China, Japan und andere Länder in Asien gemeint.

Aber im Augenblick sind wir in Kanada, überlegte Jonas. Glaubt Henry Hudson wirklich, dass er mit dieser Schaluppe bis nach China oder Japan segeln kann? Und dann zurück nach England? Jonas hatte nicht allzu viel Ahnung von Geografie, aber das schien ihm doch ein sehr weiter Weg zu sein. Um den halben Globus und wieder zurück. Selbst wenn Hudson das Schiff noch hätte, könnte er nicht so weit reisen! Oder doch?

»Ihr glaubt immer noch an die Nordwestpassage?«, murmelte einer der siechen, sterbenden Matrosen, dessen Stimme klang, als könnten es seine letzten Worte sein. »Selbst jetzt noch?«

Da war der Ausdruck wieder: »Nordwestpassage«. Bruchstücke alter Erinnerungen regten sich in den Tiefen von Jonas’ Gedächtnis. Irgendetwas aus dem Gemeinschaftskundeunterricht im fünften Schuljahr, über das Mrs Rorshas endlos schwadroniert hatte, mit ihrem Talent, auch die spannendsten Themen in pure Langeweile zu verwandeln. Entdecker … China … Schätze … Nach welcher Art von Schätzen hatten sie damals gesucht?

»Von nun an werdet Ihr sie die Hudson Passage nennen«, erklärte Hudson hochmütig, »denn ich werde sie finden.«

Der Mann hat wirklich Selbstvertrauen, das muss man ihm lassen, dachte Jonas. Aber wie will er mit einem Ruderboot etwas entdecken? Noch dazu im Eismeer? Und wie, stellt er sich vor, soll hier irgendjemand überleben?

Wieder wurde es Jonas unter Umhang, Maske und Perücke zu eng. Es fiel ihm immer schwerer, genug kalte Luft in seine Lunge zu saugen.

Die Nordwestpassage, der verrückte Henry Hudson, alle diese Leute, die entweder erfrieren oder verhungern werden – und ich kann nichts dagegen tun, dachte Jonas.

Im Grunde ist alles schon passiert. Es ist getan. HK muss mich und Katherine bloß noch hier rausholen.

Jonas wandte sich ab und tat, als wollte er sich vor dem Wind schützen. Er kauerte sich zusammen und brachte das Gesicht nah an die Tasche, in der er den Definator verstaut hatte.

»HK!«, flüsterte er. »Du könntest uns jetzt wirklich holen kommen! Ich kann auch so tun, als würde ich ins Wasser fallen oder so etwas.«

Aber würde dann jemand versuchen, ihm nachzuspringen und ihn zu retten? Würde Staffe es tun? Oder Henry Hudson selbst?

»Vielleicht sollten wir wirklich zur Winterhütte fahren«, sagte er so laut, dass ihn alle hören konnten. Wenn sie an Land gingen, konnte er sich davonschleichen, ohne jemanden zu gefährden.

Eine Faust fuhr ihm gegen das Kinn und eine Hand drückte ihn rückwärts an die Bootswand. Wäre Katherine nicht an seiner Seite gewesen und hätte ihn festgehalten, dann wäre er umgefallen.

»Du wagst es, meine Autorität infrage zu stellen?«, fauchte Henry Hudson ihn an und baute sich drohend vor ihm auf. »Ich habe gesagt, dass wir uns nicht in die Winterhütte zurückziehen. Wir gehen den Weg der Ehre! Hast du vergessen, wer hier der Kapitän ist?«

Jonas sah Hudson in die Augen. Angesichts der Möglichkeiten, die er nun hatte, beschlich ihn plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Er könnte sagen: Hast du vergessen, dass man dich als Kapitän gerade gefeuert und von deinem eigenen Schiff geworfen hat? Oder: Vielleicht ist es Zeit, dass jemand anderes als Kapitän weitermacht, denn du machst die Sache nicht besonders gut.

Oder er lenkte ein.

Welche Wahl würde ihn davor bewahren, noch einen Faustschlag zu kassieren?

Welche Wahl hätte John Hudson getroffen?

Welches war die richtige Entscheidung?

Normalerweise entschied sich Jonas schnell und aus dem Bauch heraus. Er musste meist nicht eine Sekunde nachdenken. Doch nun schienen die Minuten nur so zu verrinnen, während sich sein Hirn wie gelähmt anfühlte.

Ist das immer so, wenn Leute sich nicht gleich entscheiden können?, fragte er sich. Wird ein Entschluss immer schwieriger, je länger man damit wartet?

Er spürte, dass ihn alle im Boot beobachteten und darauf warteten, was er tun würde. Selbst Katherine, die vor Verwirrung eine Grimasse zog.

Wie? Katherine will mir nicht vorschreiben, was ich tun soll?, dachte Jonas.

Vielleicht zum ersten Mal im Leben wünschte er sich, sie würde es tun.

Irgendwo in der Ferne, am Rand seines Sichtfeldes war etwas. Zuerst hielt er es für ein Überbleibsel der Zeitkrankheit. Für eine Illusion. Doch dann schien ein großer Schatten durch den Nebel auf sie zuzuschweben. War das wieder ein Eisbrocken? Wie konnte ein Eisbrocken so hoch aus dem Wasser ragen?

Jonas kniff die Augen zusammen und sah von links nach rechts. Er vergaß, dass er eine Entscheidung hatte treffen wollen.

Es kann unmöglich das sein, was ich denke, dachte er. Die Richtung ist völlig falsch, oder etwa nicht?

Der Schatten durchbrach den Nebel, der Umriss nahm endlich Gestalt an: drei Masten, geblähte Segel, ein verwitterter Rumpf. Jonas stockte der Atem, er traute seinen Augen nicht.

Die anderen drehten sich um und staunten ebenso wie er.

»Das Schiff! Es kommt zu uns zurück!«, schrie Hudson.