»Was?«, sagte Jonas laut. »Nein!«
Niemand in der Schaluppe warf ihm schräge Blicke zu. Vielleicht war »Was? Nein!« in diesem Moment eine passende Bemerkung. Im Grunde genommen sah überhaupt niemand in seine Richtung. Alle starrten zum anderen Ende des Bootes und auf das durchgeschnittene Ende des Seils.
Jonas begriff, dass er und Katherine genau in dem Moment angekommen waren, als die Schaluppe von der Discovery losgeschnitten wurde.
Wieder eine Reihe möglicher Entscheidungen dahin, dachte Jonas. Ich kann mich nicht am Seil zurück an Deck hangeln, um es mit den Meuterern aufzunehmen.
Der Wind fuhr in die Segel der Discovery und das Schiff trieb davon. Jonas konnte nicht zurück an Bord, es sei denn, er würde ins Wasser springen, sich zwischen den Eisschollen hindurchkämpfen und dabei vermutlich ertrinken oder erfrieren.
Und der Zeitpunkt, an dem wir das letzte Mal HKs Stimme über den Definator gehört haben, liegt auch hinter uns, dachte Jonas, der sich immer noch darüber klar zu werden versuchte, was er tun konnte.
Er spürte eine Hand auf seiner Brust.
»Lass mich deine Hälfte von Wydowses Brief lesen«, zischte Katherine ihm ins Ohr, »solange keiner hersieht.«
Jonas war nicht sicher, ob die Papiere noch da sein würden. Wie lauteten die Gesetze, wenn man Gegenstände rückwärts durch die Zeit transportierte, ja, vielleicht sogar duplizierte? Und was geschah mit diesen Gesetzen, wenn sich die Zeit auflöste? Dann hörte er auf, sich über theoretische Fragen den Kopf zu zerbrechen. Er hatte genug damit zu tun, sich zu überlegen, wie er Katherine davon abhalten konnte, ein zerrissenes Blatt durch die Luft schweben zu lassen.
»Ich schaue mal nach«, erwiderte er flüsternd.
Er fasste in sein Hemd und seine Finger umschlossen die Papiere.
Also gut, wir haben die Aufzeichnungen mitgebracht, dachte er. Das bedeutet …
Er verlor den Faden, weil in diesem Augenblick mehrere Leute hörbar die Luft anhielten. Hatten sie die Papiere gesehen? Hatten sie erkannt, dass es sich, genau genommen, um einen Brief aus der Zukunft handelte, geschrieben von einem Mann, der in weniger als vierundzwanzig Stunden sterben würde?
Nein, sie waren erschrocken, weil sie soeben den riesigen Eisbrocken entdeckt hatten, der direkt auf sie zutrieb. Jener Eisbrocken, von dem Jonas beim letzten Mal befürchtet hatte, dass er die Schaluppe versenken würde.
Jonas schob die Papiere neben sich auf die Bank und hoffte, dass niemand außer Katherine sie sehen würde. Dies war beim letzten Mal der Moment gewesen, in dem er »HK! Hol uns sofort hier raus!« gerufen hatte, fiel ihm ein.
Sollte er das wieder tun? War es etwas, das wiederholt werden musste, oder etwas, das verändert werden sollte?
Er dachte daran, dass sein Ausruf Henry Hudsons Misstrauen geweckt hatte und Staffe für ihn eingetreten war, indem er behauptete Jonas/John Hudson würde in Wirklichkeit beten.
Vielleicht sollte Jonas lieber gleich beten und keinen Anlass schaffen, der Staffe zum Lügen zwang?
»Bitte, Herr!«, schrie Jonas. »Hilf uns!«
Es fühlte sich gut an, das zu schreien.
»Der Herr hilft denen, die sich selber helfen«, rief Staffe ihm von der anderen Seite der Schaluppe zu.
Zur gleichen Zeit rief Hudson: »Hisst die Segel! Rudert nach Steuerbord!«
Jonas erinnerte sich, dass er beim letzten Mal unmittelbar nach Hudsons Ruf einen Schlag gegen den Kopf bekommen und Hudson ihn angeknurrt hatte: »Rudern, habe ich gesagt!«
Diesmal beschloss Jonas, den Schlag zu vermeiden.
Er packte das Ruder. John King, auf der anderen Seite der Schaluppe, legte sich nur einen Wimpernschlag vor ihm in die Riemen. Hudson und Staffe hissten die Segel.
Katherine half Jonas diesmal nicht beim Rudern. Sie hatte den Kopf über die Papiere gebeugt, die verdeckt neben Jonas auf der Bank lagen.
Der Wind fuhr in die Segel und mit einem heftigen Schwenk nach links schob sich die Schaluppe knapp am Eis vorbei.
Jonas hörte auf zu rudern.
»Ich bin ein vortrefflicher Kapitän!«, schrie Henry Hudson in den Nebel. »Ihr hattet kein Recht, mich vom Schiff zu verbannen!«
Wie zuvor verschwand das große Schiff, während sie damit beschäftigt waren, dem Eisbrocken auszuweichen. Und wieder brach sich der Schall von Hudsons Rufen an nichts als Eis. Jonas war sicher, dass niemand auf der Discovery sie hören konnte.
Das war der Moment, in dem ihm Hudson beim letzten Mal eine Ohrfeige verpasste, weil er HK angerufen hatte, fiel ihm ein. Er kauerte sich auf seinem Platz zusammen, bereit, dem Schlag auszuweichen.
Doch nichts geschah. Hudson warf ihm lediglich einen Blick zu, während ein verwunderter Ausdruck über sein Gesicht wanderte.
»War das alles ein Trick? Eine Lüge oder Schabernack?«, fragte er Jonas so leise, dass ihn kaum jemand in der Schaluppe gehört haben konnte. »Hast du mit den innigsten Hoffnungen deines Vaters gespielt?«
Okay, das war neu. Was meinte er damit?
»D-Das würde ich nie tun«, widersprach Jonas. »Ich unterstütze deine innigsten Hoffnungen. Wenn sie machbar sind.«
Der echte John Hudson würde doch sicher etwas Ähnliches gesagt haben?
Einen Moment lang war Jonas überzeugt, dass Hudson ihn tatsächlich schlagen würde. Wie um ihn zu verteidigen, schob sich Staffe näher heran.
Aber Hudson zog sich, immer noch mit zusammengekniffenen Augen, zurück.
»Die Karte«, murmelte er verwirrt. »Die Karte muss echt sein.«
»Äh, ja, bestimmt«, sagte Jonas.
Katherine zupfte ihn am Ärmel.
»Es ist Folgendes passiert«, zischte sie ihm ins Ohr. »Wydowse schreibt, dass John Hudson letzte Nacht verschwunden ist – jedenfalls vermute ich, dass damit letzte Nacht gemeint ist. Er hat seinem Vater eine Nachricht und eine Karte hinterlassen, auf der die Nordwestpassage zu sehen sein soll. Gezeichnet hat sie dieser frühere Entdecker, der verschwunden ist, John Cabot. Angeblich hat John Hudson geschrieben, dass er mit ein paar Ureinwohnern in Kajaks vorausfährt und seinen Vater in der Nordwestpassage treffen will.«
Kein Wunder, dass Henry Hudson so verwirrt und überrumpelt ausgesehen hat, als ich mitten in der Meuterei als John Hudson aufgetaucht bin, dachte Jonas. Und es wundert mich auch nicht, dass er sich vor meinem Auftauchen Hoffnungen gemacht hat, obwohl er mitten in einer Meuterei steckte. Er ging davon aus, dass er ein Stück weiter auf seinen Sohn und eine Gruppe freundlich gesinnter Ureinwohner treffen würde.
Jonas versuchte zu enträtseln, was sich wirklich abgespielt hatte. Der echte John Hudson musste verschwunden sein, als Gary und Hodge ihn aus der Zeit entführten, um ihn in der Zukunft als Adoptivkind zu verkaufen. Er würde keine Zeit gehabt haben, eine Nachricht zu hinterlassen, und er hätte auch nichts von einer Karte gewusst. Offensichtlich hatte Zwei sie im Laufe der Nacht an Bord geschmuggelt, damit sie seinen eigenen Zwecken diente.
Und jetzt erwartete er, dass Jonas und Katherine das Gleiche taten.
Jonas merkte, dass ihm, während Katherine geredet hatte, das Gespräch zwischen Hudson, Staffe und King entgangen war.
»Hä«, sagte er fragend.
»Ich sagte, deine Gebete wurden erhört«, erwiderte Staffe.
»Fürs Erste«, meinte King düster und starrte in den Nebel. »Wir haben immer noch nichts zu essen und unser Schiff ist verloren … Sollen wir Kurs auf das Ufer nehmen, um uns in der Winterhütte einzurichten?«
Das hat er auch beim letzten Mal gefragt, dachte Jonas. Wir sind wieder bei diesem Gespräch. Und als Nächstes sagt Hudson …
»Die Winterhütte? Zum Henker, Mann, wir sind Seeleute und keine Hasen. Ich jedenfalls nicht. Henry Hudson verkriecht sich nicht in einem Loch, wenn es Schatzrouten zu entdecken gilt, Ruhm und Ehre zu erlangen und Kontinente zu erobern.«
Jonas’ Hoffnung schwand. Es schien, als sei alles Wichtige unvermeidbar, als könnte sich Zeit nur wiederholen. Wie sollten er und Katherine Veränderungen herbeiführen, um irgendjemanden oder irgendetwas zu retten? Wenn weder HK noch Zwei ihnen gesagt hatte, was sie tun sollten?
Vielleicht müssen wir es einfach mehrmals versuchen, überlegte Jonas. Wenn wir immer wieder zum gleichen Moment zurückkehren, finden wir vielleicht irgendwann heraus, wie wir ihn reparieren können.
Die Schaluppe schlingerte verdächtig und sprang dabei förmlich aus dem Wasser. Jonas dachte daran, dass er nur deshalb diese Momente in der Schaluppe ein weiteres Mal erleben konnte, weil die Zeit in Auflösung begriffen war.
Er und Katherine konnten sich nicht darauf verlassen, mehrere Chancen zu bekommen. Er war sich nicht einmal sicher, dass sie jetzt eine Chance hatten.
»Wir müssen irgendwas tun!«, zischte ihm Katherine ins Ohr. »Ich glaube nicht, dass wir noch viel Zeit haben.«
Jonas drehte sich um und schaute seine Schwester aufgebracht an.
»Sehr hilfreich«, erwiderte er flüsternd, ohne die Lippen zu bewegen.
Inzwischen versuchte Staffe, Hudson umzustimmen.
»Aber wenn wir uns zur Hütte begeben, können wir Vorräte für den nächsten Winter anlegen«, sagte er, indem er John Kings Vorschlag aufgriff. »Im nächsten Frühjahr kommt sicher eine Rettungsexpedition –«
»Henry Hudson wird nicht gerettet!«, donnerte der Kapitän und schlug zornig mit der Hand gegen die Bootswand, genauso fest wie beim letzten Mal. »Henry Hudson kehrt ruhmreich nach Hause zurück, mit einer Schiffsladung voller Schätze aus dem Orient!«
»Ihr glaubt immer noch an die Nordwestpassage?«, murmelte einer der siechen, sterbenden Matrosen. »Selbst jetzt noch?«
Der Seemann, der die Frage gestellt hatte, war Wydowse, erkannte Jonas. Wydowse, der am Ende des Tages den Brief schreiben würde, den Katherine, versteckt hinter Jonas’ Rücken, in der Hand hielt.
Wydowse, der bald tot sein würde.
»Von nun an werdet Ihr sie die Hudson Passage nennen«, erklärte Hudson hochmütig, »denn ich werde sie finden.«
Als Jonas ihn diese Worte das letzte Mal hatte sagen hören, hatte er immer noch gehofft, dass HK ihn retten würde, und verzweifelt in den Definator geflüstert, der in seiner Tasche steckte.
Jetzt wusste er, dass es zwecklos war.
Jetzt hängt alles von Katherine und mir ab, dachte er. Das ist eines der wenigen Dinge, über die sich HK und Zwei noch einig sind.
Die Schaluppe schaukelte unstet, das gleichmäßige Auf und Ab der Wellen wurde ruckartig und unvorhersehbar. War es möglich, dass man das Zusammenbrechen der Zeit tatsächlich spürte? In der Ferne konnte Jonas einen Schatten im Nebel erkennen – das von Zwei manipulierte Schiff, das aus einer völlig falschen Richtung zu ihnen zurückkam.
Wenn wir auf das Schiff zurückkehren, sind wir in diesem Schicksal gefangen, ging es Jonas durch den Kopf. Dann hat Zwei wieder alles unter Kontrolle, gibt sich als Prickett aus und führt uns ans Ende der Zeit. Und – Jonas sah zu Wydowse hinüber, der bereits unter seinen Umhang fasste, um den Kompass herauszuholen – und Zwei wird Wydowse ein weiteres Mal umbringen.
Es war seltsam, sich im Angesicht einer weltweiten Katastrophe, ja der völligen Zerstörung, auf den Tod eines kranken alten Mannes zu konzentrieren. Aber der Gedanke, dass die Welt mit Mann und Maus untergehen sollte, war zu groß für Jonas. Er lähmte ihn. Einen Mann, einen einzelnen Mann zu retten, damit konnte er umgehen.
Es war genau wie beim letzten Mal, als Jonas sich nur auf Andrea konzentrieren konnte. Nur war diese natürlich schön und Jonas mehr oder weniger in sie verliebt gewesen.
Wydowse sah scheußlich aus.
Er wird sowieso sterben, dachte Jonas. Man muss ihn doch nur ansehen.
Wydowse hatte eingefallene Wangen, Blutergüsse um den Mund und seine Zähne hatten kaum noch Halt im Zahnfleisch. Aber Jonas hatte gerade einen ganzen Tag mit ähnlich krank aussehenden Männern verbracht, die dennoch in der Lage gewesen waren, Segel zu setzen und einzuholen, in der Takelage herumzuklettern und ein komplettes Schiff durch ein Minenfeld aus Eis zu steuern. Vielleicht war Wydowse dem Tod gar nicht so nah, wie es den Anschein hatte.
Zwei hat jedes Mal das Thema gewechselt, wenn wir Wydowses Tod angesprochen haben, erinnerte sich Jonas. Es war … wie bei einem Zauberer, der sein Publikum ablenken will: Schaut her! Seht euch die Blume an, die ich mir gerade aus dem Ärmel gezogen habe! Und achtet nicht auf den toten Vogel, den ich gerade wieder in meinen Hut stopfe.
Jonas ließ Wydowse nicht aus den Augen. Er wusste weder, was HK sich vorgestellt hatte, wie er und Katherine das Jahr 1611 reparieren sollten, noch wusste er, wie sie Andrea, Brendan, Antonio und HK aus dem Jahr 1600 retten oder Zweis Meinung nach die Zeit vor dem Zusammenbruch bewahren sollten.
Doch er wusste, wie er verhindern konnte, dass Wydowse ermordet wurde. Er musste Wydowse und Zwei einfach auseinanderhalten.
War es nicht zumindest ein Anfang, zu wissen, wie man eine Sache in Ordnung bringen konnte?
»Vielleicht …«, Jonas brach ab und räusperte sich. »Vielleicht haben Staffe und King recht. Vielleicht sollten wir wirklich zur Winterhütte fahren.«
Zu spät fiel ihm ein, dass er beim letzten Mal mehr oder weniger das Gleiche gesagt hatte. Aber das war aus eigennützigen Gründen geschehen, nicht, um jemandem zu helfen.
Erst als ihn die Faust traf, fiel ihm ein, dass Hudson ihn für diese Worte geschlagen hatte.
Hudson benutzte die andere Hand, um Jonas mit dem Rücken gegen die Bootswand zu drücken.
»Du wagst es, meine Autorität infrage zu stellen?«, fauchte er, genau wie er es schon einmal getan hatte. »Ich habe gesagt, dass wir uns nicht in die Winterhütte zurückziehen. Wir gehen den Weg der Ehre! Hast du vergessen, wer hier der Kapitän ist?«
Jonas spürte Katherine neben sich, die ihn mehr oder weniger auf den Beinen hielt.
»Du tust das für Wydowse, nicht wahr?«, flüsterte sie ihm ins Ohr und es ermutigte ihn, dass sie seine Gedanken teilte.
Jonas sah Hudson fest in die Augen. Er erinnerte sich daran, wie er sich beim letzten Mal gefühlt, wie viele Möglichkeiten er vor sich gesehen hatte. Und dann waren ihm alle diese Möglichkeiten genommen worden, weil das Schiff aus der falschen Richtung wieder aufgetaucht und ihnen wie eine Erlösung, wie ihre Rettung erschienen war. Doch das war es nicht gewesen – und das würde es auch diesmal nicht sein. Mit dem als Abacuk Prickett verkleideten Zwei am Ruder konnte sie das Schiff nur in die Katastrophe führen.
Zum ersten Mal fragte sich Jonas, was aus dem echten Abacuk Prickett geworden war. Hatte Zwei ihn mit den Meuterern auf dem Eis ausgesetzt?
Jonas konnte sich gut vorstellen, dass dieser ohne jeden Skrupel so verfuhr.
Natürlich behauptet er, dass er den Verlauf der Geschichte zum Besseren wenden will, dachte Jonas. Er erfüllt Henry Hudson seinen innigsten Wunsch. Er schenkt der Welt eine echte Nordwestpassage. Und er rettet allen Insassen der Schaluppe das Leben.
Aber woher wollte Jonas wissen, dass sie nicht ohnehin gerettet werden würden? Und was, wenn John Hudson derjenige war, der sie retten sollte?
»Vater«, sagte Jonas und sah Henry Hudson unentwegt in die Augen. »Du bist nicht mehr der Kapitän.«
Er hatte schon einmal erwogen, so etwas Ähnliches zu sagen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte er nichts über Hudson gewusst, daher hätten seine Worte schroff und gemein geklungen.
Diesmal hörte er sich an, als bedaure er seinen vermeintlichen Vater, als täte es ihm aufrichtig leid, ihn zu beleidigen.
Der Griff, mit dem Hudson Jonas’ Umhang umklammerte, lockerte sich.
»Du … auch?«, murmelte er. »Selbst mein eigener Sohn …?«
»Ich weiß, dass du die Nordwestpassage finden willst«, sagte Jonas besänftigend. »Es ist ein wunderbarer Traum. Aber … er ist nicht das Leben deiner Mannschaft wert. Du musst zuerst an deine Männer denken. Willst du, dass ihr Blut an deinen Händen klebt?«
Hudson starrte ihn an. Jonas konnte sich denken, dass Kapitäne zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts normalerweise nicht allzu viele Gedanken an das Leben ihrer Besatzung verschwendeten. Er merkte, dass seine Worte nicht unbedingt das waren, was er Hudson hatte sagen wollen. Sie waren eher an Zwei gerichtet. Auch Zwei hatte hochfliegende Pläne gehabt und alles Erdenkliche getan, um sie zu verwirklichen: Er hatte das Jahr 1600 verändert, die Discovery auf eine unmögliche Route geschickt und einen Fluss gegraben, den es nie geben sollte. Aber für ihn war das alles ein Spiel. Zwei waren die Menschen egal, auf die sich seine Veränderungen auswirkten; er benahm sich, als spiele er lediglich mit Puppen.
Jonas sah zu Staffe und King auf.
»Tun Sie, was Sie für richtig halten«, sagte er. »Setzen Sie die Segel, damit wir ans Ufer kommen.«
Beide wirkten bestürzt, doch sie folgten ihm aufs Wort.
Plötzlich überkam Jonas ein höchst eigenartiges Gefühl. Auf fast allen seinen Reisen durch die Zeit hatte er eine Phase erlebt, in der es sich anfühlte, als würde sein Körper sich in einzelne Zellen, ja sogar in einzelne Atome auflösen. Diesmal hätte Jonas schwören können, dass er spürte, wie sich seine einzelnen Protonen, Elektronen und Neutronen auflösten und auseinandergerissen wurden. Auseinandergerissen und dann noch einmal in mehrere Stücke zerfetzt.
»Mir ist … so absonderlich«, stöhnte Hudson neben ihm.
Der alte Mann sackte auf die Bank, landete zum Glück aber direkt hinter Katherine, die ihm nicht schnell genug hätte ausweichen können.
»All meine Träume sind zerstört«, murmelte Hudson und vergrub das Gesicht in den Händen. »Dahin, alles dahin.«
»Verändert«, sagte Jonas behutsam. »Vielleicht auch nur aufgeschoben.«
Doch er hörte seine eigenen Worte nur verzerrt. Er war sich nicht sicher, ob es ihm wirklich gelungen war, sie laut auszusprechen.
Jonas begriff, dass auch alle anderen das Gefühl haben mussten, zerrissen zu werden – womöglich war es für sie sogar noch schlimmer als für ihn selbst. Staffe und King sanken auf den Boden der Schaluppe. Wydowse und die anderen kranken Besatzungsmitglieder krümmten sich vor Schmerzen. Dann machte sich bei Jonas ein neues Symptom bemerkbar: eine Art Doppelsichtigkeit. Er sah sämtliche Bootsinsassen in zwei Versionen: zwei Katherines, die beide durchsichtig und verängstigt wirkten; zwei Hudsons, der eine geschlagen, der andere trotzig-herausfordernd; zwei Staffes, einer zusammengekauert am Boden, der andere aufrecht am Mast; zwei Wydowses, von denen der eine den Kopf in den Händen hielt und der andere verwirrt auf einen Kompass starrte.
Kompass.
Jonas begriff, dass er zwei Versionen der Zeit auf einmal sah: den derzeitigen Verlauf und das, was sich abgespielt hatte, als er und Katherine sich das letzte Mal in der Schaluppe befunden hatten. Doch das hier war nicht so, als sehe man den echten Verlauf und daneben die Marker, mit ihrem schwachen, überirdischen Leuchten. Alle Versionen einer Person wirkten gleich sichtbar, gleich fassbar und gleich real.
Jetzt entdeckte Jonas sogar eine zweite Version seiner selbst, bekleidet mit John Hudsons Umhang, der Maske und der Perücke, die sein echtes Gesicht und Haar vollkommen verbargen. Sein anderes Selbst starrte mit offenem Mund bestürzt auf …
… das Schiff. Sein anderes Selbst starrte auf die Discovery, die, von Zwei entführt und umgeleitet, erneut zurückkam.
Alle Vorsicht außer Acht lassend, packte Jonas Katherine am Arm.
»Wir können überhaupt nichts verändern!«, flüsterte er ihr eindringlich ins Ohr. »Die anderen werden das Schiff jeden Augenblick entdecken und dann sind wir wieder da, wo wir angefangen haben!«
»Nein!«, flüsterte Katherine ebenso eindringlich zurück. »Ich glaube nicht, dass die jetzige Version der Mannschaft das Schiff sehen kann! Sieh doch! John King schaut genau in die Richtung.«
Tatsächlich sahen beide John Kings dem Schiff entgegen: Der eine reckte die Faust in die Luft, als sei er gerade vom vermeintlich sicheren Tod errettet worden. Der andere wand sich auf dem Boden vor Schmerzen, sein Blick war unstet und blind, auch wenn er tatsächlich direkt auf das Schiff gerichtet war.
»Glaubst du, das ist wieder so ein Fall, wo Zeitreisende etwas sehen können, was andere nicht können?«, fragte Jonas leise. »Was ist das? Noch so eine Zeitverschiebung wie die, mit der Zwei das Jahr 1600 vermurkst hat?«
»Ich glaube nicht, dass sich die Zeit verschoben hat«, flüsterte Katherine zurück. »Ich glaube, sie hat sich aufgesplittet. Siehst du, dass sich keine der beiden Versionen auflöst?«
Das stimmte. Selbst als die beiden Versionen der Schaluppe und ihrer Insassen auseinanderdrifteten – die eine in Richtung Discovery, die andere in Richtung Land –, blieb jede von ihnen real und sichtbar.
Hinter sich hörte Jonas die Männer in der anderen Schaluppe »Hussa! Hussa! Hussa!« rufen, während sie auf die Discovery zutrieben.
Er hörte den anderen Henry Hudson in der Schaluppe selbstbewusst prahlen: »Das war alles geplant. Ich wusste, dass es so kommt.« Niemand von denen, die jetzt bei Jonas in der Schaluppe saßen, schien irgendetwas davon mitzubekommen. Die Männer krümmten sich noch immer vor Schmerzen und kauerten sich wie geschlagen zusammen.
»Vielleicht sind wir diejenigen, die verblassen«, murmelte Jonas. »Vielleicht war das Zweis Plan. Wir reparieren die Zeit, indem wir – keine Ahnung, wie wir es gemacht haben –, und dann lösen wir uns auf.«
»Nein«, flüsterte Katherine aufgeregt. »Nein, uns geschieht nichts. Es wird alles gut gehen.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragte Jonas und schüttelte empört den Kopf.
»Weil«, sagte Katherine und quiekte fast dabei, »weil ich Marker sehe.«