»Jonas!«, flüsterte Katherine, die in die gleiche Richtung sah. »Für uns drei ist im Krähennest nicht genug Platz!«
»Kannst du nicht runterklettern, bevor er hier ankommt?«, fragte Jonas. »Ohne mit ihm zusammenzu-«
Er brach ab, denn die Frage erübrigte sich. Die Wanten, die zum Krähennest hinaufführten, waren im Grunde genommen nicht mehr als eine schmale Strickleiter.
Jonas sah wieder nach unten. Prickett kam immer näher.
»Klettere auf meinen Rücken«, befahl er seiner Schwester. »Beeil dich.«
Katherine verzog das Gesicht, doch dann schob sie hastig die Papiere zurück unter das Segeltuch, um die Hände frei zu haben. Sie legte Jonas die Arme um den Hals und wollte die Knie anheben.
»Meinst du huckepack?«, fragte sie. »Oder soll ich auf deine Schultern klettern? Damit ich ganz aus dem Weg bin?«
Jonas stellte sich vor, wie er mit Katherine auf den Schultern hoch oben im Krähennest stand und das Schiff unter ihnen schwankte. Wenn es auf eine besonders heftige Welle traf oder einer von ihnen auch nur für einen Moment das Gleichgewicht verlor, würde Katherine dann nicht vollends hintenüberkippen, aus dem Krähennest fallen und Jonas mit sich ziehen?
»Nur auf den Rücken«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Katherine tat, was er sagte. Jonas schlang die Arme um ihre Knie und kreuzte die Hände vor dem Bauch. Er hoffte, dass es nicht zu unnatürlich aussah. Dann trat er zurück und versuchte, im Krähennest so wenig Platz einzunehmen wie nur möglich.
»Bleib so«, flüsterte Katherine.
Jonas begriff, dass sie in prekärer Haltung auf dem Geländer hockte. Das funktionierte, aber nur, solange sie sich an ihm festhalten konnte.
Auf der anderen Seite des Krähennests tauchte Pricketts verwittertes Gesicht auf.
»Tritt beiseite, Junge«, sagte er gereizt. »Mach Platz für deinen Vorgesetzten.«
Jonas trat zurück, sodass Katherine noch ein Stück weiter über den Rand des Krähennests geschoben wurde. Sie klammerte sich fester an Jonas’ Hals und keuchte leise.
»Was war das? Hast du etwas gesagt?«, fragte Prickett, während er in den Ausguck kletterte. Anders als Katherine und Jonas, die mehr oder weniger auf dem Bauch gelandet waren und sich dann umgedreht hatten, bewegte sich Prickett sicher und mühelos. Er stieg mit einer Leichtigkeit in den Mastkorb, als sei er lediglich in ein Zimmer getreten.
»N-nein, Sir«, stotterte Jonas. »Wollen Sie das Land und die Passage sehen?«
Er stützte sich und Katherine am Geländer ab und hob den Arm, um Prickett die Richtung zu weisen. Dabei verzog sich sein Umhang auf seltsame Weise, weil er an Katherines Armen hängen blieb. Hastig zog Jonas ihn wieder zurecht.
Prickett hat es nicht bemerkt, tröstete er sich. Er hat sicher schon zum Land hinübergesehen.
»Es gibt die Passage also wirklich«, murmelte Prickett. »So, wie es dein Vater immer geglaubt hat.«
Prickett spreizte die Hände weit auseinander, packte das Geländer und machte sich im Krähennest breit. Auch ohne Katherine, die auf seinem Rücken über dem Rand balancierte, hätte Jonas sich in dem winzigen Ausguck beengt gefühlt.
»Und im Norden, Süden und Osten ist kein Land zu sehen?«, fragte Prickett und wandte sich schnell um.
Katherine hockte in südlicher Richtung auf dem Geländer. Ungeduldig schob sich Prickett in diese Richtung an Jonas vorbei.
»Geh beiseite, Junge«, befahl er.
Seine Hand war nur wenige Zentimeter von Katherines Knie entfernt.
Jonas packte ihre Beine mit beiden Händen und schob sie nach rechts in die Wanten. Dann ließ er eine Hand los und deutete hinter seinem Rücken nach unten.
Das ist nicht der richtige Augenblick, um sich dumm zu stellen, Katherine, dachte er. Oder für Angst oder Langsamkeit. Mach, dass du hier rauskommst! Klettere runter!
Er spürte, wie Katherine seine Schultern losließ.
»Ah ja, genau wie ich es mir gedacht habe«, sagte Prickett und trat von hier nach dort, während er zuerst nach Süden schaute, dann nach Norden und nach Osten. »Nichts zu sehen, außer im Westen. Nun, das genügt mir. Ich werde wieder nach unten klettern. Lass mich passieren.«
Jonas erstarrte. Er war sich ziemlich sicher, dass »Lass mich passieren« nichts anderes hieß als »Geh mir aus dem Weg«. Aber Katherine war gerade erst losgeklettert. Sie hatte noch nicht einmal seinen Umhang losgelassen, als Prickett schon »Lass mich« sagte. Wenn dieser jetzt hinabstieg, würde er direkt mit ihr zusammenprallen.
Und sie womöglich sogar aus den Wanten stoßen.
»Äh, Sir!«, sagte Jonas und richtete sich auf. Dann zeigte er in die entgegengesetzte Richtung.
»Sehen Sie nur, dort drüben! Haben Sie – äh, ich meine, sehen Sie – die, äh …«
Ganz zu Anfang dieses ganzen Zeitreisedurcheinanders, noch ehe Jonas irgendeine Ahnung davon hatte, was vor sich ging, hatte er einen FBI-Agenten mit der alten »Sehen-Sie-mal-da-drüben-was-ist-denn-das«-Masche hereingelegt. Er hatte einen vermeintlichen Flugzeugabsturz und einen Feuerball erfunden – also jede Menge Fantasie bewiesen. Aber was, um alles auf der Welt, sollte er hier zu sehen vortäuschen, wo es nichts gab als grauen Himmel, graues Meer und grauen Nebel? Land vielleicht? Sie waren sich bereits einig, dass nur im Westen Land zu sehen war. Also irgendein Tier? Gab es hier draußen vielleicht Wale? Oder Eisbären? Und hätte man sie 1611 überhaupt »Eisbären« genannt?
Jonas entschied sich für ein klägliches: »Ist das ein Fisch?«
»Ein Fisch?«, wiederholte Prickett. »Ein einzelner Fisch? Willst du mir weismachen, dass du aus dieser Höhe einen einzelnen Fisch im Wasser erkennen kannst?«
»Ich meine Fische. Ein ganzer Schwarm«, verbesserte sich Jonas hastig. Er überlegte blitzschnell. »Sollten wir nicht auf Fischfang gehen? Um mehr Vorräte zu beschaffen?«
Wütend und misstrauisch sah Prickett ihn an. Dann packte er Jonas an den Schultern und schob ihn beiseite.
»Mach Platz! Ich werde deine Unverschämtheit dem Master melden!«, drohte er. »Einen Vorgesetzten zu verspotten. Schande über dich!«
»Aber nein! Ich habe Sie nicht verspottet!«, beteuerte Jonas und sprang zurück, um Prickett abermals den Weg zu versperren. »Ich … ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitgeteilt! Wie es meine Pflicht war als Ausguck!«
Pricketts Blick wurde noch schärfer. Dann schlug er Jonas vor die Brust und schob ihn beiseite.
»Ich werde das alles dem Master melden«, sagte er und begann über die Wanten abzuentern.
Wo war Katherine?
Prickett versperrte mit seinem Körper die Sicht auf sie. Jonas wusste, dass seine Schwester noch nicht weit gekommen sein konnte. Kletterte sie wirklich so schnell wie möglich? Konnte sie das Deck erreichen, ehe Prickett mit ihr zusammenstieß?
Prickett packte eine Webleine, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als in der Takelage herumzuklettern. Was wahrscheinlich zutraf. Er machte sogar hin und wieder eine Pause, um nach unten zu schauen – und schien dennoch einen schier unschlagbaren Geschwindigkeitsrekord aufzustellen.
Dann drehte er sich einen Moment zur Seite, vielleicht um einen letzten Blick auf das Land zu werfen. Direkt unter ihm sah Jonas etwas leuchten – Katherine. Ihre Hände befanden sich nur eine Sprosse unter Pricketts Füßen. Sie sah nach oben und dann hastig nach unten. Jonas konnte förmlich sehen, wie sie überlegte: Das ist zu hoch, um runterzuspringen. Ich würde mir das Bein brechen.
Als Prickett auf die nächste Sprosse trat, schwang Katherine aus dem Weg und hielt sich mit einer Hand seitlich fest. Die Füße baumelten in der Luft.
Spürt Prickett denn nicht, dass rechts Zug auf den Leinen ist?, fragte sich Jonas.
Er schien es zu spüren, denn er hielt kurz inne und wandte den Kopf genau in Katherines Richtung. Er griff sogar nach der Webleine neben sich, sodass Katherine nur mit knapper Not die Hände fortziehen konnte.
Autsch!, dachte Jonas. Das hat bestimmt mächtig gebrannt!
Prickett schien auf etwas zu warten.
Katherine verzog das Gesicht zu einer Grimasse und Jonas begann sich langsam zu wundern, wie viel Kraft sie im Oberkörper hatte.
Hat sie im Sportunterricht schon mit Gewichten trainiert?, fragte er sich. Es hilft zwar nicht wirklich, aber …
Plötzlich wurde ihm klar, dass Katherine das Gesicht nicht vor Schmerzen verzog. Sie war wütend auf Prickett. Und dann streckte sie ihm in einer blitzschnellen Bewegung die Zunge heraus.
Prickett kletterte weiter und machte Katherine Platz. Diese stellte die Füße wieder auf die Webleinen und wartete darauf, dass er verschwand.
Sie hatten nach wie vor nichts von HK gehört, immer noch keine Marker gesehen und die »Passage«, die sie erspäht hatten, schien nur einmal mehr zu beweisen, dass die Zeit unwiderruflich aus dem Lot war. Im Vergleich dazu war es keine große Sache, dass es ihnen gelungen war, die Begegnung mit Prickett zu überleben.
Trotzdem hätte Jonas am liebsten gejubelt.
Prickett erreichte das Deck und stolzierte davon, um mit Henry Hudson zu reden. Kurz darauf legte Hudson den Kopf in den Nacken und brüllte zum Krähennest hinauf:
»John Hudson! Melde dich auf der Stelle an Deck!«
Jonas verging das Jubeln.