Sechzehn

»Prickett hat es auf dich abgesehen«, sagte Katherine.

Jonas schob den Mopp vor und wieder zurück.

»Darauf wäre ich auch von allein gekommen«, sagte er. »Dabei bin ich nicht mal unsichtbar und kann nicht durch die Gegend laufen und ungesehen mit anhören, worüber die Leute reden.«

Die schmutzigen Fransen geflochtener Stoffreste, aus denen der Mopp bestand, verfingen sich an einer rauen Stelle im Holz und Jonas musste sich bücken, um sie zu lösen. Er hätte schwören können, dass er spürte, wie ihn jemand beobachtete, doch als er sich wieder aufrichtete, war niemand da außer ihm und Katherine. Die Schiffsoberen, Hudson, Prickett und King, hatten sich zum Essen in die Kapitänskajüte zurückgezogen; der Rest der Mannschaft war unter Deck verschwunden. Es war ein wenig wärmer geworden, sodass das Wischwasser, das Jonas verteilte, nicht sofort zu Eis gefror, aber dennoch kein schöner Tag, um im Freien zu Mittag zu essen.

Oder um die Hände immer wieder in einen Eimer mit kaltem Wasser zu tauchen, dachte Jonas verdrossen.

Es war nicht fair, dass er wischen musste, während Katherine einfach dastehen und zusehen konnte.

Er schnitt seiner Schwester eine Grimasse und verdrehte zusätzlich die Augen.

»Okay, du Genie, wenn du schon so schlau bist, dann verrate mir mal, warum Prickett es auf dich abgesehen hat?«, sagte Katherine. »Darauf komme ich nämlich nicht. Ich habe gehört, wie er Hudson erzählt hat, was du im Krähennest angestellt hast. Er hat es so aussehen lassen, als hättest du ihn mehr oder weniger angespuckt, ihn provoziert und geflucht wie … na ja, wie ein Seemann eben.«

»Dieser Lügner!«, sagte John. Er packte den Wischmopp fester und knallte ihn unnötig heftig auf das Deck.

»Du hast ewig gebraucht, um runterzukommen«, sagte Katherine. »Prickett hatte genug Zeit, um John King zu sagen, dass seiner Meinung nach besser Nicholas Symmes zum ersten Schiffsjungen ernannt werden sollte. Und dem Kerl, der so unheimlich aussieht, hat er erzählt, du hättest eine Angelrute verloren. Dabei hast du überhaupt keine Angelrute angefasst, stimmt’s?«

»Ich nicht«, sagte Jonas. »Aber der echte John Hudson vielleicht, bevor er verschwunden ist.«

Jonas drückte fester auf den Mopp. Solange er sich auf die kleinen Dinge konzentrierte, ging es: wischen, den Eimer weiterschieben, Katherine anfauchen. Aber wenn er zuließ, dass seine Gedanken einen breiteren Blickwinkel einnahmen, wurden ihm wieder die Knie weich und die Panik kehrte zurück.

Was immer der echte John Hudson getan hat, bevor ich hierherkam, wird Auswirkungen auf mich haben, überlegte er. Genau wie das, was dazu geführt hat, dass die Discovery zur Schaluppe zurückgekehrt ist, statt uns ins Nichts davontreiben zu lassen … Und was immer Zwei 1611 bewirken wollte, als er das Jahr 1600 verändert hat … Und was HK zugestoßen ist, sodass er sich nicht einmal mehr über den Definator mit uns verständigen kann … Ach, ich habe keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat!

Wieder blieb der Mopp am rauen Holz hängen und Jonas bückte sich. Das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, überkam ihn erneut. Er wirbelte herum, doch es war nur Katherine, die dastand und beängstigend durchsichtig wirkte.

Jonas gab sich Mühe, sie möglichst nicht anzusehen, denn es gefiel ihm nicht, sie so gläsern zu sehen.

»Es ist wirklich unheimlich, dass du aussiehst und klingst wie jemand anderes«, murmelte Katherine.

Super! Sie waren sich gegenseitig unheimlich.

»Ich gehe und horche an der Tür des Kapitäns. Mal sehen, ob ich mitkriege, was Prickett, Hudson und King so reden«, sagte Katherine. »Und danach sehe ich mich um, ob irgendwo noch andere Botschaften versteckt sind. Vielleicht hat der Briefeschreiber aus dem Krähennest ja eine Botschaft hinterlassen, die erklärt, warum Prickett John Hudson hasst.«

»Vielleicht«, murmelte Jonas. Sein Magen knurrte und er fügte hinzu: »Wenn du schon dabei bist, kannst du auch gleich Ausschau halten, ob irgendwo auf dem Schiff eine schöne Peperoni-Pizza herumliegt, okay?«

Katherine knuffte ihn in den Arm. Wenigstens das fühlte sich normal an.

»Wahrscheinlich kann ich von Glück sagen, wenn ich ein paar Brotkrümel finde, die nicht schimmelig sind«, murmelte sie im Weggehen. »Und die sie nicht gezählt haben und vermissen werden.«

Wie konnten der Discovery nur derartig die Vorräte ausgehen?, fragte sich Jonas.

Es war ein dummer Gedanke, nur weil er daran gewöhnt war, dass ihm zu Hause jederzeit etwas zu essen zur Verfügung stand. Er sah zum grauen Horizont. Natürlich musste Nahrung hier Mangelware sein. Es war viel zu kalt, als dass an Land irgendetwas in nennenswertem Umfang wachsen könnte. Und vermutlich auch zu kalt, um viel aus dem Meer zu holen. Wenn sie England im April 1610 verlassen hatten, war das vierzehn Monate her. Wie hätten sie für über vierzehn Monate Vorräte mitführen sollen?

Und was sollte aus ihm und Katherine werden, wenn alle anderen verhungerten?

Jonas widmete sich mit aller Kraft dem Schrubben des Decks, weil es ihm erlaubte, gegen seine Sorgen anzukämpfen.

»Psst«, rief jemand hinter ihm.

Jonas drehte sich um. Es war Staffe, der ein Tablett zur Kajüte des Kapitäns trug. Im Vorbeigehen drückte er Jonas etwas in die Hand.

»Käse«, sagte er. »Damit du nicht leer ausgehst.«

Der Klumpen in Jonas’ Hand fühlte sich steinhart an. Wenn er da hineinbiss, würde er sich vermutlich einen Zahn abbrechen. Dennoch war er sicher, dass Staffe damit viel aufs Spiel setzte.

»Nein, danke«, sagte Jonas und schob Staffe den Käse wieder zu. »Essen Sie ihn. Ich … ich ertrage meine Strafe wie ein Mann.«

Das klang doch wie etwas, das man 1611 sagen würde, oder?

Staffe starrte ihn an. Der Mann hatte erstaunlich blaue Augen, die aus seinem zerklüfteten und narbenübersäten Gesicht herausstachen.

»Dieses Schiff wird vom falschen Hudson kommandiert«, flüsterte er. Dann sah er sich nervös um, als fürchte er, dass ihn jemand belauscht haben könnte. Doch nicht einmal Katherine war in Hörweite, sondern am anderen Ende des Decks, wo sie das Ohr an die Tür von Hudsons Kajüte gelegt hatte.

Der falsche Hudson … grübelte Jonas. Was ging zwischen John Hudson und seinem Vater vor? Waren viele Leute der Ansicht, John hätte eine Meuterei anführen sollen? War das der Grund, warum sie fehlgeschlagen war? Nein, nicht wenn John Hudson eigentlich in der Schaluppe hätte landen sollen.

Allmählich bekam er Kopfschmerzen von der vielen Grübelei. Staffe wandte sich ab, um zu gehen.

»Nein, warten Sie«, sagte Jonas verzweifelt. »Ich muss Sie etwas fragen …«

Aber was konnte er fragen, das der echte John Hudson nicht schon gewusst hätte? Warum hasst Prickett mich? Nein. Warum verstehen wir beide uns so gut? Nein. Welche Aufgaben habe ich als Schiffsjunge noch, außer ins Krähennest hochzusteigen und das Deck zu schrubben? Nein.

Dann wusste er, was er fragen konnte.

Er wühlte in seiner Tasche und zog die Zeichnung von Andrea heraus. Er widerstand der Versuchung, sie minutenlang zu betrachten, ehe er sie Staffe zeigte.

»Sehen Sie nur«, sagte er. »Das habe ich gefunden. Sehen Sie – da steht, das Mädchen hätte sich einem Indianerstamm angeschlossen. Was glauben Sie, um welchen Stamm es sich handelt?«

Jonas fand, dass er da in kürzester Zeit einen ziemlich schlauen Plan ersonnen hatte. Was immer Staffe darauf antwortete, Jonas würde ihn auf jeden Fall bitten, es aufzuschreiben. Und dann konnte sich Jonas seine Handschrift ansehen und feststellen, ob es die gleiche war wie in den Aufzeichnungen, die er im Krähennest gefunden hatte. Wenigstens ein Rätsel, das er vielleicht lösen konnte.

Aber Staffe riss ihm das Blatt aus der Hand und verbarg es.

»Hast du das aus einem Buch deines Vaters herausgerissen?«, fragte er und klang so entsetzt, als habe er gerade herausgefunden, dass Jonas einen Mord begangen hatte.

»Nein!«, widersprach Jonas automatisch. »Na ja … irgendwie schon. Aber nicht mit Absicht! Es war Zufall!«

Das stimmte. In den ersten Sekunden nach seiner Ankunft im Jahr 1611 hatte er sich etwas aus dem Gesicht wischen müssen. Er hatte Papier reißen hören und gemerkt, dass er diese Seite aus einem Buch herausgerissen hatte. Es war der erste Hinweis, dass Andrea und seine anderen Freunde das Jahr 1600 überlebt und dass ihr Tun die Zeit verändert hatte.

Im ursprünglichen Verlauf der Geschichte hätte es dieses Bild nie gegeben.

»Deinem Vater sind seine Bücher heilig!«, murmelte Staffe und sah sich verzweifelt um, als suche er nach einem Ort, an dem er den Beweis von Jonas’ Tun verstecken konnte.

Jonas kam nicht ganz mit. Er und Katherine waren während der ersten Minuten auf dem Schiff völlig benommen und weggetreten gewesen und hatten dann postwendend auf die Meuterei reagieren müssen. Was war eigentlich mit dem Rest des Buches geschehen?

Und wie würde Henry Hudson reagieren, wenn er herausfand, dass Jonas diese Seite herausgerissen hatte?

Staffe benahm sich, als ändere das alles, als könne sogar Jonas’ Leben in Gefahr sein.

Jonas streckte die Hand aus, weil ihm nicht gefiel, wie Staffe das Blatt zerknitterte.

»Dann erzählen Sie bitte niemandem davon, okay?«, sagte er, auch wenn er ziemlich sicher war, dass 1611 niemand das Wort »okay« benutzte. »Es ist bloß, dieses Mädchen …«

Ein Anflug von Verständnis zeigte sich auf Staffes Gesicht.

»Das Mädchen«, sagte er fast sanft. »Natürlich. Uns allen fehlt der Anblick weiblicher Wesen, und für einen jungen Burschen wie dich …«

Jonas’ Finger berührten das Blatt, doch Staffe zog es fort und Jonas kam nicht mehr heran.

»Wenn ich es dir wiedergebe, wird man dich damit ertappen«, sagte er. »Gewiss vergisst du dich und holst es heraus, wenn andere zugegen sind, nur um es betrachten …«

»Nein, das tue ich nicht«, beteuerte Jonas.

Staffe schüttelte den Kopf. Obwohl er hohle Wangen, zahllose Narben und einen langen, schütteren Bart hatte, der im Wind flatterte – also keinerlei Ähnlichkeit mit Jonas’ glatt rasiertem, narbenlosem und leicht übergewichtigem Vater aufwies –, hatte Jonas einen Moment das Gefühl, wieder zu Hause zu sein und darauf zu warten, dass sein Vater ihm einmal mehr erklärte: »Du bist noch ein Junge, Jonas. Ein guter Junge, und es gibt viele Entscheidungen, die deine Mutter und ich dir überlassen. Aber diese hier gehört nicht dazu.«

Mit drei Schritten ging Staffe zur Reling. Und dann, ehe Jonas ihn davon abhalten konnte, ließ er Andreas Bild ins Wasser segeln.