Land kam in Sicht. Unter erneutem Einsatz der Ruder steuerten die Männer die Schaluppe zu einer behelfsmäßigen Anlegestelle mitten in einem Sumpfgelände. Jenseits des flachen, buschigen Terrains sah Jonas einen knappen Kilometer entfernt die Spitze eines Daches.
»Die Hütte steht noch«, sagte Staffe mit einer winzigen Spur Erleichterung in der Stimme.
»Staffe, Ihr müsst vorausgehen und alles tun, um sie wieder wetterfest zu machen«, sagte Hudson. »King, Ihr bringt die Lahmen zur Hütte. Ich sorge dafür, dass die Schaluppe an einen sicheren Platz gebracht wird, ehe dieser Sturm hier ist.«
Er wies mit dem Kopf auf dunkle Wolken am Horizont. Dann sah er Jonas an.
Was denn?, lag es diesem auf der Zunge, zu sagen. War das der Vater-Sohn-Showdown, der Kampf um die Macht? Was hätte der echte John Hudson getan?
Jonas wünschte, er könnte sich kurz von John Hudsons Marker lösen, um diesem ins Gesicht zu sehen. Doch dafür war keine Zeit.
Wenn ich Henry Hudson herausfordere und erkläre, dass mir das Kommando zusteht, du lieber Himmel, welche Anweisungen soll ich den Leuten denn geben?, fragte er sich.
»Und ich, Vater?«, sagte er daher schnell. »Welche Aufgabe gibst du mir?«
Ein Ausdruck der Erleichterung zeigte sich auf Henry Hudsons Gesicht. Da darunter kein zweites, wütendes Markergesicht zum Vorschein kam, nahm Jonas an, dass auch der echte John Hudson sich in diesem Augenblick der Autorität seines Vaters gebeugt hatte.
Sekundenlang dachte er, Henry Hudson könnte so etwas sagen wie: Danke. Vielen Dank, mein Sohn, dass du mir meine Würde zurückgegeben hast. Er spürte, dass alle im Boot das Vater-Sohn-Drama verfolgten.
Doch Hudson sagte lediglich: »Du machst dich auf die Jagd nach etwas Essbarem.«
»Bring ein bisschen Löffelkraut mit, wenn es geht«, murmelte Wydowse.
Jonas hatte keine Ahnung, was Löffelkraut war, aber er war einigermaßen erleichtert, dass er bei der Jagd nach etwas Essbarem keinen Tieren nachstellen sollte.
Dann sagte einer der anderen Seeleute mit einem halben Stöhnen: »Fleisch.«
»Wild, wie wir letzten Winter welches entdeckt haben«, flüsterte ein anderer.
»Vögel«, sagte wieder ein anderer Mann.
»Bärenfleisch«, ergänzte ein weiterer.
Anscheinend erwarteten sie doch, dass er Tieren nachstellte. Ob es sich wohl seltsam anhören würde, wenn Jonas fragte: »Und was soll ich Ihrer Meinung nach als Waffe benutzen?« Oder erwarteten sie von ihm, dass er diese Tiere mit bloßen Händen erlegte?
»Nimm eines meiner Messer«, sagte Staffe und öffnete die hölzerne Werkzeugkiste, die er vom Schiff mitgenommen hatte. Er drückte Jonas den Griff eines grob gefertigten Messers in die Hand. Die Klinge sah rostig und stumpf aus, aber sie war besser als nichts, nahm Jonas an.
»Such dir einen Stock zum Verlängern, dann kannst du es als Speer benutzen«, riet ihm King.
Jonas nickte benommen und stieg aus der Schaluppe, weil er sah, dass John Hudsons Marker das Gleiche tat.
»Endlich sind wir sie alle los!«, machte Katherine sich neben ihm Luft, sobald sie sich ein paar Schritte von der Schaluppe entfernt hatten. »Rufe HK über den Definator!«
Jonas sah sie an und blinzelte. Warum hatte er daran nicht selbst gedacht?
Weil … HK uns vermutlich schon kontaktiert hätte, wenn er es könnte?, überlegte er.
Jonas verschränkte die Arme vor der Brust. Er spürte, wie der Definator unter dem Umhang sich ihm durch das Hemd in die Haut bohrte.
Das kann ich Katherine nicht sagen, dachte er. Ich sollte ihr die Hoffnung nicht nehmen.
»Lass mich. Ich muss mich darauf konzentrieren, mit John Hudsons Marker Schritt zu halten«, sagte er zu ihr.
Katherine runzelte die Stirn. Jonas rechnete fast damit, dass sie sich den Definator schnappen und selbst hineinrufen würde: HK! HK, hallo? Bist du da? Doch sie musterte ihn nur kurz mit schmalen Augen und machte ihm dann Platz, damit er an die gleiche Stelle treten konnte wie John Hudsons Marker.
Vielleicht hatte sie im Augenblick selbst nicht viel Hoffnung.
Darum kümmern wir uns später, dachte Jonas. Er hatte es schon immer besonders gut verstanden, Dinge, mit denen er sich nicht beschäftigen wollte, auf die lange Bank zu schieben. Das war einer der Gründe, warum er sich noch nie nach seiner wahren Identität als verschollenes Kind der Geschichte erkundigt hatte.
Wenn Katherine und ich hier, im Jahr 1611, sterben, werde ich nie erfahren, wer ich wirklich bin, ging ihm durch den Kopf.
Irgendwie störte ihn das nicht besonders. Vielleicht machte ihm aber auch der erste Teil des Satzes mehr zu schaffen: Wenn Katherine und ich hier, im Jahr 1611, sterben …
An der Seite von John Hudsons Marker entfernten sich John und Katherine immer weiter von der Schaluppe und den Männern, die als langsamer und stockender Treck zur Hütte aufbrachen. Sie hätten sich jetzt gefahrlos laut miteinander unterhalten können, um herauszufinden, was genau draußen auf dem Wasser passiert war, und um die Optionen für ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Doch Katherine blieb stumm und Jonas ebenso.
Vielleicht ist es einfach zu beängstigend, darüber zu reden, was das alles zu bedeuten hat und was unserer Meinung nach als Nächstes geschehen wird?, überlegte Jonas.
Er hatte sich so eigenartig gefühlt in jenem Moment, als sich alles verdoppelte und teilte. Sein Verstand scheute sich, auch nur daran zu denken, genauso wie er vor ähnlichen Merkwürdigkeiten zurückgescheut war, die Zwei im Jahr 1600 inszeniert hatte. Es war leichter, sich nur darauf zu konzentrieren, weiterzugehen, sich im gleichen Tempo zu bewegen und umzuschauen wie John Hudsons Marker.
Der Boden unter seinen Füßen wurde allmählich fester. Plötzlich blieb dem Marker der Mund offen stehen und er rannte auf ein Büschel niedriger Pflanzen mit kleinen weißen Blüten und löffelförmigen Blättern zu. Mit seinem stumpfen Messer begann er die Pflanzen abzuhacken.
»Meinst du, das ist Löffelkraut?«, fragte Katherine.
Der Marker steckte sich ein Blatt in den Mund, also folgten sie und Jonas seinem Beispiel. Katherine spuckte ihres schnell wieder aus.
»Ich glaube nicht, dass sie das Zeug wegen des guten Geschmacks haben wollen«, murmelte sie.
Jonas versuchte ebenso viel davon abzuschneiden wie der Marker. Dieser stopfte sich das Löffelkraut in die Kapuze seines Umhangs und Jonas tat es ihm nach.
Er ging davon aus, dass der Marker sich beim Weitergehen einen Stock suchen würde, aus dem er einen Speer fertigen konnte, wie John King ihm geraten hatte. Und kurz darauf wurde ihm klar, dass dies eines der Dinge war, nach denen der Marker Ausschau hielt, während er sich umsah. Doch auf dem Boden lagen keine Stöcke herum. Die nächsten Bäume waren meilenweit entfernt, nicht mehr als Flecken am Horizont und ebenso dunkel und bedrohlich wie die Wolken.
»Was hast du gesagt, wie man die Ureinwohner in dieser Gegend nennt?«, fragte Jonas seine Schwester. Das war wenigstens ein unverfängliches Thema.
»Äh, Inuit?«, antwortete Katherine.
»Wenn sie in dieser Gegend überleben können, ist es immerhin möglich, nicht?«, fragte Jonas.
»Siehst du hier welche losstürmen, um ihre neuen Nachbarn zu begrüßen?«, fragte Katherine zurück. »Siehst du irgendwelche Anzeichen dafür, dass hier jemand lebt?«
Also gut, vielleicht war es doch kein so unverfängliches Thema. Vielleicht konnten Menschen weiter unten überleben, in der Nähe des falschen Flusses, den Zwei geschaffen hatte oder schaffen würde oder wie immer sich Jonas diese andere Zeit vorstellen musste. Doch das bedeutete nicht, dass hier oben jemand längere Zeit überleben konnte.
Vor allem wenn es sich um einen Haufen englischer Seeleute handelte, die weder Essen noch andere Vorräte besaßen und mit der Gegend nicht vertraut waren.
Und wie steht es mit zwei Kindern aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert?, fragte sich Jonas.
Dann hatte er keine Zeit mehr, über solche unangenehmen Themen nachzudenken, denn John Hudsons Marker blieb wie angewurzelt stehen, das blanke Entsetzen im Gesicht.
»Was hat er denn?«, flüsterte Katherine. Sie drehte sich um und sah in die gleiche Richtung. »Oh. O nein …«
Auch Jonas sah hin. Zuerst dachte er, das Land um sie herum sei doch nicht so flach, wie er ursprünglich angenommen hatte. Direkt vor ihnen erhob sich ein kleiner, dunkler Hügel.
Aber der »Hügel« bewegte sich.
Es war gar kein Hügel.
Es war ein Bär.