Eins

»Wir wussten nicht, was wir da taten«, flüsterte eine Stimme an Jonas’ Ohr.

Dieser gab sich alle Mühe, ihr zu lauschen. Er und seine jüngere Schwester Katherine waren gerade durch die Zeit gereist, aus einer fremden Epoche in eine andere. Allmählich wurde er zu einem erfahrenen Zeitreisenden – einem dreizehnjährigen Experten, könnte man sogar sagen. Und er hatte gelernt, dass man nach der Landung an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit damit rechnen musste, alles ein wenig verschwommen wahrzunehmen. Im Kopf.

Mit den Augen.

Und mit den Ohren.

Und tatsächlich … was Jonas anging, mochten er und Katherine kurz davor stehen, auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder von einer durchgehenden Pferdeherde, die vor einem Gefecht floh, zertrampelt zu werden. Er würde nichts davon sehen, hören oder bemerken, ehe es zu spät war.

Im Moment war alles möglich.

Nein, nein, ermahnte sich Jonas. Das hier ist Geschichte. Alle wissen, welchen Verlauf sie nehmen soll. HK hätte uns nicht hierhergeschickt, wenn wir dadurch sofort in Gefahr geraten würden.

HK war der eigentliche Zeitreise-Experte. Es hatte zwar eine Weile gedauert, aber inzwischen vertraute ihm Jonas. Das Problem war eher, dass er keine allzu hohe Meinung von der Vergangenheit hatte. Zweimal waren er und Katherine bereits mit anderen Kindern in der Zeit zurückgereist. Man hatte sie losgeschickt, um die Geschichte wieder ins Lot zu bringen und gefährdete Kinder zu retten. Jedes Mal war ihre Mission ein wenig aus dem Ruder gelaufen … und sie waren in Gefahr geraten.

Jonas wäre fast ertrunken.

Katherine fast in einer Schlacht ums Leben gekommen.

Und ihre Freunde fast ermordet worden.

Lauter Beinah-Katastrophen, dachte Jonas. Das, was diese beiden Worte beinhalteten, wenn man sie zusammenfügte, war mehr, als Jonas’ Verstand im Moment verkraften konnte.

Und wie soll es jetzt weitergehen?, fragte er sich. Ich habe keine Ahnung, was … 1611 passiert ist. Er war stolz darauf, sich wenigstens daran erinnern zu können, in welches Jahr man sie geschickt hatte. Doch dem Stolz folgte ein Schaudern. Und wenn es das Jahr ist, in dem uns das Schicksal einholt?

Das Wort »Schicksal« saß ihm wie ein Stachel im Kopf. Es war einfach zu viel für Jonas im Moment. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, um endlich wieder scharf zu sehen. Vor ein paar Minuten war es ihm gelungen, ein Blatt Papier zu entziffern, das er sich dicht vor die Augen gehalten hatte. Doch jenseits dieser Entfernung war alles grauer Nebel. Alles, was er hören konnte, war ein gedämpftes Klopfen in der Ferne. Unter sich spürte er einen kalten, harten Boden – Holz möglicherweise? Nasses Holz? Aber warum sollte er auf nassen Holzplanken liegen?

»Jonas? Katherine?«, meldete sich die Stimme wieder, die so verzerrt und blechern klang, dass Jonas sie kaum verstehen konnte. Er war sich nicht sicher, ob es an seinen Ohren lag oder an der Tatsache, dass die Person aus einer anderen Zeit zu ihnen sprach. »Wir haben es versucht. Wirklich versucht.«

»HK?«, stöhnte Jonas.

»Wer denn sonst?«, erwiderte die Stimme.

»Na, Zwei … vielleicht«, sagte irgendwo in der Nähe Jonas’ Schwester Katherine kläglich. »Er hat auf dem Weg hierher mit uns geredet.«

»Zwei hat wieder mit euch geredet?«, fragte HK, offensichtlich beunruhigt. »O nein.«

Es hatte eine Zeit gegeben – nun ja, eine Zeit, die weit in der Zukunft lag –, da war Zwei sein engster Mitarbeiter gewesen. Zusammen hatten sich HK und Zwei dafür eingesetzt, die Geschichte wieder in ihren richtigen Verlauf zu bringen, nachdem sie von gewissenlosen Zeitreisenden aus dem Lot gebracht worden war.

Dann hatte Zwei beschlossen, eigenmächtig die Vergangenheit zu verändern.

Er hatte Jonas’ und Katherines Unterfangen sabotiert, ihre Freundin Andrea in das Jahr 1600 zurückzubringen und ihr zu ihrer ursprünglichen Identität als Virginia Dare zu verhelfen, dem ersten englischen Kind, das in Nordamerika zur Welt gekommen war.

Mit einem riskanten Komplott hatte Zwei die Zeit von ihrem vorgesehenen Verlauf abbringen wollen – um sie zu verbessern, wie er sagte. Er hatte Andrea, Jonas und Katherine, aber auch ihre neuen Freunde, Brendan und Antonio, manipuliert. Und ihr Leben aufs Spiel gesetzt.

Und er hatte alles erreicht, was er sich in den Kopf gesetzt hatte.

Doch nun drohte die Zeit – und die Geschichte – unwiderruflichen Schaden zu nehmen, wenn es Jonas und Katherine nicht gelang, das Jahr 1611 stabil zu halten.

Immer mit der Ruhe, sagte sich Jonas. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Die Vorstellung, ausgehend vom Jahr 1611 die Zeit, die Geschichte und die Menschheit selbst retten zu müssen, war einfach zu viel. Jonas fasste seine Gedanken ein wenig enger und konzentrierte sich auf eine einzige Person:

Andrea.

Zwei hat es versprochen, dachte er. Er hat versprochen, dass wir Andrea retten können, wenn wir 1611 in Ordnung bringen 

Eigentlich war es ein Pauschalpaket. Zwei hatte versprochen, dass Jonas und Katherine auch Brendan, Antonio und HK retten durften, die allesamt in der Vergangenheit festsaßen. Und natürlich wünschte Jonas alle seine Freunde in Sicherheit. Aber Andrea lag ihm am meisten am Herzen: Andrea mit den sanften grauen Augen, dem glänzenden braunen Haar und der unerschütterlichen Hoffnung, dass 

Katherine boxte Jonas gegen den Arm.

»Hör auf, von Andrea zu träumen«, sagte sie. »Dafür haben wir keine Zeit.«

Mist, woher weiß sie das?, fragte sich Jonas. Er verkniff es sich, ein weiteres Mal Andreas Porträt auf dem Blatt zu betrachten, das er in der Hand hielt.

»Ich hab doch gar nicht –«, wollte er abstreiten, doch Katherine fiel ihm ins Wort.

»Klar, hast du«, sagte sie. »Du guckst schon wieder wie ein liebeskranker Dackel.«

»Du meinst, so wie du, wenn Chip in der Nähe ist?«, erwiderte Jonas. Er versuchte, sich eine noch bessere Retourkutsche auszudenken, als ihm etwas anderes auffiel. Mit zitternden Armen richtete er sich ein wenig auf und wandte seiner Schwester den Kopf zu. »Du kannst schon mein Gesicht sehen?«, fragte er. »So schnell steckst du die Zeitkrankheit weg?«

Er kniff die Augen zusammen, konnte Katherine aber nur als bunte Kleckse im Nebel ausmachen. War dieses gelbe Etwas ihr Haar? Dieses Pink ihr T-Shirt? Und das Blaue ihre Jeans?

Sie wirkten irgendwie verkehrt, all diese leuchtenden Farben im graubraunen Dunst.

Wir gehören nicht hierher, dachte Jonas schaudernd. Katherine nicht. Und ich auch nicht.

Was es noch schwieriger machen würde, 1611 zu reparieren.

»Ich –«, begann Katherine, verstummte aber, weil HK sich wieder zu Wort meldete.

»Ich sehe, wir haben sogar noch mehr Fehler gemacht, als ich dachte«, erklärte er.

Jetzt konnte Jonas feststellen, woher HKs Stimme kam: aus einem kleinen Metallkästchen, das zwischen ihm und Katherine gelandet war. Es sah aus wie ein antikes, ja was?, fragte sich Jonas. Ein Windlicht? Ein Scheffel?

Es spielte keine Rolle. Jonas wusste, dass das Kästchen alles andere als antik und sein Erscheinungsbild nur vorgetäuscht war. Wenn es HKs Stimme übertrug, handelte es sich in Wirklichkeit um einen Definator, ein Gerät aus der Zukunft, das sein Aussehen an jede beliebige Epoche anpassen konnte. In Jonas’ eigenem Zeitalter, dem frühen einundzwanzigsten Jahrhundert, hatte es wie ein ganz normales Handy ausgesehen.

Dass es im Augenblick so primitiv wirkte, bedeutete vermutlich, dass der Stand der Technik im Jahr 1611 sehr zu wünschen übrig ließ. Trotzdem war Jonas froh, überhaupt einen Definator zu haben.

Auf ihrer Reise ins Jahr 1600 hatte Zwei dafür gesorgt, dass sie ihn verloren. Sie waren von allem abgeschnitten gewesen.

Und schutzlos.

Jonas konnte sich gerade noch zurückhalten, den Definator zu packen und an sich zu drücken wie ein kleines Kind seine Schmusedecke. Doch er unterbrach HK, um zu fragen: »Sollten wir den Definator nicht lieber gleich so einstellen, dass er uns unsichtbar macht?«

Unsichtbarkeit war eine der besten Apps des Definators.

»Äh … nein«, erwiderte HK nervös. »Noch nicht.«

Das war merkwürdig. Normalerweise konnte HK sie nicht oft genug ermahnen, vorsichtig zu sein, kein Risiko einzugehen, sich zu verstecken.

»Hört zu«, sagte er jetzt. »Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir haben richtig Mist gebaut.«

»Das wissen wir«, sagte Katherine. »Wir haben gesehen, was 1600 passiert ist.«

Wieder überlief es Jonas, er zitterte förmlich. Auch das war merkwürdig. Er konnte sich nicht erinnern, dass Zittern bisher ein Symptom der Zeitkrankheit gewesen wäre.

»Das meine ich nicht«, sagte HK. »Es geht um unsere Annahmen über die Zeit selbst – viele davon waren falsch. Ihr müsst verstehen … das Zeitreisen steckte damals noch in den Kinderschuhen. Wir waren genauso planlos wie die frühen europäischen Reisenden zur Zeit der großen Entdeckungen und Eroberungen. Sie hatten die verrücktesten Vorstellungen … Wusstet ihr, dass sie glaubten, am Nordpol wäre es im Sommer genauso heiß wie am Äquator, weil die Sonne dann kontinuierlich scheint?«

»Und dann ist jemand hingefahren, hat die Eisberge gesehen und sich gedacht, dass sie wohl danebenliegen«, warf Katherine ungeduldig ein. »Genau wie ihr in der Zeit zurückgereist seid und festgestellt habt, wie es funktioniert und –«

»Nein.« HKs Stimme klang plötzlich hart und fast wütend. »So schnell haben wir es nicht herausgefunden. Reisen durch die Zeit sind mit Geografie nicht zu vergleichen. Es gibt so viele Komplikationen. So viele zusätzliche Variable. Dinge, die erst zutage treten, wenn man Fehler über Fehler gemacht hat.«

Jonas stellte fest, dass seine Sehkraft besser wurde. Er konnte jetzt mehr als nur den Definator, mehr als Katherine erkennen. Hinter ihr glitzerte eine dünne Eisschicht auf einem verwitterten Holzboden und einer Ansammlung ebenso verwittert aussehender Holzfässer. Und dahinter – Jonas kniff die Augen zusammen – lag Nebel.

Also kann ich immer noch nicht alles sehen, dachte er und schnaubte, weil die Salzluft in seiner Nase brannte. Moment, das ist echter Nebel! Deshalb kann ich nichts sehen!

Er schwankte nur leicht, als er sich ganz aufrichtete. Jetzt konnte er erkennen, dass der Holzboden in eine Art hölzerne Wand überging. Doch die Wand ragte nur etwas über einen Meter in die Höhe. Darüber sah Jonas in den grauen, nebligen Himmel – und auf ein kompliziertes Seilgeflecht, das zu einem Wust aus schmuddeligem weißen Tuch hinaufführte.

Segel, dachte Jonas. Takelage. Wir sind auf einem Schiff.

Auch das Tauwerk glitzerte eisig. Eiszapfen hingen an den Seiten des Schiffes.

Jetzt begriff Jonas, warum er nicht aufhören konnte zu zittern: Er war nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet und hier war es bitterkalt. Die Welt um sie herum sah aus wie eine Gegend, in der es niemals taute.

Jonas stockte der Atem.

»Schickst du uns etwa zum Nordpol?«, fragte er.