Dreizehn

»Vielleicht hat HK eine Möglichkeit gefunden, uns handgeschriebene Botschaften zu hinterlassen, weil er mit dem Definator nicht durchkommt«, sagte Katherine hoffnungsvoll. Sie griff nach den Papieren, um sie sich ebenfalls anzusehen. Doch plötzlich wurde ihr Gesicht ernst. »Oder … Zwei steckt wieder dahinter.«

Zwei hatte ihnen schon früher handgeschriebene Botschaften hinterlassen, damals im Jahr 1600. Seine Nachrichten waren immer kurz gewesen – und manipulativ.

Diese Botschaft hingegen war lang und in altmodischer Handschrift verfasst.

»Ich glaube nicht, dass Zwei sich die Mühe machen würde, seine Botschaft so aussehen zu lassen, als käme sie aus dem Jahr 1611«, sagte Jonas. »Bisher hat er immer, wenn er mit uns Kontakt aufgenommen hat, dafür gesorgt, dass wir wussten, wer dahintersteckt. Ich glaube … ich glaube, das hier hat jemand geschrieben, der sich noch an Bord befindet.«

Er überflog die restlichen Zeilen, so schnell er konnte:

 

Die Umstände sind schwierig und bedrückend, seyd wir London am 1. April Anno Domini 1610 verlassen haben. Die Männer sind zänkisch, sie streiten sich, um Mäntel, um Brot, und jede noch so kleine Winzigkeit … Der Master ist wie ein Halm im Wind, er bevorzugt mal den einen, dann den anderen, er entscheidet nichts und verdrießt alle. Ich glaube, er hat Geheimnisse, die er uns nicht preisgeben will. Und doch könnten diese Geheimnisse unser aller Tod seyn.

Ich habe viele Gründe, um mein Leben zu fürchten, denn ich liege schwerkrank darnieder und hege wenig Hoffnung, die Gefilde meiner geliebten Heimat jemals wiederzusehen. Doch ich fürchte den Tod nicht. Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden. Womit ich mich nicht abfinden mag, ist die Befürchtung, dass allein jene von dieser Fahrt berichten werden, die ihre Ziele verraten. Auf der Discoverie herrschen Lug und Trug. Feiglinge tragen sich mit dem Gedanken an Meuterei. Und ich fürchte, die bösen Absichten werden schon bald Wirklichkeit werden 

 

»Ach, das dreht sich bloß um die Meuterei, die schon stattgefunden hat«, sagte Jonas enttäuscht und ließ die Blätter sinken. »Das hilft uns überhaupt nicht weiter.«

»Vielleicht erfahren wir, was die Meuterei ausgelöst hat«, sagte Katherine. »Den Hintergrund. Damit wir sehen können, wo die Zeit aus den Fugen geraten ist. Wie lautet der Spruch, den sie uns in Gemeinschaftskunde immer wieder eintrichtern? Irgendetwas darüber, dass, wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, dazu verdammt ist, sie zu wiederholen?«

»Das ist aber nicht der Grund, warum wir im Jahr 1611 festsitzen«, sagte Jonas abwehrend.

Aber wenn es nun doch so war? Wenn HK sich mehr darum hätte kümmern müssen, was mit Henry Hudson und seiner Meuterei geschah? Hätte er dann womöglich bemerkt, dass Zwei sich gegen ihn auflehnen würde?

»Hier«, sagte Jonas. »Wenn du die Papiere für so wichtig hältst, dann lies du sie.« Er drückte Katherine die Blätter in die Hand und sah sich um. »Ich halte nach Eisbergen Ausschau.«

In Wirklichkeit wollte er lieber die Zeichnung von Andrea aus der Tasche holen und sie ansehen. Aber das konnte er nicht, wenn Katherine dabei war. Er war überzeugt, das Bild in seiner Tasche spüren zu können. Mit jedem Rascheln schien es ihm zu sagen: Hier geht es nicht nur um dich und Katherine, HK, Zwei und die Zeit. Auch Andreas Leben hängt davon ab, dass du 1611 in Ordnung bringst.

Aber woher sollte er wissen, wie er dabei vorgehen sollte? Es gab nicht einmal mehr Marker, die ihm zeigen konnten, wie der ursprüngliche Verlauf der Ereignisse gewesen wäre.

»Komisch. Dieser Typ verrät an keiner Stelle, wie er heißt, sagt aber, dass er überall auf dem Schiff Briefe verstecken will, damit die wahre Geschichte der Discovery auch dann ans Licht kommt, wenn alle Guten umkommen«, berichtete ihm Katherine, während sie die Seiten überflog. »Warum sagt er nicht, wie er heißt, damit die Leute wissen, dass sie ihm vertrauen können?«

»So komisch ist das gar nicht«, wandte Jonas ein. »Meinst du nicht, die Meuterer hätten ihn umgebracht, wenn sie das Zeug, das er versteckt hat, gefunden hätten?«

»Das haben sie sowieso versucht«, erwiderte Katherine. »Glaubst du nicht, dass er wahrscheinlich unter den kranken Männern bei uns in der Schaluppe war?«

Jonas versuchte sich zu erinnern, ob einige von ihnen vielleicht besonders geheimnisvoll gewirkt hatten, so, als könnten sie geheime Aufzeichnungen zurückgelassen haben.

Aber sie hatten alle einfach nur ausgesehen, als würden sie bald sterben.

»Was ist ›Perfidie‹?«, fragte Katherine, die immer noch mit Lesen beschäftigt war.

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Jonas irritiert.

»Es muss irgendwas Schlechtes sein«, vermutete Katherine. »Der Typ sagt, das Schiff wäre voll davon. Ja, hier steht es wieder, so ähnlich jedenfalls. Er nennt seine Schiffskameraden ›perfide Kretins‹ – das kann auf keinen Fall etwas Gutes bedeuten.«

Wie konnte Katherine in einem solchen Moment über Vokabeln nachdenken? Unruhig verlagerte Jonas sein Gewicht auf der knarrenden Holzplattform.

Denk einfach daran, dass du der Ausgucker bist, und halte nach Gefahren Ausschau. Aber wie sollte er heraufziehende Gefahren erkennen, wenn um sie herum alles grau in grau war?

»Junge!«, schrie jemand von unten. »Ist im Westen Land in Sicht?«

Das musste ihm gelten.

»Äh, äh …«, rief Jonas zurück. »Ich schaue noch!«

Er musste zuerst herausfinden, in welcher Richtung Westen lag. Ein wenig Hilfe leistete ihm dabei Prickett, denn offensichtlich war er derjenige gewesen, der gerufen hatte, und stand nun unten an Deck und zeigte in die Richtung. Jonas spähte in die Ferne. Waren diese dunklen, verschwommenen Umrisse Land?

»Äh, ja!«, rief er hinunter. »Ich meine, aye! Ich glaube schon!« Er sah noch genauer hin. »Aber es ist … in der Mitte durchbrochen. Im Nordwesten … ist eine Lücke!«

»Eine Lücke?«, rief Prickett zurück. »Kann das eine Passage sein? Das muss es doch sein!«

»Sieh mal, Jonas«, flüsterte Katherine und hielt ihm die Blätter hin.

»Pst! Ich muss zuhören«, flüsterte Jonas zurück.

Doch unten hatte sich Prickett bereits abgewandt. Er klopfte Henry Hudson auf den Rücken und schüttelte ihm die Hand.

»Hm«, murmelte Jonas. »Sieht aus, als wären sie jetzt dicke Freunde. »Dabei bin ich derjenige, der die Lücke – äh, die Passage – gesehen hat.«

»Jonas, lies das«, insistierte Katherine und hielt ihm das Blatt direkt vor die Nase, sodass er nicht darum herumkam. Sie zeigte auf drei Sätze ganz unten auf dem Blatt:

 

Von allen windigen Halunken auf diesem Schiff ist Abacuk Prickett der schlimmste. Glaubt ihm kein Wort und wendet ihm den Rücken nur dann zu, wenn Ihr wollt, dass man Euch ein Messer hineinrammt. Fürchtet ihn mehr als alles andere.

 

Jonas sah wieder aufs Deck. Henry Hudson stand immer noch da und blickte nach Nordwesten. Von Abacuk Prickett war nichts mehr zu sehen.

Die Taue rund um das Krähennest strafften sich, als würden sie plötzlich belastet. Verwundert beugte sich Jonas vor und suchte die Takelage ab.

Und da war Prickett, auf halbem Weg in den Wanten.

Der »windigste« Halunke des ganzen Schiffes war nicht verschwunden. Er kletterte direkt auf sie zu.