Dreiunddreißig

Mit wackligen Knien lehnte sich Jonas wieder an die Wand des Krähennests. Er brauchte etwas, das ihm Halt gab.

So schlimm kann es nicht sein, dachte er.

Eines der Dinge, die sie im Jahr 1600 über Zwei gelernt hatten, war die Tatsache, dass er, selbst wenn er die Wahrheit sagte, manchmal wichtige Einzelheiten wegließ. Was enthielt er ihnen vor? Und wie konnten sie ihn dazu bringen, alles preiszugeben?

Katherine versuchte es auf die direkte Art.

»Warum sollen wir Ihnen glauben?«, fragte sie. »Das wäre nicht mal logisch. Ich meine, wie kann es sein, dass ich hier stehe, wenn die Zeit 1611 endet? Es dauert noch fast vierhundert Jahre, bis ich überhaupt geboren werde!«

»O gut! Du schaltest wirklich schnell«, sagte Zwei. »Das ist eines der Paradoxe. In Anbetracht des Verlaufs, den die Zeit jetzt nimmt, ist es inzwischen unmöglich geworden, dass du jemals existieren wirst. Oder Jonas. Oder ich. Also ist alles, was wir hier getan haben, alles, was wir verursacht haben, ebenfalls unmöglich. Bumm!« Er warf die Arme in die Luft und deutete eine Explosion an.

»Die Zeit könnte zusammenbrechen und alles wäre zu Ende.« Die Arme immer noch über dem Kopf endete er melodramatisch: »Leb wohl, du grausame Welt.«

»Hätten Sie daran nicht früher denken können?«, knurrte Jonas.

»Na, na«, rügte ihn Zwei. »Ich war sicher, dass es einen Ausweg geben würde. Ich war eben genauso optimistisch wie Henry Hudson, als er in die Sackgasse der James Bay gesegelt ist, im festen Glauben, dass er eine Passage nach China finden würde.«

»Aber es gab keine Passage für Hudson«, widersprach Katherine. »Die Nordwestpassage hat nicht existiert. Und er sollte mit einem Ruderboot im Packeis verschwinden!«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Zwei. »Hudson hat sein Schiff wieder. Und – was glaubt ihr wohl, was wir gerade durchfahren?«

Jonas starrte ihn an.

Zwei hat, als Prickett verkleidet, das Schiff zu Hudson zurückgebracht, überlegte er. Das bedeutet, dass die anderen Veränderungen 

»Sie haben die Nordwestpassage selbst gegraben«, wurde ihm plötzlich klar. »Deshalb hat dieser Ureinwohner gesagt, dass er den Fluss noch nie gesehen hat. Weil Sie ihn gerade erst geschaffen haben. Wahrscheinlich biegen Sie sich die Dinge hin, wie Sie sie gerade brauchen!«

»Und wie?«, fragte Katherine matt.

»Mit Baggerrobotern aus der Zukunft. Es war ziemlich schwer, das alles auszutüfteln, das könnt ihr mir glauben«, sagte Zwei.

»Aber warum die Mühe?«, fragte Katherine. »Wen kümmert das?«

Zwei sah sie böse an.

»Hast du eine Ahnung, wie viel Zeit Entdeckungsreisende darauf verwandt haben, die Nordwestpassage zu finden?«, fragte er. »John Cabot, 1497, Samuel Champlain, 1604  1607, Hudson, Davis, Baffin … Selbst als der amerikanische Präsident Thomas Jefferson die Forscher Lewis und Clark 1803 nach Westen schickte, hat er gehofft, sie würden mit der Nachricht von einer Schiffsroute zurückkommen, die quer über den Kontinent bis zur Westküste führt. Wenn die Europäer eine solche Route entdeckt hätten, noch bevor sie viel von Nordamerika gesehen hatten, meint ihr nicht, dass sie dann noch schneller zu diesem Kontinent geschwärmt wären? Oder hätten sie gesagt: ›Amerika? Wen interessiert das schon? Sehen wir zu, dass wir auf dem schnellsten Weg nach China gelangen und wieder zurück!‹ Hätten sie die amerikanischen Ureinwohner dann in Ruhe gelassen? Wären die Verbindungen zwischen Europa, China und Japan schon Jahrhunderte früher geknüpft worden? Und hätte das die historische Rolle Indiens verändert? Es ist faszinierend, die endlosen Möglichkeiten zu durchdenken! Es macht solchen Spaß!«

Fast hätte er in die Hände geklatscht.

»Aber ist dieser ›Spaß‹ es wert, die Zeit aufs Spiel zu setzen?«, warf Jonas ein. »Und alle umzubringen?«

»Nein, nein, du hast nicht richtig zugehört«, wehrte Zwei kopfschüttelnd ab. »Ihr werdet dafür sorgen, dass das nicht passiert. Alles wird gut.«

Jonas sah Katherine an. Selbst mit schlotternden Beinen und zitternden Muskeln wünschte er, sie könnten Zwei einfach eine Tracht Prügel verabreichen und es dabei bewenden lassen, ihn aus dem Weg stoßen und hinunterklettern oder etwas anderes tun, das einfach nur Körperkraft und -einsatz erforderte. Wie viel schwerer war es doch, dazustehen, ihm zuzuhören und sich zu bemühen, Wahrheiten, Halbwahrheiten und Täuschungsmanöver auseinanderzuhalten.

Im Grunde sagt er kaum etwas anderes als HK, dass nämlich alles von Katherine und mir abhängt, überlegte Jonas. HK hat uns bloß nie erzählt, dass die Zeit selbst enden könnte, wenn wir versagen.

Katherine sah aus, als würde sie sich gleich übergeben. Jonas spürte, wie das nervöse Zittern auf seinen eigenen Magen übergriff.

»Das heißt nicht, dass wir eingewilligt haben, Ihnen zu helfen«, sagte er vorsichtig. »Was genau wollen Sie eigentlich von uns?«

»Ihr sollt in die Vergangenheit zurückreisen«, sagte Zwei.

»Zurück, um weiter im Jahr 1600 zu leben?«, fragte Jonas hoffnungsvoll. »Zurück zu Andrea?«

»Nein, Romeo«, erwiderte Zwei und verdrehte die Augen. »So weit soll die Reise nicht gehen.«

»Aber Sie haben es versprochen«, mischte sich nun auch Katherine ein. »Bevor wir im Jahr 1611 ankamen, haben Sie gesagt, wir könnten Andrea, HK, Brendan und Antonio retten, wenn wir diesen Zeitabschnitt reparieren.«

»Aber ihr habt ihn noch nicht repariert, nicht wahr?«, sagte Zwei mit zusammengebissenen Zähnen. »Werdet mal nicht übereilig. Immer eins nach dem anderen. Ich bitte euch nur darum, ein ganz kurzes Stück zurückzureisen – zurück zum heutigen Morgen.«

»Sie meinen, zurück zu einem Moment, bevor wir heute Morgen auf dem Schiff gelandet sind?«, hakte Jonas nach. »Wir wissen, dass niemand den gleichen Zeitabschnitt mehr als einmal durchleben kann.«

Er hatte dieses Gesetz als sehr beruhigend empfunden, als er das erste Mal davon hörte, weil es bedeutete, dass er sich nicht den Kopf darüber zerbrechen musste, dass multiple Versionen seiner Feinde von allen Seiten auf ihn zukamen – jeder aus einem anderen Zeitabschnitt.

Es würde verwirrend genug sein, fünf Uhr morgens zu erleben, wenn man den gesamten restlichen Tag bereits hinter sich gebracht hatte.

»Ihr glaubt, niemand könnte einen Zeitabschnitt mehr als einmal durchleben?«, fragte Zwei. »Hat HK euch das erzählt?«

»Ja … äh, nein, ich glaube, Angela hat es uns zu Hause erzählt, als wir zum ersten Mal etwas über Zeitreisen herausgefunden haben«, sagte Katherine. »Aber sie hat es von HK gehört.«

»Ah«, sagte Zwei. »Nun gut. Im Anfängerkurs für Zeitreisende wird das tatsächlich gelehrt.« Er beugte sich vor und nahm das Windlicht vom Haken. »Ich dagegen bin in der Klasse für Fortgeschrittene, von der niemand auch nur geahnt hat, dass es sie überhaupt gibt.«

Das arrogante Grinsen war wieder da.

Jonas erinnerte sich an das, was HK zu ihnen gesagt hatte, als er und Katherine im Jahr 1611 angekommen waren, sie auf dem vereisten Deck gelegen und unter den Auswirkungen der Zeitkrankheit gelitten hatten: Wir wussten nicht, was wir da taten … wir haben sogar noch mehr Fehler gemacht, als ich dachte … Unsere Annahmen über die Zeit selbst – viele davon waren falsch … Dinge, die erst zutage treten, wenn man Fehler über Fehler gemacht hat 

»Dann haben Sie die Gesetze der Zeit verändert«, sagte Jonas. »Sie haben sie neu erfunden.«

»Nicht ganz«, sagte Zwei mit gespielter Bescheidenheit. »Das ist ausnahmsweise zu viel der Ehre.«

»Aber wenn wir schon zurückreisen können, warum tun wir es dann nicht und reparieren das Jahr 1600?«, fragte Katherine, die bereits weiterdachte. »Auf die Art könnten wir uns den ganzen Schlamassel ersparen.«

Sie wies mit der Hand auf die Dunkelheit jenseits des Krähennests, aber Jonas wusste, dass sie den Fluss meinte, der gar nicht existieren dürfte, den Pranger, den sie unten mit der Axt bearbeitet hatte, und den Mann, der unter Deck tot in seiner Hängematte lag.

Und die Meuterer, die man auf einer Eisscholle ausgesetzt hatte, obwohl nach dem ursprünglichen Verlauf der Geschichte der Kapitän und seine Getreuen ums Leben kommen sollten, überlegte Jonas.

»Ihr könnt nicht zurück ins Jahr 1600«, erwiderte Zwei ungehalten. »Ihr könnt nur dorthin zurückreisen und einen Augenblick erneut durchleben, wo sich die Zeit in Auflösung befindet. Wo alles zusammenbricht.«

»Sie machen einem die Sache wirklich schmackhaft«, murmelte Jonas.

Er senkte den Blick und sah, dass die Knöchel seiner Hand ganz weiß waren, so fest und so lange umklammerte er bereits das Geländer des Krähennests.

»Ich sehe schon, ich muss euch einiges erklären«, sagte Zwei seufzend. »Was wisst ihr beide über Physik?«

»Nichts«, erklärte Jonas unumwunden.

»Schwarze Löcher?«, versuchte es Zwei noch einmal.

»Die sind im Weltraum und unheimlich«, sagte Katherine. »Sie saugen alles auf und lassen nichts mehr heraus.«

»Nicht mal Licht«, fügte Jonas hinzu. Die Dunkelheit jenseits des Krähennests machte ihm allmählich zu schaffen.

Wieder seufzte Zwei.

»Das wird für den Anfang wohl reichen«, sagte er. »Ich erwähne sie deshalb, weil in der Nähe eines schwarzen Lochs Dinge geschehen, die den Gesetzen der Physik, wie sie vor der Entdeckung von schwarzen Löchern galten, zu widersprechen scheinen. Und das Gleiche gilt für Orte, an denen sich die Zeit in Auflösung befindet.«

»Wollen Sie damit sagen, dass sich die Gesetze der Zeit dort verändern?«, fragte Katherine.

Zwei nickte.

»Und das weiß niemand, weil noch nie jemand die Zeit zur Auflösung gebracht hat«, sagte Jonas. »Nicht vor Ihnen. Sie sind schuld.«

Wäre Zwei ein Kind gewesen, hätte man die Grimasse, die er jetzt zog, wohl einen Schmollmund genannt.

»Ihr müsst immer alles so negativ sehen«, beklagte er sich. »Irgendwann wird das, was ich geleistet habe, in die Geschichte eingehen. Das garantiere ich euch.«

»Ja, vorausgesetzt die Geschichte existiert noch, wenn Sie mit ihr fertig sind«, murmelte Jonas.

»Das wird sie, das wird sie. Können wir weitermachen?«, fragte Zwei und blickte auf das Windlicht in seiner Hand. Er schien es genau zu betrachten … Befand sich dort an der Seite etwa eine Digitaluhr?

Katherine stockte der Atem.

»Sie haben auch einen Definator«, stellte sie fest.

Jonas beobachtete Zweis Gesicht. Das alte Grinsen kehrte zurück.

»Und Ihr Gerät funktioniert noch«, sagte Jonas. »Im Gegensatz zu unserem.«

»Ach, tatsächlich?«, sagte Zwei fast höhnisch.

Katherine packte ihn am Arm.

»Lassen Sie uns mit HK reden, bevor wir irgendwas anderes tun«, bat sie und warf Jonas einen Blick zu. »Und mit Andrea.«

Zwei schüttelte ihre Hand von seinem Arm.

»Was glaubst du eigentlich, wer hier das Sagen hat?«, fragte er. »Wir brauchen nicht noch eine Meuterei auf dem Schiff. Ich habe die Macht. Ich bestimme hier.«

»Nein, Sie haben gerade gesagt, dass Sie unsere Hilfe brauchen«, erinnerte ihn Jonas. »Sie brauchen uns auf Ihrer Seite, damit wir die Zeit retten. Und alle Ihre Pläne –«

»Ihr werdet mir helfen, ob ihr wollt oder nicht«, erwiderte Zwei.

Er hatte den Kopf über den Definator gebeugt und tippte Befehle ein. Jonas begriff, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. Er tat das Einzige, was ihm einfiel, um die Sache noch etwas hinauszuzögern: Er riss sich den Umhang von den Schultern und schleuderte ihn auf Zwei.

Jonas hatte beabsichtigt, ihm den Umhang über Kopf und Schultern zu werfen, sodass er das Licht erstickte und Zwei davon abhielt, seine Befehle einzugeben. Dann konnten er und Katherine sich vielleicht den Definator schnappen und damit hinunterklettern und dann 

Es spielte keine Rolle, dass Jonas nicht einfallen wollte, was sie dann tun würden, denn genau in dem Moment, als er den Umhang warf, schwenkte das Schiff mit einem heftigen Ruck nach rechts. Der Umhang segelte über Zwei hinweg, rutschte über den Rand des Krähennests und flatterte hinunter aufs Deck.

»Interessante Wahl der Waffen«, murmelte Zwei völlig unbeeindruckt. »Bin gespannt, was du als Nächstes vorhast.«

Mit ausgestreckten Armen gingen Katherine und Jonas auf ihn los und griffen nach dem Definator. Doch Zwei drückte mit beunruhigender Endgültigkeit bereits ein letztes Mal auf die Tasten.

»Was für ein faszinierendes Experiment!«, krähte er. »Ich kann es kaum erwarten, zu sehen, wie ihr euch entscheidet!«

Katherine und Jonas waren im Begriff, sich auf ihn zu werfen, als er plötzlich verschwand.

Nein, verbesserte sich Jonas. Wir sind verschwunden. Katherine und ich.

Weder das Krähennest noch sein Geländer oder die zerschlissene Takelage waren mehr zu sehen. Jonas hätte nicht sagen können, ob sie durch Zeitlosen Raum rasten oder nicht, weil alles viel zu schnell ging.

Zwei hat gesagt, wir würden zu einem früheren Zeitpunkt des heutigen Tages zurückkehren, dachte Jonas und selbst seine Gedanken wirkten gehetzt und abgehackt. Wir bekommen die Chance, irgendetwas … zu entscheiden.

Wieder spürte er einen Umhang auf seinen Schultern. Ja klar, heute Morgen hatte ich den Umhang um. Das war ein Hinweis: Er würde nicht die Chance bekommen, sich zu entscheiden, ob er sich weiter als John Hudson ausgeben wollte oder nicht. Diese Entscheidung war bereits gefallen.

Jetzt spürte Jonas hartes Holz, das sich ihm in den Rücken bohrte. Er bewegte sich nicht länger rückwärts durch die Zeit. Er war angekommen … irgendwo. Als er merkte, dass er in seiner Panik die Augen zusammengekniffen hatte, zwang er sich, sie zu öffnen.

Er rechnete damit, unter sich das Schiffsdeck zu sehen, das frühmorgendliche Leuchten des Sonnenaufgangs, das den Nebel durchbrach, und die ersten Anzeichen der Meuterei um sich herum.

Bitte lass es nach dem Moment sein, als der Matrose mir den Knüppel übergezogen hat, dachte Jonas bei sich.

Seine Augen sahen fast auf der Stelle wieder scharf. Offensichtlich hatte die Zeitkrankheit so gut wie keinen Effekt, wenn man weniger als vierundzwanzig Stunden in der Zeit zurückreiste.

Er befand sich nicht an Deck des Schiffs. Und er musste sich auch um den Matrosen mit dem Knüppel keine Gedanken machen.

Er und Katherine waren wieder in der Schaluppe, alle ihre während der Meuterei getroffenen Entscheidungen lagen hinter ihnen.