Einundzwanzig

»Gute Frage«, sagte Katherine. Es war vermutlich das erste Mal in Jonas’ Leben, dass seine Schwester ihm einen funktionierenden Verstand zubilligte. Sie schielte zur anderen Seite des Decks hinüber, wo Prickett und Hudson in der Nähe der Reling standen.

Ihre Gesichtszüge entspannten sich.

»Na klar«, sagte sie. »Sie müssen die Karten von Ureinwohnern bekommen haben. Kanadischen Indianern oder wie immer sie heißen. Inuit?«

Jonas war noch nicht bereit, die Demonstration seiner mentalen Fähigkeiten einzustellen. Vor allem wenn Katherine so beeindruckende Worte wie »Inuit« in den Ring warf.

»In welcher Sprache war die Karte denn beschriftet?«, fragte er.

Wieder machte Katherine ein verblüfftes Gesicht.

»Englisch«, sagte sie. »Du weißt schon, in diesem komischen altmodischen Englisch, wo alles anders geschrieben wird, aber man sich trotzdem denken kann, was gemeint ist.«

»Und wie sollen Ureinwohner hier draußen an eine englische Karte gekommen sein?«, fragte Jonas, auch wenn Katherine darauf offensichtlich bereits eine Antwort suchte. »Wenn schon früher jemand aus England hier gewesen wäre, dann sähe die Lage meines Erachtens anders aus.« Inzwischen hatte Jonas Spaß an der Sache gewonnen und schlug einen sarkastischen Tonfall an. »Meinst du nicht, dass die Leute von der Discovery sich dann im Laufe des Winters an die englische Botschaft gewandt und um Hilfe gebeten hätten, statt mehr oder weniger zu verhungern und sich Skorbut oder sonst was zu holen?«

Katherine verdrehte die Augen, als wollte sie um jeden Preis dafür sorgen, dass Jonas wusste, wie lächerlich sie seinen Humor fand.

»Vielleicht wurde die Karte von Stamm zu Stamm über das ganze Land weitergegeben, angefangen bei jemandem aus der Nähe der Kolonie von Roanoke oder Jamestown – gibt es das eigentlich schon?«, fragte sie.

Jonas hatte nicht die geringste Ahnung, wann die Engländer Jamestown gegründet hatten, daher beließ er es bei einem skeptischen Blick.

»Wir sind eine Milliarde Meilen weit weg von Jamestown und Roanoke«, sagte er, auch wenn er ziemlich sicher war, sich um mehrere Millionen Meilen vertan zu haben.

»Also gut, dann sind eben ein paar Außerirdische aus dem Weltraum gekommen und haben Henry Hudson die Karte gegeben«, sagte Katherine und versuchte es nun ihrerseits mit Sarkasmus. »Oder ein paar Ureinwohnern, die sie dann wiederum Hudson gegeben haben. Das war kurz bevor die Außerirdischen die Pyramiden errichteten und den Mayakalender erfanden.«

Jonas zuckte zurück, wobei er mit Kopf und Handgelenken gegen das Holzgerüst stieß.

»Es waren keine Außerirdischen«, sagte er plötzlich todernst. »Es waren –«

»Zeitreisende«, erwiderte Katherine im gleichen Moment wie er, weil sie gleichzeitig zum selben Schluss gekommen war. »Oder ein Zeitreisender«, fügte sie hinzu.

Sie hatte schon immer gern das letzte Wort gehabt. Aber das sollte im Moment nicht Jonas’ Sorge sein.

»Zwei wäre das zuzutrauen«, sagte er und fand es überhaupt nicht mehr witzig. »Er hat für Virginia Dare und ihren Großvater das Jahr 1600 verändert. Und er würde sicher nicht zögern, Henry Hudson eine Karte zu geben, die er nicht haben darf. Die Karte ist eines der Mittel, mit denen er die Zeit verändert.«

»Ja, aber warum?«, fragte Katherine mit besorgtem Blick. »Was will er damit erreichen?«

Jonas spähte über das Deck zu Hudson hinüber. Er konnte mit Mühe die Ecke eines Stücks Papier erkennen, das aus Hudsons Pelzumhang ragte. Womöglich war es die Karte, von der Katherine gerade gesprochen hatte.

Jonas war felsenfest davon überzeugt, dass Hudson Zweis wegen auf dem Schiff war, wieder das Kommando hatte, weiter forschte und nach Westen segelte, statt in der Schaluppe ins Vergessen zu treiben und für immer aus der Geschichte zu verschwinden.

Und Zwei war auch verantwortlich dafür, dass die Meuterer, die versucht hatten, Hudson zu entmachten, nicht an Deck standen und schnurstracks nach England zurückkehrten. Stattdessen saßen sie irgendwo gestrandet auf einer Eisscholle oder waren bereits ertrunken.

Jonas verzog das Gesicht. Er wollte nicht daran denken. Stattdessen versuchte er, das Ganze lieber in einem größeren Zusammenhang zu betrachten.

Was spielt es für eine Rolle, welche Person oder Gruppe sich an Bord befindet und das Kommando hat und welche auf dem Eis gestrandet ist?, fragte er sich. Was spielt es für eine Rolle? Wen kümmert das?

Genau dieselben Fragen hatte er Mitschüler im Gesellschaftskundeunterricht praktisch seit der Vorschule stellen hören, ging ihm auf.

Äh, hatten wir in der Vorschule schon Gesellschaftskunde?, fragte er sich. Na, dann jedenfalls in der Grundschule.

Jedes Jahr beklagte sich, noch ehe die erste Schulwoche zu Ende war, irgendjemand im Unterricht: »Das ist langweilig! Warum müssen wir überhaupt so viel über uralte Leute lernen, die schon längst tot sind?«

Und das war jedes Mal das Schlüsselwort für einen langen, eintönigen Vortrag des jeweiligen Lehrers oder der Lehrerin, die in der ersten Schulwoche immer noch romantische Vorstellungen davon hegten, den-Kindern-wichtige-Lektionen-beizubringen, ihnen-den-Blick-zu-öffnen und sie zu bewegen, Dinge-wichtig-zu-nehmen. Am Ende des Schuljahres knurrten sie dann meist nur noch: »Weil es in der Arbeit abgefragt wird. Deshalb.«

Jonas hatte in diesen langweiligen Schulstunden nie wirklich aufgepasst. Jetzt wünschte er, er hätte es getan.

Was ist, wenn sie uns ganz genau erklärt haben, wie anders die Welt heute sein würde, wenn Henry Hudson die Nordwestpassage gefunden hätte?, fragte er sich.

Drüben an der Reling zogen die Seeleute rund um Hudson und Prickett eine Leine aus dem Wasser.

»Ich habe Euch gesagt, dass es tief genug ist!«, sagte Hudson so aufgeregt, dass seine Stimme über das ganze Deck hallte.

Jonas begriff, dass sie in den Durchlass einfuhren, den er vom Krähennest aus gesehen hatte. Flach und konturlos erstreckte sich zu beiden Seiten des Schiffs Land.

»Habt Ihr von dem Fluss, den Ihr entdeckt habt, als wir noch mit der Half Moon unterwegs waren, am Anfang nicht auch behauptet, er wäre tief genug?«, fragte ihn Wydowse.

»Das ist etwas anderes«, erwiderte Hudson. Er legte die Hand aufs Herz, als wollte er einen Eid schwören.

Vielleicht berührte er aber auch nur die Karte auf der Innenseite seines Umhangs.

»Diesmal ist es gewiss«, stimmte Prickett ihm zu. »Sollten wir darauf nicht anstoßen?«

Er kehrte mit Hudson, King und einigen anderen in die Kapitänskajüte zurück. Keiner von ihnen würdigte Jonas im Vorübergehen auch nur eines Blickes.

»Ich sollte ihnen nachgehen«, sagte Katherine. »Ich muss wissen, über was sie reden.«

»Na guuut«, stimmte Jonas ihr unglücklich zu.

Was war, wenn ihr etwas zustieß, während er an den Pranger gefesselt war und nichts tun konnte, um ihr zu helfen?