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Der Weg des Kriegers

Jack überprüfte sein Bündel noch einmal.

Der Portolan lag, in das schützende Öltuch eingewickelt, ganz unten. Darüber kam der Daruma, dessen einzelnes Auge Jack im flackernden Schein der Öllampe unverwandt anstarrte. Des Weiteren enthielt die Tasche eine mit Wasser gefüllte Kalebasse, zwei Strohbehälter mit gekochtem Reis, einen Ersatzkimono und eine Schnur mit Münzen. All das sowie den blauen Kimono, den er gerade trug, hatte ihm Akikos Mutter Hiroko großzügig geschenkt. Keiner der beiden Kimonos war mit einem Wappen oder sonstigen Zeichen verziert. Hiroko hatte sie so ausgewählt, dass niemand Jack als Mitglied einer Familie identifizieren konnte, die gegen Daimyo Kamakura gekämpft hatte.

Die Tasche war fertig gepackt. Lächelnd schob Jack noch den Glück bringenden Papierkranich, den Yori ihm geschenkt hatte, in den hölzernen Inro an seinem Gürtel. Der kleine Vogel kam auf Akikos kostbarer schwarzer Perle zu liegen und schien sie zu bewachen, als handelte es sich um ein Ei.

Jack wollte die Tasche schon schultern, da fiel ihm Sensei Yamadas Geschenk ein. Er nahm das kleine buddhistische Amulett und befestigte es am Gurt der Tasche. Das kleine, rotseidene Säckchen enthielt ein rechteckiges Stück Holz, auf das Sensei Yamada ein Gebet geschrieben hatte. Das Amulett würde ihn schützen, hatte der Zen-Meister gesagt. Jack durfte das Säckchen allerdings nicht öffnen, sonst verlor das Amulett seine Kraft. An seiner Tasche hängend sollte es die Menschen, denen er unterwegs begegnete, davon überzeugen, dass er Buddhist war. Vielleicht waren sie dann eher bereit, ihm zu helfen.

Jack schob die Tür seines Zimmers auf und trat in den Garten hinaus.

Dunkelheit empfing ihn, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen. Die Luft roch frisch und kühl, als müsse die Welt erst anfangen zu atmen. Jack schlüpfte in seine Sandalen und ging über die Holzbrücke zu der kleinen, in die Gartenmauer eingelassenen Tür. Er legte die Hand auf die Klinke und musste daran denken, wie er damals aus Hirokos Haus hatte fliehen wollen. Er war in ernste Bedrängnis geraten, hatte dabei allerdings ein sehr nützliches japanisches Wort gelernt. Abunai. Gefahr. Wenn er jetzt durch die Tür trat, warteten viele Gefahren auf ihn.

»Du gehst, ohne dich zu verabschieden?«, fragte eine leise Stimme.

Hinter ihm stand Akiko, die Hände vor dem Obi gefaltet, die Haare sorgfältig gekämmt und zu einem Zopf geflochten, der ihren Rücken hinunterhing. Sie sah Jack bekümmert, fast anklagend an.

Ihr Blick tat ihm weh.

Er hatte sich am Abend zuvor beim Abendessen von allen verabschiedet. Akiko war seltsam still gewesen, aber Jack hatte ihre langsame Genesung dafür verantwortlich gemacht. Hiroko hatte ihm angeboten, für unbegrenzte Zeit bei ihr zu wohnen. Sensei Yamada hatte vorgeschlagen, Jack solle Yori und ihn zum Tendai-Tempel in Iga Ueno begleiten. Doch sein Entschluss war gefasst.

»Es ist Zeit, nach Hause zurückzukehren«, sagte er jetzt. Sich von Akiko verabschieden zu müssen, brach ihm fast das Herz.

»Dein Zuhause kann auch hier sein«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte.

»Ich kann nicht bleiben. Dadurch würde ich dich und deine Mutter nur noch mehr gefährden. Es kursieren schon Gerüchte, dass du einen Gaijin beherbergst. Daimyo Kamakura wird mich bald suchen lassen.«

»Aber ich kann dich beschützen…«

»Nein, ich will dich beschützen«, beharrte Jack. »Ich muss endlich die Verantwortung für mein Tun übernehmen. Nur weil ich den Portolan unbedingt vor fremden Händen schützen wollte, wart ihr alle, du, Yamato, Emi, Masamoto und Daimyo Takatomi, großen Gefahren ausgesetzt. Das soll nicht mehr so sein. Masamoto-sama sagte, ich sei jetzt volljährig. Ich muss selber mit meinen Problemen fertig werden.«

Akiko blickte ihm tief in die Augen und sah den Weg, zu dem er sich entschlossen hatte. Mit einer Verbeugung fügte sie sich. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie nicht mehr aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen. Sie wirkte wieder stark und unabhängig, wie Jack sie so gut kannte.

»Ohne Schwerter kannst du deine Kriegerwallfahrt nicht antreten«, sagte sie mit einem Blick auf seinen leeren Gürtel. »Warte!«

Sie verschwand im Haus und Jack verspürte auf einmal Gewissensbisse, weil er Masamotos Schwerter verloren hatte. Es war auch dumm von ihm gewesen, die Samuraischwerter nach dem Kampf gegen Kazuki nicht mitzunehmen. Aber er hatte damals nur an Akiko gedacht.

Eine Schiebetür ging auf und Akiko kehrte zurück. In den Händen trug sie zwei Schwerter.

»Du bist ein Samurai, Jack. Du musst ein Schwertpaar tragen.« Sie hielt ihm die Waffen mit einer Verbeugung hin.

Wie vom Donner gerührt starrte Jack sie an. Auf ihren Händen lagen zwei prächtige Schwerter mit dunkelrot umwickelten Griffen, die in schwarz schimmernden, mit Perlmutt eingelegten Scheiden steckten.

»Die kann ich nicht annehmen«, protestierte er. »Sie haben deinem Vater gehört.«

»Er würde wollen, dass du sie bekommst. Ich will es auch. Es wäre eine Ehre für unsere Familie, wenn die Schwerter dir auf deiner Reise nützen könnten.«

Akiko verbeugte sich noch tiefer und drückte ihm die Schwerter in die Hand.

Widerstrebend nahm Jack sie und steckte sie in den Gürtel. Dann konnte er der Versuchung nicht widerstehen und zog das Langschwert heraus. Die stählerne Klinge fing das Licht der Sonne ein, die gerade am Horizont aufging. Ein einzelner Name leuchtete schimmernd auf.

Shizu.

Die Schwerter besaßen eine gute Seele.

Jack steckte das Langschwert wieder ein. Er würde für immer in Akikos Schuld stehen und wollte ihr im Gegenzug auch etwas schenken, wenn auch nur etwas ganz Kleines. Er griff in seine Tasche und holte den Daruma heraus.

»Mehr habe ich leider nicht«, sagte er und gab ihr die kleine, runde Puppe.

»Aber der Daruma enthält deinen Wunsch«, protestierte Akiko.

»Deshalb sollst du ihn ja haben«, sagte er und schloss ihre Hand um die Puppe. »Du bist die Einzige, der ich meinen Wunsch anvertraue.«

Akiko blickte ihn unverwandt an. Sie spürte genauso wie Jack, dass ihre Hände sich berührten.

»Es wäre mir eine Ehre«, flüsterte sie. »Aber woher weiß ich, ob der Wunsch sich erfüllt hat?«

»Wenn ich zu Hause bin, kannst du das andere Auge ausfüllen.«

Akiko nickte. Sie brauchte nicht zu fragen, woher sie es wissen würde. Sie würde es wissen.

Bewegungslos standen sie voreinander, die Hände um die kleine Puppe gelegt. Keiner schien sich abwenden zu wollen. So vieles musste gesagt werden, doch Jack wusste, dass Worte dazu nicht ausreichten. Wie konnten sie ausdrücken, was sie gemeinsam erlebt hatten? Die Herausforderungen beschreiben, die sie zusammen bestanden hatten? Und das, was sie einander bedeuteten?

Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf.

Ein geheimnisvolles Mädchen in einem blutroten Kimono auf einer Halbinsel, Japanischunterricht im Schatten des Kirschbaums, der Blick zum Sternenhimmel im Südlichen Zen-Garten, der erste Sonnenaufgang des Jahres auf dem Hiei, Akikos Triumph im Wasserfall beim Kreis der Drei, die schwarze Perle, die sie ihm geschenkt hatte, ihr Sieg beim Yabusame, die Entdeckung, dass sie ein Ninja war, der Augenblick, als sie ihm unter Wasser die Lippen auf den Mund gedrückt und neues Leben eingehaucht hatte.

Doch das Meer rief. Sein Zuhause und seine Schwester warteten auf ihn.

Er wusste, wenn er seinem tiefsten Herzenswunsch folgte, würde er bleiben.

»Ich muss gehen«, sagte er und trat zurück. »Ich will heute noch ein gutes Stück schaffen.«

»Ja«, sagte Akiko ein wenig atemlos und erregt. »Es ist richtig, dass du zu Fuß gehst. Mit einem Pferd würdest du zu viel Aufmerksamkeit erregen. Traue niemandem und halte dich abseits der großen Straßen.«

Jack nickte. Er öffnete die Tür und trat auf die ungepflasterte Straße hinaus. Sie führte zwischen zahlreichen Reisfeldern hindurch in einem Bogen um den Talkessel und verschwand hinter dem Kamm in Richtung Nagasaki.

Er lief los, bevor er sich anders besinnen konnte.

Dann blieb er stehen.

»Yori würde mir nie verzeihen, wenn ich dir das nicht geben würde«, sagte er und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus den Falten seines Obi.

»Was ist das?«, fragte Akiko.

»Ein Haiku.«

»Du hast eins für mich geschrieben!«, rief sie erstaunt.

»Über einen gemeinsamen Augenblick«, sagte Jack.

Bevor Akiko das Blatt auffalten konnte, wandte er sich ab und ging.

Er war bereits an der Kurve angelangt, da hörte er sie seinen Namen rufen.

Akiko stand mit dem Rücken zur aufgehenden Sonne. Sie schien eine Träne wegzuwischen oder vielleicht winkte sich ihm auch nur Lebewohl. Doch der Wind trug ihre Worte klar und deutlich zu ihm.

»Auf ewig miteinander verbunden.«

Sie verbeugte sich.

Jack erwiderte die Verbeugung.

Als er sich aufrichtete, war sie verschwunden.

Jack starrte in die aufgehende Sonne. Hatte er sich richtig entschieden? Doch tief im Innern wusste er, dass er keine andere Wahl hatte. Er konnte nicht bleiben. In Japan trachtete ihm der Shogun nach dem Leben. In England brauchte ihn seine kleine Schwester.

Er wandte sich der Straße vor ihm zu und ging den ersten Schritt auf dem Weg des Kriegers… dem Weg nach Hause.