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Entführung

Jack, der immer noch von seinem unfreiwilligen Bad im Teich durchnässt war, ging durch einige kleinere Gassen Kyotos in Richtung Niten Ichi Ryu. Yamato war zurückgeblieben, um bei Sensei Kano Unterricht im fortgeschrittenen bojutsu zu nehmen, während die restlichen Schüler, die nach dem Rennen in Feierlaune waren, auf direktem Weg zur Schule zurückkehrten.

Jack war allerdings nicht allein. Yori hatte ihn unbedingt begleiten wollen.

»Er ist immer so eingebildet!«, brummte Jack und kickte mit dem Fuß einen losen Kiesel über den Boden.

»Wer?«

»Takuan.«

»Aha, der Tiger kehrt zurück.« Yori hob wissend die Augenbrauen.

»Wovon redest du?«

»Vom Tiger der Eifersucht natürlich.«

»Ich bin nicht eifersüchtig«, erklärte Jack. »Warum sollte ausgerechnet ich auf ihn eifersüchtig sein?«

»Ich weiß nicht. Gut aussehend, ein hervorragender Schüler, bei den Lehrern beliebt, anders als wir, von Akiko bewundert…«

»Also gut, ich bin vielleicht ein wenig neidisch.«

Yori blieb stehen und Jack drehte sich nach ihm um. Yori schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Ich rede doch von dir.«

»Von mir?«

Yori seufzte. »Ja. Eifersucht heißt, dass man die Vorzüge eines anderen sieht statt der eigenen. Deshalb hast du eben automatisch gedacht, ich würde Takuan beschreiben. Dabei habe ich nur gesagt, dass er keine Bedrohung für dich darstellt.«

»Ich… ich mache mir auch nur Sorgen wegen Akiko…« Jack verstummte unter dem fragenden Blick Yoris.

»Takuan ist zu allen nett und will auch dein Freund sein. Warum lässt du ihn nicht? Dann ist er keine Bedrohung mehr, sondern dein Verbündeter.«

»Du hast wie immer Recht.« Jack drückte Wasser aus den Ärmeln seines Kimonos. »Keine Ahnung, warum ich in letzter Zeit so reizbar bin. Vielleicht liegt es an der Technik der beiden Himmel. Sie ist so unglaublich schwer zu erlernen. Selbst Masamoto-sama gibt zu, dass nur wenige Schüler es je geschafft haben. Vielleicht gehöre ich einfach nicht zu ihnen.«

»Du wirst sie lernen«, beruhigte Yori ihn. »Du hast auch die Aufnahme in den Kreis der Drei geschafft. Denk dran, was der Hohepriester gesagt hat. ›Wenn eure Seele stark ist, kann euch alles gelingen.‹ Es braucht nur Zeit. Eine Frucht, die ohne Schütteln vom Baum fällt, ist sowieso zu reif zum Essen.«

Jack musste lachen. »Hast du Sensei Yamadas Gebetbuch verschluckt oder was?«

»Anders ausgedrückt, Gutes kommt nur von harter Arbeit.«

»Aber ich habe das Gefühl, dass Kazuki und Akiko viel schneller vorankommen als ich.«

»Siehst du, du vergleichst dich schon wieder mit anderen. Was die anderen tun, kann dir egal sein. Konzentriere dich auf deine eigenen Fortschritte.«

Yori schwieg und klopfte sich nachdenklich mit den Fingern ans Kinn.

»Vorhin auf dem Teich war es genauso. Du warst so damit beschäftigt, Kazuki zu schlagen, dass du das Ziel des Rennens ganz vergessen hast. Dasselbe gilt für die Technik der beiden Himmel. Wenn du deine Kraft damit vergeudest, an andere zu denken, kommst du nicht ans Ziel. Konzentriere dich darauf, dein eigenes Boot zu rudern, und du gelangst ans Ufer.«

Yori nickte weise und sichtlich zufrieden mit seinem Ratschlag und ging weiter. Jack sah ihm nach. Yori hatte vielleicht nicht den Körper eines Kriegers, aber ganz gewiss den Verstand eines Priesters. Jack war froh, ihn zum Freund zu haben. Er hob die klatschnassen Falten seines Kimonos an und eilte ihm nach.

Sie kamen an einem Gebäude mit einem grünen, geschwungenen Ziegeldach vorbei. An der Traufe waren Drachenfiguren angebracht. Jack erkannte es. Sie durchquerten den äußeren Hof des Ryoanji, des Tempels des friedlichen Drachen. Er war schon bei verschiedenen Gelegenheiten hier gewesen.

Im Jahr zuvor hatte er eines späten Abends zufällig gesehen, wie Akiko heimlich die Schule verließ. Neugierig und auch ein wenig beunruhigt war er ihr gefolgt und zu diesem Tempel gekommen. Akiko besuchte hier einen geheimnisvollen Mönch, dessen messerähnliche Hände mehr zum Kämpfen gemacht schienen als zum Beten. Sie hatte ihm zunächst keine glaubhafte Erklärung für ihre Heimlichtuerei geben können. Jack hatte sie schon im Verdacht gehabt, dass sie sich zum Ninja ausbilden ließ. Doch schließlich hatte Akiko ihm anvertraut, dass sie sich bei dem Mönch geistigen Trost für den Verlust ihres kleinen Bruders Kiyoshi holte. Jack wusste, dass sie den Mönch weiterhin besuchte. Er hatte sie nach ihrer Rückkehr an die Schule mehrmals dabei beobachtet, wie sie abends die Schule verließ.

»Ergreift ihn!«, zischte eine heisere Stimme.

Zwei Männer sprangen aus einer Seitengasse, packten Jack an den Armen und entrissen ihm seinen bo. Ein dritter Mann stülpte ihm einen Sack über den Kopf. Bevor Jack wusste, wie ihm geschah, hatten sie ihm schon die Beine unter dem Leib weggerissen und trugen ihn fort. Jack wehrte sich verzweifelt. Hinter sich hörte er Yori rufen.

»Halt! Oder ich…«

»Oder was, Kleiner?«, spottete die heisere Stimme. »Willst du uns in die Waden zwicken?«

Die beiden Männer, die Jack trugen, lachten.

»Ich warne euch«, sagte Yori mit zitternder Stimme. »Ich bin Schüler der Niten Ichi Ryu.«

»Dass ich nicht lache. Dort werden doch keine Zwerge ausgebildet.«

Ein Handgemenge entstand und Jack hörte einen Mann laut fluchen. Ein Stock zerbrach mit einem Knacken, eine Faust schlug mit einem dumpfen Laut zu und Yori stöhnte auf. Jack hörte ihn hinfallen. Er vergaß seine Angst. Die Wut verlieh ihm neue Kraft und er konnte ein Bein losreißen. Er trat damit zu und traf mit dem Fuß in ein Gesicht. Befriedigt hörte er, wie eine Nase knackend brach. Er trat erneut zu und riss auch das andere Bein los.

»Verdammter Gaijin!«, schimpfte der Mann und spuckte Blut.

Jack wollte fliehen, aber der andere Mann hielt von hinten seine Arme umklammert. Jack wollte den Kopf ruckartig zurückwerfen, um ihm die Zähne auszuschlagen, aber noch ehe er die Bewegung ausführen konnte, traf ihn etwas Hartes im Nacken.

Vor seinen Augen explodierten Blitze. Ihm wurde übel und er verlor das Bewusstsein.