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Eine unmögliche Entscheidung

Jack erinnerte sich, was Masamoto einmal im Unterricht gesagt hatte– alle Mittel und Waffen sind recht, die zum Sieg führen–, und zog unbemerkt das Kampfmesser des Ninjas aus seinem Gürtel.

Während Drachenauge noch seinen Triumph auskostete, sagte Jack: »Sie haben mir einmal geraten, nie zu zögern.«

Dann schnitt er mit seinem Messer über das Bein des Ninjas.

Drachenauge schrie erschrocken auf und machte einen Schritt zurück.

Jack sprang auf. Doch Drachenauge fasste sich schneller, als er erwartet hatte. Blitzschnell holte er mit seinem Schwert aus.

Da explodierte die Wand neben ihnen und eine Kanonenkugel flog durch das Zimmer. Von der Jagdszene war nichts mehr übrig. Brennende Wandstücke flogen durch die Luft und warfen Jack und Drachenauge um.

Jack landete auf dem zerstörten Balkon. Um ihn rieselten Blattgoldschnipsel wie Schneeflocken herab. Benommen und mit dröhnendem Kopf starrte er zum Erdboden acht Stockwerke unter sich hinunter. Die Roten Teufel schwärmten wie Ameisen über den Hof. Der Boden schien ihn magisch anzuziehen. Übelkeit und Schwindelgefühl erfassten ihn.

Erschrocken wich er vom Rand des Balkons zurück. Das Messer hielt er noch in der Hand.

Links von ihm lag Drachenauge. Er schien kaum bei Bewusstsein. Jack kroch zu ihm.

»Jetzt bist du dran«, sagte er und hob das Messer zum tödlichen Stoß.

Jetzt würde er seinen Vater rächen.

Den Albtraum beenden.

Den Ninja töten.

Das dämonische Messer in seiner Hand schien wie ein Herz zu pochen.

Der in den Stahl gravierte Name glühte rot im Schein des Feuers und schien ihm etwas sagen zu wollen.

Töte, töte, töte!

Plötzlich hörte Jack wieder die warnende Stimme des Wirts aus dem Teehaus.

Eine solche Waffe dürstet nach Blut und treibt ihren Besitzer dazu zu morden.

Jack spürte es förmlich.

Blutgier drohte ihn zu überwältigen.

Er holte aus.

Doch dann fiel ihm ein, was Sensei Yamada in jener Nacht gesagt hatte, in der er sich für den Weg des Kriegers entschieden hatte, und er hielt inne. Der Zen-Meister hatte erklärt, was Bushido war und was es bedeutete, ein Samurai zu sein.

Der Weg des Kriegers hat nicht das Zerstören und Töten zum Inhalt, sondern die Förderung des Lebens. Seinen Schutz.

Drachenauge mochte noch so viel Kummer und Leid verursacht haben, mit Rache war ihm nicht beizukommen.

Im Unterschied zu ihm war Jack kein Mörder.

Vielleicht konnte er dadurch, dass er das Leben des Ninjas schonte, ein anderes retten. Das Leben von Akikos Bruder Kiyoshi.

»Halt!«, schrie eine Stimme, als er den Arm mit dem Messer senkte.

Jack warf das dämonische Messer über den Balkon und es verschwand in der Nacht. Er drehte sich um. Am oberen Ende der Treppe stand Akiko.

»Ich dachte, du wolltest ihn töten«, sagte sie und kam vorsichtig durch die brennenden Überreste des Zimmers näher.

Jack ließ den bewusstlosen Ninja liegen und eilte ihr entgegen. Er hatte sich noch nie so gefreut, sie zu sehen. »Fast hätte ich es getan.« Er war froh, das Unheil bringende Messer endlich los zu sein. »Aber für dich ist er lebend mehr wert als tot.«

»Bist du verletzt?«, fragte Akiko erschrocken. Sie bemerkte erst jetzt, in was für einem schrecklichen Zustand Jack sich befand.

Jack betrachtete sich. Schwarze Asche bedeckte ihn, seine Rüstung war verkohlt, seine Lippe vom Faustschlag des Roten Teufels aufgeplatzt, seine linke Hand vom Feuer angesengt und seine Haare verfilzt und voller Staub und Dreck. Er musste halb tot aussehen.

Akiko untersuchte die Hand. »Es ist nichts Schlimmes.« Sie hob den Kopf. »Als wir Pater Bobadillo tot in seinem Zimmer fanden, machte ich mir Sorgen um dich– Vorsicht!« Sie stieß Jack zu Boden.

Dann wurden ihr selbst die Füße weggerissen und sie verschwand über die Brüstung des Balkons.

Jack hörte sie im Fallen schreien.

»Meine Geduld ist zu Ende, Gaijin«, fauchte Drachenauge. »Gib mir das Buch oder ich lasse sie los.«

Er hielt das Seil eines dreigezackten Wurfankers, wie er zum Klettern benutzt wurde, in der Hand. Das Seil hatte sich um Akikos Körper gewickelt und war unter ihrem Gewicht straff gespannt.

Jacks Blick wanderte zum Schwert des Ninjas, das im Schutt zwischen ihnen lag.

»Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte Drachenauge und ließ das Seil ein kleines Stück durch die Finger gleiten. »Deine Freundin ist tot, noch bevor du den ersten Schritt machst.«

Jack blieb keine andere Wahl. Er öffnete seine Tasche und holte das Logbuch heraus.

»Ich an deiner Stelle würde mich beeilen«, sagte Drachenauge und verzerrte den Mund zu einem höhnischen Lächeln. »Ich kann das Seil nicht mehr lange halten.«

Jack reichte ihm das Buch. »Jetzt geben Sie mir das Seil.«

»Bitte sehr«, sagte Drachenauge und ließ los.

»Nein!«, schrie Jack und stürzte zu dem Seil, das rasch über den Rand des Balkons verschwand.

Er bekam es zu fassen, allerdings glitt es ihm weiter zwischen den Fingern hindurch. Es schnitt tief in seine Handflächen ein, doch er hatte in der Takelage der Alexandria schon Schlimmeres erlebt. Er verstärkte seinen Griff und biss sich vor Schmerzen auf die Lippen.

Unter Aufbietung seiner letzten Kraft konnte er das Seil anhalten. Er hörte Akiko etwas rufen. Wenigstens lebte sie noch.

Gegen einen Pfosten des Balkons gestemmt, begann er sie nach oben zu ziehen. Beharrlich setzte er eine Hand über die andere und holte das Seil ein, doch seine Arme zitterten schon bald vor Anstrengung und es drohte ihm wieder durch die Finger zu rutschen.

»Deine Anstrengungen sind heldenhaft, aber letzten Endes vergeblich«, sagte Drachenauge. Er stand über Jack. In der einen Hand hielt er den Portolan, in der anderen sein Schwert.

»Sie haben das Buch doch!«, keuchte Jack. »Was wollen Sie denn noch?«

»Rache«, antwortete der Ninja und hob das Schwert. »Soll ich dich jetzt gleich töten? Oder soll ich zuerst das Seil durchschneiden und zusehen, wie du leidest?«

In diesem Moment traf ein hölzerner Stab mit einem dumpfen Schlag den Hinterkopf des Ninjas. Drachenauge verlor das Gleichgewicht und ließ das Logbuch fallen. Er prallte gegen das Balkongeländer, stürzte kopfüber darüber und verschwand mit seinem Schwert über die Brüstung.

Yamato, der einen dicken Verband trug, humpelte auf Jack zu. »Ich glaube, Sensei Kano würde das als äußersten Notfall gelten lassen!«, grinste er und hob seinen Stock auf.

Er sah sich auf dem verkohlten Balkon um. »Wo ist Akiko?«

Jack, der vor Erschöpfung keinen Ton herausbrachte, wies mit einem Nicken auf das Seil und begann es weiter einzuholen.

Aufgeregt beugte Yamato sich über den Rand des Balkons. »Ich sehe sie! Sie ist schon fast…«

Aus dem Dunkel unter ihm fuhr eine behandschuhte Hand und packte ihn am Hals. Verzweifelt klammerte Yamato sich am Geländer fest, während Drachenauge versuchte, ihn in die Tiefe zu ziehen. Jack trat mit den Beinen nach der Brust des Ninjas, doch rutschte ihm das Seil dabei wieder ein Stück durch die Finger und er hatte Mühe, Akiko zu halten. Drachenauge hing noch am Balkon, doch hatte er Yamato loslassen müssen.

Jetzt sprang er über das Geländer und landete neben Yamato. Yamato trat vom Balkon zurück und packte seinen Stock mit beiden Händen, um sich zu verteidigen. Drachenauge griff Yamato auf seiner verwundeten Seite an und zielte mit einem Halbkreistritt auf sein Zwerchfell. Yamato riss den Stock herum und wehrte den Schlag ab. Der Ninja setzte sofort mit einem Hakentritt nach Yamatos Kopf nach. Auch diesmal konnte Yamato den Tritt mit seinem Stock abfangen.

Sofort schlug er mit dem Stockende nach dem Kopf des Ninja. Der duckte sich und wich zur Seite aus.

Jack konnte nur zusehen, wie Yamato tapfer weiterkämpfte und einen Angriff auf den anderen folgen ließ. Doch Drachenauge duckte sich stets darunter hinweg und wartete darauf, dass Yamato müde wurde und den entscheidenden Fehler beging.

Yamato stach mit der Spitze seines Stocks nach Drachenauges Brust. Der Ninja wich aus, packte das Stockende und versetzte Yamato gleichzeitig einen Seitwärtstritt in die Rippen. Yamato krümmte sich zusammen. Seine Wunde hatte sich wieder geöffnet und Blut sickerte durch den Verband.

Doch er gab nicht auf.

Er wendete den Stab und verdrehte Drachenauge das Handgelenk. Brüllend trieb er den Ninja rückwärts zum Rand des Balkons. Drachenauge prallte gegen das Geländer. Die brüchigen Pfosten gaben nach.

Yamato schlug mit seinem Stock auf Drachenauge ein und traf ihn auf den Kopf und in die Seite. Der Ninja wollte die Schläge abwehren, doch sie regneten von allen Seiten auf ihn herunter.

»Sie haben meinen Bruder getötet!«, schrie Yamato. Wut und Schmerzen verliehen ihm neue Kräfte.

Schließlich stürzte Drachenauge vom Balkon hinunter, doch gelang es ihm mit einer letzten Streckung, Yamato an den Knöcheln zu packen. Er riss Yamato mit sich. Yamatos Stock verfing sich zwischen den beiden abgebrochenen Geländerpfosten. Ein scharfes Knacken ertönte und im Schaft öffnete sich ein Riss, der an der Maserung entlangwuchs.

»Jack!«, schrie Yamato und klammerte sich verzweifelt an dem Stock fest.

Jack stand vor einer unmöglichen Entscheidung.

Er konnte entweder Akiko retten oder Yamato.

Aber nicht beide.