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Belagerung

Eine Salve nach der anderen ging auf die Mauern der Burg von Osaka nieder. Seit drei Tagen wurden sie ununterbrochen von Kanonen beschossen. Der Lärm des explodierenden Schießpulvers rollte wie Donner über das Burggelände und ein beißender Gestank lag in der Luft. Rauch hing wie Morgennebel über der Tenno-ji-Ebene und dem riesigen Feldlager von Daimyo Kamakura. Das Lager war so groß wie eine kleine Stadt. Kilometerweit erstreckten sich Zelte und zeltähnliche Mannschaftsunterkünfte in schnurgeraden Reihen in die Ferne. Laut Masamotos Schätzung waren an die zweihunderttausend Mann vor den Mauern der Burg versammelt.

Jack stand zusammen mit den anderen jungen Samurai auf dem inneren Mauerring. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass ihre Gegner so viele Kanonen besaßen. Woher hatte Kamakura sie? Satoshis Truppen besaßen keine schweren Geschütze und konnten das Feuer nicht erwidern. Wenn sie ein Schiff wären, dachte Jack, wären sie schon längst gesunken. Den massiven Steinmauern konnten die Kanonenkugeln dagegen nichts anhaben.

In den Feuerpausen rannten Daimyo Kamakuras Soldaten gegen die Tore der Burg an. Sie wurden allerdings jedes Mal zurückgeschlagen. Katapulte auf den Mauern schleuderten den Angreifern gewaltige Steinbrocken und Brandkugeln entgegen. Pfeilhagel rissen große Lücken in die Reihen der vorrückenden ashigaru. Wer es trotzdem bis zur Burg schaffte, musste als Nächstes den Burggraben überqueren. Die meisten wurden bei dem Versuch getötet, auf Flößen hinüberzurudern oder den Graben zum Überqueren aufzuschütten. Die wenigen Samurai, die es bis zum Fuß der Mauern schafften, standen vor der aussichtslosen Herausforderung, den steilen Sockel hinaufzuklettern. Sie wurden durch Pfeile oder Arkebusenschüsse getötet, mit kochendem Öl überschüttet oder mit Steinen erschlagen, die durch die Maueröffnungen auf sie geworfen wurden.

Die Burg von Osaka schien uneinnehmbar.

Schnell wurde klar, dass Daimyo Kamakura sich wohl oder übel auf eine längere Belagerung einlassen musste.

»Wie lange können wir aushalten?«, fragte Yori und lugte ängstlich über die Brüstung. Seine Stimme zitterte.

»Monate, vielleicht sogar ein Jahr«, antwortete Taro.

»Du meinst, der Proviant reicht so lange?«, fragte Jack. Es gab in der Burg zwar viele Nahrungsmittelspeicher, aber bei hunderttausend Mann gingen alle Vorräte rasch zur Neige.

»Ich würde mir keine zu großen Sorgen machen. Wenn es ganz hart kommt, haben wir immer noch die Matten auf dem Boden. Sie sind auch essbar.«

Er grinste Jack an, aber seine Augen blickten ernst. Jack merkte, dass er nicht scherzte.

»Hoffentlich kommt es nicht so weit«, sagte Takuan, der steif neben Emi und Akiko stand. Seine gebrochene Rippe machte ihm immer noch zu schaffen. »Daimyo Kamakura sieht sicher bald ein, dass er keine Chance hat, und gibt auf.«

»Aber seine Armee ist doppelt so groß wie unsere!«, rief Yori schrill. Eine Kanonenkugel schlug in den Turm neben ihnen ein und er duckte sich erschrocken.

»Um das ausnützen zu können, müsste er uns in die offene Schlacht nach draußen locken«, erwiderte Taro, von der Kugel völlig unbeeindruckt. »Aber solange die Mauern halten, haben wir keinen Grund, die Burg zu verlassen.«

»Soviel ich gehört habe, ist Daimyo Kamakura schon jetzt am Ende seiner Weisheit«, sagte Emi. »Laut meinem Vater hat er heute Morgen versucht, Daimyo Yukimura durch einen Boten zu bestechen. Der Bote sollte Daimyo Yukimura als Belohnung für seinen Seitenwechsel die Provinz Shinano in Aussicht stellen! Daimyo Yukimura hat natürlich sofort abgelehnt.«

»Aber herrscht in Shinano nicht Kazukis Vater?«, fragte Takuan.

»Doch.« Emi lachte. »Daraus schließen wir ja, dass Daimyo Kamakura ziemlich verzweifelt sein muss.«

Yamato kniff die Augen zusammen. »Wenn ich Kazuki je wieder begegne, verliert er noch viel mehr als nur eine Provinz«, schnaubte er.

Jack überlegte, wo Kazuki stecken mochte. Masamoto hatte ihn suchen lassen, man hatte ihn aber nicht gefunden. Die Schüler sprachen nicht mehr über seinen Verrat, aber er blieb im allgemeinen Bewusstsein wie ein Splitter unter der Haut, der sich entzündet hat.

Sensei Hosokawa war hinter ihnen auf der Brüstung erschienen. »Wegtreten!«, befahl er. »Ihr sollt ins Quartier kommen.«

Die Schüler versammelten sich im Hof. Jede Einheit wurde von einem Sensei angeführt.

Vor ihnen stand mit ernstem Gesicht Masamoto.

»Ich habe euch zusammengerufen, um eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit zu besprechen.«

Jack wechselte einen besorgten Blick mit Akiko und Yamato. Meinte Masamoto den Einbruch? Die drei hatten in dem allgemeinen Aufruhr, den das Eintreffen von Daimyo Kamakuras Armee verursacht hatte, unbemerkt in ihr Quartier zurückkehren können. Pater Bobadillo blieb freilich eine Bedrohung. Er wusste, dass jemand in seinem Zimmer gewesen war, und Jack war davon überzeugt, dass der Pater ihn verdächtigte. Er hatte ihm genau den Vorwand geliefert, den er brauchte, um ihn unglaubwürdig zu machen. Hatte der Pater mit Masamoto gesprochen?

»Ein Krieg steht unmittelbar bevor und wir müssen darauf gefasst sein, dass wir kämpfen werden.«

Yori begann zu zittern wie ein Blatt.

»Wir werden kämpfen wie ein Mann«, rief Masamoto und marschierte, die Hand auf die Scheide seines Schwertes gelegt, an den Reihen der Schüler entlang.

»Nicht der leiseste Zweifel darf euch verunsichern. Vertraut einander– bedingungslos.«

Masamoto blieb vor Jacks Reihe stehen, holte tief Luft und schien einen Augenblick lang mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Jack begann zu schwitzen. Jetzt steckte er ernsthaft in Schwierigkeiten.

»Ein Mitschüler hat durch sein verräterisches Tun die Moral unserer Schule untergraben.«

Jack tat einen stummen Seufzer der Erleichterung. Offenbar hatte man sie wegen Kazukis Verrat zusammengerufen.

»Angesichts der bevorstehenden Kämpfe ist dies sehr gefährlich. Sensei Yamada, bitte stehen Sie unseren jungen Samurai mit Ihrer Weisheit bei.«

Sensei Yamada trat auf seinen Stock gestützt schlurfend vor.

»Jeder Baum hat einen schlechten Apfel, aber das bedeutet nicht, dass der ganze Baum faulig ist.« Er zwirbelte beim Sprechen das Ende seines langen, grauen Barts zwischen den Fingern und seine sanften Worte drangen auf geheimnisvolle Weise durch den Krach und das Donnern der Kanonen. »Eine Zeit der Prüfung wie diese stärkt die Wurzeln unserer Kraft als Schule.«

Er trat zu Akiko. »Deinen Köcher, bitte.«

Verwirrt nahm Akiko ihren Köcher vom Rücken. Sensei Yamada zog einen Pfeil heraus und gab ihn Yamato.

»Zerbrich ihn.«

Yamato sah ihn entgeistert an, aber Sensei Yamada nickte auffordernd. Vor den Blicken der anderen nahm Yamato den Pfeil in die Hände und brach ihn mühelos entzwei.

Daraufhin nahm Sensei Yamada drei Pfeile aus dem Köcher und gab sie ihm. »Zerbrich alle drei auf einmal.«

Yamato bat Akiko mit einem stummen Blick um Entschuldigung dafür, dass er gleich noch mehr ihrer kostbaren, mit Falkenfedern bestückten Pfeile kaputt machen würde. Er begann zu drücken, doch die hölzernen Schäfte gaben nicht nach– nicht einmal, als er das Knie dagegenstemmte. Wie sehr er sich auch anstrengte, die Pfeile wollten nicht zerbrechen. Sensei Yamada bedeutete ihm, seine Versuche einzustellen.

»Ein Samurai allein ist wie ein einzelner Pfeil«, erklärte er und gab Akiko den Köcher zurück. »Er kann töten, aber man kann ihn auch zerbrechen.«

Er hielt die drei Pfeile hoch.

»Nur indem wir unsere Kräfte vereinigen, sind wir stark und unbesiegbar. Denkt daran, Schüler der Niten Ichi Ryu. Ihr seid durch die sieben Tugenden des Bushido auf ewig miteinander verbunden.«

»Hai, Sensei!«, brüllten die Schüler, vom Gemeinschaftsgeist beseelt. »Lang lebe die Niten Ichi Ryu!«

Die Mauern des Burghofs warfen den Schrei zurück. Im selben Augenblick verstummten draußen die Kanonen.