38
Pater Bobadillo
Jack wurde abgeführt. Es ging eine schmale Straße entlang. Dann rückten die Mauern auf beiden Seiten zusammen und sie gelangten an ein mächtiges, eisenverstärktes Tor. Davor standen Fußsoldaten, die mit Speeren bewaffnet waren. Das Tor schwang auf und sie betraten einen von Pflaumen- und Kirschbäumen gesäumten Innenhof. Unmittelbar vor ihnen ragte der Hauptturm auf. Jack musste den Kopf in den Nacken legen, um das oberste Stockwerk zu sehen.
Sie kamen an einem Teegarten mit einem ovalen Teich und an einem Brunnenhaus vorbei und standen schließlich vor dem Haupteingang des Turms, einem in den gewaltigen steinernen Sockel eingelassenen Tor. Die davor postierten Samuraiwachen griffen nach ihren Schwertern und riefen sie an. Der Rat der Regenten ging, was Satoshis Sicherheit betraf, kein Risiko ein. Jack sah, dass eine weitere Wachmannschaft um den Turm patrouillierte. Der Anführer seiner Begleiter sagte die Parole und das Tor ging auf.
Drinnen traten die Wachen die Sandalen von ihren Füßen. Jack folgte ihrem Beispiel. Der holzverkleidete Raum war dunkel und es dauerte eine Weile, bis Jacks Augen sich daran gewöhnt hatten. Ein seitlicher Durchgang führte zu einem Raum, in dem Schießpulver, Musketen, Arkebusen und Speere lagerten. Jack hatte erwartet, dass eine steinerne Treppe in den Hauptstock führen würde, musste zu seinem Erstaunen aber feststellen, dass allein schon der Sockel in drei Etagen unterteilt war. Sie stiegen verschiedene Holztreppen hinauf und passierten weitere Wachen und zahlreiche Zimmer. Erst auf der vierten Ebene gab es Fenster.
Die Sonne stand inzwischen tief über dem Horizont und Jack sah kilometerweit über die Tenno-ji-Ebene. Unter ihm lagen die drei Mauerringe der Burg und dahinter die Stadt, die sich wie eine Flickendecke zum Hafen und zum Meer erstreckte. Alles quälend nah. Vielleicht, dachte Jack, fand er ja, wenn alles vorbei war, im Hafen ein japanisches Schiff, das nach Nagasaki fuhr, und konnte von dort nach Hause zurückkehren.
Seine Begleiter blieben abrupt vor einer großen Holztür im fünften Stock stehen. Hier standen keine Wachen. Jack hatte keine Ahnung, was ihn dahinter erwartete. Seine Begleiter hatten nicht mehr mit ihm gesprochen, er wusste also nicht, ob er verhaftet war oder gleich dem künftigen Kaiser gegenüberstehen würde. Wieder spürte er das mulmige Gefühl in der Magengrube. Die Tür wurde geöffnet.
»Komm herein«, sagte eine ölig glatte Stimme.
Es war der Europäer aus Satoshis Gefolge. Seine Haare glänzten im Lampenlicht wie nass. Er trug keinen japanischen Kimono mehr, sondern die knopflose Soutane und den Umhang eines portugiesischen Jesuiten. Jack kämpfte die Angst nieder, die in ihm aufstieg. Vor ihm stand ein eingeschworener Feind Englands, der in der Burg eine mächtige Stellung bekleidete.
Er trat ein und blieb verwirrt stehen. Ihm war, als hätte er in eine andere Welt hinübergewechselt. Das Zimmer war europäisch eingerichtet. Wände und Decke waren holzgetäfelt. Das beherrschende Möbelstück war ein schwerer Eichentisch mit aufwendig geschnitzten Beinen. Auf ihm standen zwei silberne Kerzenleuchter und ein mit Wasser gefüllter Zinnkrug. Dahinter befand sich ein großer Holzstuhl, auf den der Priester sich jetzt setzte. Die Kopflehne war mit einem verschlungenen Blumenmuster verziert, wie es an den europäischen Höfen überaus beliebt war. In einer Ecke stand eine mit einem großen Schloss gesicherte dunkelbraune Truhe. An der Wand darüber hing ein Ölgemälde, das den heiligen Ignatius zeigte, den Gründer des Jesuitenordens. In einer Wandnische reihten sich einige dicke, ledergebundene Bücher. Die Einrichtung war in jeder Beziehung unjapanisch und Jack wurde augenblicklich von Heimweh überwältigt.
»Setz dich!«, befahl der Priester, sobald die Tür sich hinter Jack geschlossen hatte.
Mechanisch kniete Jack sich auf den Boden.
»Auf den Stuhl.« Der Priester zeigte mit einer ungeduldigen Handbewegung auf den Lehnstuhl hinter Jack. »Du hast offenbar vergessen, wer du bist. Nicht dass ich dir Vorwürfe mache. Wer zu lange unter Japanern lebt, wird verrückt. Deshalb wollte ich mir wenigstens in diesem Zimmer unbedingt ein Stück Portugal bewahren. Dieses Zimmer ist meine Zuflucht vor ihren erstickenden Ritualen, Förmlichkeiten und Benimmregeln.«
Jack setzte sich. Er war immer noch sprachlos.
»Verstehst du mich?«, fragte der Priester. Er betonte jedes Wort einzeln, als sei Jack schwer von Begriff. »Oder soll ich lieber Englisch sprechen?«
Sofort war Jack hellwach. Misstrauen regte sich in ihm. Dem Priester haftete trotz seiner äußeren Freundlichkeit etwas Verschlagenes, Hinterhältiges an. Jack hatte ihm noch nicht gesagt, woher er kam, doch offenbar wusste der Priester es schon aus einer anderen Quelle. Jack hätte nach so vielen Jahren natürlich liebend gern wieder einmal Englisch gesprochen, wollte sich aber nicht für dumm verkaufen lassen.
»Gerne Japanisch«, erwiderte er deshalb. »Oder Portugiesisch, wenn Ihnen das lieber ist.« Gott sei Dank hatte seine Mutter, eine Lehrerin, ihm einige Brocken davon beigebracht.
Der Priester lächelte schmallippig. »Freut mich, dass ich es mit einem gebildeten Menschen zu tun habe. Ich fürchtete einen Moment schon, du könntest ein primitiver Schiffsjunge sein. Aber wir werden uns auf Englisch unterhalten. Bestimmt vermisst du deine Muttersprache. Ich bin Pater Diego Bobadillo, Bruder der Gesellschaft Jesu und Anführer der Missionare hier in Japan. Außerdem bin ich ein wichtiger Berater Seiner Hoheit Hasegawa Satoshi.«
Also das war der Mensch, dem er auf Bitten von Pater Lucius, dem Jesuitenpriester von Toba, das Japanisch-Portugiesisch-Lexikon hatte übergeben sollen.
»Ich sollte Sie aufsuchen«, platzte Jack heraus. »Ich kannte Pater Lucius.«
Der Priester hob eine Augenbraue, schien aber nicht weiter überrascht. Offenbar hatte Pater Lucius seinem Vorgesetzten von Jack berichtet.
»Er bat mich auf dem Sterbebett, dafür zu sorgen, dass Sie sein Lexikon bekommen. Leider wurde es gestohlen.«
»Das ist sehr schade, aber mach dir deshalb keine Sorgen«, antwortete der Priester mit einer gleichgültigen Handbewegung.
Jack war erleichtert und erstaunt zugleich. »Aber das Lexikon war Pater Lucius’ Lebenswerk. Er hat über zehn Jahre daran gearbeitet. Es sei das einzige seiner Art, sagte er…«
»Weg ist weg.«
»Drachenauge hat es gestohlen, der Ninja.«
»Ich kann nicht behaupten, den Namen je gehört zu haben«, sagte der Priester stirnrunzelnd. »Aber was sollte ein Ninja mit einem Lexikon anfangen?«
»Er war nicht hinter dem Lexikon her, sondern…«
Jack brach ab. Der Priester war schlau und verstand es, ihn zum Reden zu bringen, indem er Englisch mit ihm sprach. Wenn Jack nicht aufpasste, verplapperte er sich.
»Sprich weiter«, sagte Pater Bobadillo.
Da hatte Jack einen Einfall. Vielleicht konnte der einflussreiche Jesuit eine offizielle Suche nach Drachenauge anregen, sodass er den Portolan wiederbekam.
»Der Ninja war… hinter mir her«, verbesserte er sich. »Aber Pater Lucius meinte, die Jesuiten bräuchten ein solches Lexikon unbedingt, um ihren Glauben in Japan zu verbreiten. Sie wollen es doch bestimmt von dem Ninja zurückbekommen.«
»Für den Fall, dass du es noch nicht bemerkt hast: Wir stehen kurz vor einem Krieg«, sagte Pater Bobadillo mit beißendem Spott. »Ein Lexikon ist das geringste meiner Probleme. Ein viel größeres bist du.«
»Ich?«
Pater Bobadillo runzelte die Stirn. »Es stimmt doch, dass Pater Lucius dich nicht überreden konnte, dem rechten Glauben zu folgen, nicht wahr?«
»Ich folge bereits dem rechten Glauben«, erwiderte Jack heftig.
Pater Bobadillo stöhnte. »Wir wollen hier nicht über die Bedeutung von Wörtern oder über verlorene Seelen reden. Ich habe Seine Hoheit über die verräterischen Ziele der Engländer informiert.«
Er hob die Hand zum Zeichen, dass Jack ihn nicht unterbrechen sollte.
»Ich möchte klarstellen, dass deine Anwesenheit in dieser Burg nur geduldet wird, weil Masamoto-sama dich adoptiert hat. Wenn Seine Hoheit diesen Krieg gewinnt, wird der jesuitische Glauben Staatsreligion und Ketzer wie du sind hier nicht mehr willkommen. Endgültig nicht mehr.«
Jack fragte sich, wie der Priester so sicher sein konnte, dass die Jesuiten an die Macht kommen würden, doch dann fiel ihm das silberne Kreuz an Satoshis Hals ein. Offenbar hatte der Priester sich bei Satoshi und seinen engsten Vertrauten eingeschmeichelt und war zu Satoshis geistlichem Berater geworden.
»Ich will offen mit dir sprechen, Jack Fletcher. Du scheinst dich nicht ungeschickt anzustellen, sonst hättest du in Japan nicht so lange überlebt.«
Pater Bobadillo stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen aneinander. »Als Engländer und Protestant bist du ein Feind meines Landes und meines Ordens. Aber angesichts deines Alters und deiner Bereitschaft, für Seine Hoheit zu kämpfen, mache ich dir einen Vorschlag. Wenn du mir keine Schwierigkeiten bereitest, verbürge ich mich persönlich dafür, dass du nach Kriegsende sicher nach England zurückkehren kannst. Das willst du doch, nicht wahr?«
Jack sah ihn verwirrt an. Da versprach ihm jemand die Erfüllung seines größten Wunsches! Aber dieser Jemand war ein portugiesischer Jesuit, ein Erzfeind seines Landes. »Wie kann ich Ihnen trauen?«
»Ich schwöre es dir bei Gott. Ich habe Schiffe zu meiner Verfügung und werde deine Rückkehr durch einen Brief mit meinem Siegel sicherstellen.«
Jack nickte nur mechanisch.
»Gut, dann wäre das beschlossen. Du wirst mit niemandem über diese Unterhaltung sprechen und wenn du Seine Hoheit oder ein Mitglied seines Gefolges triffst, wirst du nicht über die politischen und religiösen Konflikte unserer Länder sprechen. Das versteht sich von selbst. Du kannst jetzt gehen.«
Jack stand benommen auf, verbeugte sich und wandte sich zum Gehen. Dabei fiel sein Blick auf die ledergebundenen Bücher in der Nische. Eines davon kam ihm seltsam bekannt vor.
Er sah genauer hin. Zwischen einer Bibel und einer Predigtsammlung stand Pater Lucius’ Lexikon.