18
Ruf zu den Waffen

Das Messer schwebte über Jacks Nasenrücken, als jemand gegen die Tür schlug.

»Steck ihm einen Knebel in den Mund!«, sagte der Anführer und gab Plattnase einen schmutzigen Lappen. »Und du siehst nach, wer draußen ist.«

Der kahlköpfige Soldat stand auf und ging zur Tür.

Plattnase stopfte Jack das verdreckte Tuch in den Mund. Jack würgte.

Plattnase beugte sich über ihn. »Ein einziger Laut und ich schneide dir die Kehle durch«, zischte er. Speicheltröpfchen regneten auf Jacks Gesicht hinunter.

Jack starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Der unerwartete Besucher war seine einzige Hoffnung, doch er war gefesselt und geknebelt und damit hilflos. Er konnte nur beten, dass der Besucher hereinkam und ihn sah.

Der Kahlkopf öffnete die Tür einen Spalt. »Da ist nur ein blinder Bettler«, sagte er.

Jacks Hoffnung schwand.

»Sag ihm, dass wir kein Tempel sind«, befahl der Anführer. »Wir geben keine Almosen.«

»Verschwinde!«, rief der Kahlkopf und schlug dem Bettler die Tür vor der Nase zu.

Plattnase drehte sich mit dem Messer in der Hand wieder zu Jack um und lächelte. Seine Zahnlücken wurden sichtbar. Er brannte darauf, mit der Bestrafung zu beginnen.

»Lass den Knebel drin«, wies der Anführer an. »Sonst alarmiert er mit seinem Geschrei noch das ganze Viertel.«

Völlig unerwartet explodierte die Tür nach innen. Das gesplitterte Holz traf den Kahlkopf und warf ihn um. Plattnase sprang auf. In der Tür stand ein bärtiger Riese.

Sensei Kano.

Jack hätte am liebsten einen Freudenschrei getan, doch der Knebel hinderte ihn daran.

Plattnase rannte mit seinem Messer auf den bo-Meister zu. Sensei Kano hörte ihn auf den hölzernen Dielen näher kommen, hob seinen Stock und schlug ihm hart ins Gesicht. Er erwischte ihn am Kinn. Plattnase ging zu Boden und blieb bewegungslos liegen.

Der Kahlkopf hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und sein Langschwert gepackt. Schon sauste das Schwert durch die Luft und auf Sensei Kanos Hals zu. Der bo-Meister spürte den Angriff und duckte sich unter der Klinge hindurch. Zugleich ging das andere Ende seines Stocks krachend auf den Schädel des Mannes nieder. Der Kahlkopf schwankte und ließ sein Schwert fallen. Sensei Kano stieß ihm die Spitze seines Stocks in den Bauch. Nach Luft ringend fiel der Kahlkopf auf die Knie. Ein dritter Stoß streckte ihn flach auf dem Rücken aus. Er rührte sich nicht mehr.

Der Anführer hatte zu Jacks Verwunderung bisher noch nicht eingegriffen. Jack hörte ein Klappern links von sich und sah aus den Augenwinkeln eine Schwertscheide auf den Boden fallen. Sensei Kano wandte sich seinem Angreifer zu.

Doch der Anführer tauchte plötzlich rechts von Jack auf und schlich sich lautlos an den blinden Samurai heran. Jetzt erblickte Jack ihn zum ersten Mal. Mit roten Augen und seinem Schnurrbart, zwei dicken, schwarzen Haarbüscheln rechts und links der Nase, sah er aus wie der Leibhaftige. Seine Augen funkelten heimtückisch. Er trug die Sandalen in der Hand und ging am Rand des Zimmers entlang, wo die Dielen nicht knarrten. In der anderen Hand hielt er ein Langschwert, dessen Klinge von vielen Kämpfen schartig geworden war. Er warf eine Sandale an die Stelle, an der schon seine Schwertscheide lag, und näherte sich zugleich Sensei Kano von der anderen Seite.

Sensei Kano streckte seinen Stock in die Richtung des Lärms aus und schien den von hinten nahenden Mann nicht zu bemerken.

Der warf als weitere Ablenkung die zweite Sandale in die hinterste Ecke des Zimmers und schlug anschließend mit dem Schwert nach Sensei Kanos Rücken. Doch da war der bo-Meister bereits auf die Knie gefallen und hatte dem Angreifer seinen Stock rückwärts in die Leisten gestoßen. Der Soldat krümmte sich vor Schmerzen. Sensei Kano drehte sich blitzschnell zu ihm um und versetzte ihm einen furchtbaren Schlag gegen die Schläfe. Der Mann brach bewusstlos zusammen.

Jack hatte den Kampf wie gebannt verfolgt und nicht bemerkt, dass Plattnase wieder zu Bewusstsein gekommen war. Jetzt kroch er auf ihn zu. Sein Mund stand offen und war voller Blut und eingeschlagener Zähne.

»Stirb, Gaijin!«, röchelte er.

Jack wollte ihm ausweichen, aber Plattnase kniete bereits über ihm und hob das Messer, um es Jack in die Brust zu stoßen.

Da flog ein Stock wie ein Speer durch das Zimmer und traf Plattnase seitlich am Kopf. Seine Augen verschwanden in ihren Höhlen und er fiel mit dem Gesicht voraus auf den Boden. Dabei schlug er sich noch einige weitere Zähne aus.

Yamato rannte ins Zimmer.

»Bist du verletzt?«, fragte er und zog Jack den Knebel aus dem Mund.

»Nein«, hustete Jack. »Sensei Kanos Stock hat mich gerettet.«

»Das war meiner!«

»Du hast ihn geworfen?« Jack war beeindruckt.

»Ein neuer Trick, den ich heute gelernt habe«, erklärte Yamato stolz, während er Jacks Fesseln aufknotete.

»Aber einer, den man nur im äußersten Notfall anwenden sollte, weil man dabei seine Waffe opfert«, ergänzte Sensei Kano. Er zog die drei bewusstlosen Soldaten in die Mitte des Zimmers. »Fessle diese Männer mit der Schnur, Yamato-kun. Über ihr Schicksal wird Masamoto-sama entscheiden.«

»Sie haben Glück, dass Sie noch leben, Sensei«, sagte Jack. Er setzte sich auf und rieb sich die Handgelenke. »Ich fürchtete schon, der letzte Angreifer hätte Sie überlistet.«

»Mit Glück hatte das nichts zu tun«, erwiderte Sensei Kano. »Der Mann hat sich seit einem Monat nicht gewaschen. Ich habe ihn überlistet.«

»Aber wie haben Sie mich überhaupt gefunden?«, fragte Jack neugierig.

»Yori rannte zum Eikan-do-Tempel zurück und erzählte uns, was passiert war«, sagte Yamato, während er die drei Männer an den Händen aneinanderfesselte. »Am Anfang war es einfach. Wir brauchten nur der Spur des Wassers zu folgen, das aus deinem Kimono tropfte. Aber dann war die Spur getrocknet. Zum Glück konnte Sensei Kano dich in der Nähe riechen.«

»Aber ich habe erst gestern gebadet«, protestierte Jack.

»Ausländer riechen anders als Japaner«, erklärte Sensei Kano. Er rümpfte die Nase und begann herzhaft zu lachen.

Anschließend begleitete er Jack, Yamato und die Gefangenen zur Schule zurück. Kurze Zeit später ließ Masamoto Jack in die Halle des Phönix rufen. Er saß mit gekreuzten Beinen auf seinem erhöhten Platz.

»Trotz meiner Bemühungen im Namen von Daimyo Takatomi gewinnt Daimyo Kamakura mit seinem Feldzug gegen Christen und Ausländer immer mehr Anhänger«, begann er ernst.

Eine Dienerin trat mit einer Kanne Grüntee ein, schenkte ihnen beiden eine Tasse ein und verschwand wieder. Masamoto nahm seine Tasse, schien aber zu tief in Gedanken, um zu trinken.

»Wir wissen, dass er für alle, die Christen einer sogenannten gerechten Strafe zuführen, eine Belohnung ausgesetzt hat. Daimyo Takatomi, der selbst erst vor Kurzem zum Christentum übergetreten ist, war darüber beunruhigt. Ich habe mir allerdings um deine persönliche Sicherheit keine Sorgen gemacht, Jack-kun. Was Daimyo Kamakura in Edo beschließt, gilt nicht für Kyoto und die anderen Provinzen. Mit ronin habe ich allerdings nicht gerechnet.«

»Ronin?«, fragte Jack.

»Herrenlose Samurai.« Masamoto nippte an seinem Tee, doch war der für seinen Geschmack schon zu sehr abgekühlt. »Als der Bürgerkrieg mit der Schlacht am Nakasendo vor zehn Jahren endete, wurden viele Soldaten arbeitslos. Ronin suchen sich einen Daimyo, dem sie dienen und für den sie kämpfen und notfalls sterben können. Wofür sie kämpfen, spielt selten eine Rolle, solange sie genug zu essen haben und eine Fahne tragen können.«

Masamoto stellte seine Tasse ab und musterte Jack. Er seufzte müde und faltete die Hände unter dem Kinn, als sei er unschlüssig, ob er Jack eine beunruhigende Nachricht mitteilen sollte.

»Daimyo Kamakura ruft jetzt offen zu den Waffen«, eröffnete er Jack schließlich. »Er rekrutiert ronin und ashigaru und wirbt um die Unterstützung sympathisierender Daimyos. Über seine Absichten besteht kein Zweifel. Ich bin über diese Entwicklung sehr besorgt.«

»Meinen Sie, ich soll das Land verlassen?«, fragte Jack hoffnungsvoll und ängstlich zugleich.

Er träumte davon, nach England zurückzukehren. Allein hatte er keine Chance, die lange Reise nach Südwesten zur Hafenstadt Nagasaki zu überstehen. Anders war es mit Masamotos Hilfe, wenn sein Vormund ihn führte und beschützte. Doch Jack schwankte, ob er überhaupt schon jetzt gehen sollte. Er war noch nicht bereit. Er hatte die Technik der beiden Himmel noch nicht gelernt und Drachenauge nicht besiegt. Vor allem aber musste er sich den Portolan seines Vaters zurückholen, obwohl ihm allmählich Zweifel kamen, ob ihm das je gelingen würde. Masamoto hatte noch nichts über den Verbleib des Logbuches in Erfahrung bringen können.

»Nein!«, rief Masamoto heftig. »Daimyo Kamakura wird dich nicht aus diesem Land vertreiben können. Du bist mein Adoptivsohn und gehörst zu meiner Familie. Du bist ein Samurai!«

Jack erschrak über den leidenschaftlichen Ausbruch seines Vormunds. Das war der zweite Grund, der ihn in Japan hielt: Er hatte hier eine Familie gefunden– in Masamoto eine Art Vater und in Yamato einen Bruder, in Yori und Saburo gute Freunde. Und Akiko war so sehr ein Teil seines Lebens geworden, dass er sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen konnte. Japan war ihm vertraut geworden, hatte einen Platz in seinem Herzen gefunden, und die Vorstellung, es zu verlassen, fiel ihm täglich schwerer.

»Außerdem«, fuhr sein Vormund fort, »habe ich den Verdacht, dass hinter Daimyo Kamakuras Feldzug viel mehr steckt als nur der Hass auf Ausländer.«

Jack sah Masamoto neugierig an. Er war dem Daimyo schon begegnet und hatte seine Grausamkeit und Machtgier kennengelernt. Damals hatte er als Augenzeuge erlebt, wie ein Samurai des Daimyo einen alten Teehändler geköpft hatte, nur weil der Alte den Befehl, sich vor dem vorbeifahrenden Daimyo Kamakura zu verbeugen, nicht gehört hatte. Konnte der Daimyo etwas noch Schlimmeres im Schilde führen als die Verbannung und Ermordung aller Ausländer?

»Aber ich werde heute Abend zu allen darüber sprechen. Jetzt muss ich mich um die Bestrafung der drei ashigaru kümmern, die dich entführt haben.«

Masamoto erhob sich und nahm seine beiden Schwerter auf.

»Werden Sie die Männer töten?«, fragte Jack. Er war nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt wissen wollte.

»Ich habe es ernsthaft in Erwägung gezogen. Doch Sensei Yamada hat mich überzeugt, dass sie uns als Boten nützlicher sind. Alle, die ihnen begegnen, werden wissen, dass die Verfolgung von Ausländern in der Provinz Kyoto nicht geduldet wird.«

»Was haben Sie mit ihnen vor?«

»Ich sage nur, dass sie nach ihrer Bestrafung nur noch bis acht zählen können– sowohl mit den Fingern wie mit den Zehen!«