24
Der Spion

»Die Wunde blutet wieder«, sagte Takuan, als er und Jack ihre Pferde am folgenden Abend zum Stall der Schule zurückführten. »Sie muss beim letzten Galopp aufgegangen sein.«

Jack hob die Hand an seine Wange, über die sich eine feuerrote Linie zog.

»Wenn das verheilt ist, behältst du eine ansehnliche Narbe zurück«, meinte Takuan. »Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du dir die Wunde zugezogen hast.«

»Beim Üben der Technik der beiden Himmel«, antwortete Jack knapp.

»Gott sei Dank bin ich nicht in dieser Klasse!«

»Was meinst du?«

»Akiko hat sich auch schon im Unterricht verletzt.«

Jack starrte Takuan verständnislos an.

»Hast du nicht den Verband an ihrem Arm bemerkt?«

Jack schüttelte den Kopf. Soviel er wusste, hatte sich im Unterricht bisher niemand verletzt. Zwar hatte er nicht die Wahrheit über seine Wunde gesagt, aber warum sollte Akiko lügen? Und wo hatte sie sich überhaupt verletzt?

»Ich muss gehen«, sagte Takuan und gab Jack die Zügel seines Pferdes. »Es macht dir doch nichts aus, beide Pferde zu versorgen? Ich muss Akiko mit ihrem Haiku helfen.«

»Nein, natürlich nicht.« Jack zwang sich zu einem Lächeln.

»Danke. Das nächste Mal arbeiten wir dann an deiner Sitzhaltung.«

Takuan verbeugte sich und kehrte zur Schule zurück.

Jack sattelte die Pferde ab und leinte sie in ihren Boxen an. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Er musste sich beeilen. Bestimmt wartete Taro schon im Butokuden. Jack übte viel lieber mit dem Schwert als mit dem Pferd. Schon die erste gemeinsame Stunde mit Taro hatte ihm sehr geholfen. An ihrem Ende hatte er den Flint-und-Funken-Schlag schon fast beherrscht. Taro war der geborene Lehrer, sie hatten deshalb vereinbart, sich jeden Abend zu treffen, um den ersten Erfolg auszubauen. Beim Frühstück an diesem Morgen hatte er Akiko von Taro vorgeschwärmt, in der Hoffnung, sie würde ebenfalls mitmachen, aber vergeblich. Sie hatte schon eine Verabredung. Jetzt wusste er auch, mit wem– Takuan.

Er gab gerade noch etwas zusätzliches Heu in die Futtertröge der Pferde, da hörte er, wie die Hintertür des Stalls geöffnet wurde.

»Was hast du herausgefunden?«, fragte die heisere Stimme eines Mädchens leise.

»Mein Vater hat mir gesagt, dass Daimyo Kamakuras Armee schon fünfzigtausend Mann stark ist.«

Jack erkannte Kazukis Stimme sofort.

»Fünfzigtausend!«, rief das Mädchen aufgeregt.

Jack schlich leise in eine angrenzende leere Box und spähte durch einen Spalt im Holz. Kazuki saß neben Moriko, deren bleiches Gesicht geisterhaft durch das Dunkel leuchtete.

»Unser Fürst ist also zum Angriff bereit«, sagte Moriko eifrig. »Dann können wir den Gaijin jetzt erledigen und vernichten wie eine Ratte!«

»Noch nicht!«

Moriko sah Kazuki verwirrt an.

»Keine Sorge, der Gaijin entgeht seinem Schicksal nicht. Er hat jetzt zur Erinnerung daran eine Narbe im Gesicht.« Kazuki fuhr sich hämisch grinsend mit dem Finger über die linke Wange.

Morikos Augen leuchteten schadenfroh auf. »Dann sieht er noch hässlicher aus!«

Die beiden lachten über die Vorstellung und Jack spürte, wie seine Wunde pochte. Ausgerechnet Moriko findet mich hässlich, dachte er. Mit ihren schwarzen Zähnen!

»Aber wann wird Daimyo Kamakura zuschlagen? Wann kann die Skorpionbande loslegen?«

»Geduld, Moriko«, sagte Kazuki und legte die Hand auf ihr Knie. »Der Fürst wartet noch darauf, dass weitere Samurai sich ihm anschließen. Mein Vater sagte, Daimyo Satake von der Provinz Dewa sei kürzlich zu ihm gestoßen. Aber Daimyo Kamakura braucht die Hilfe aller Fürsten des Nordens.«

»Warum? Er hat doch schon genug Samurai, um die Gaijin aus unserem Land zu vertreiben.«

»Aber noch nicht genug, um sich zum Herrscher des Landes zu machen.«

»Die Gerüchte sind also wahr?«, flüsterte Moriko.

Kazuki nickte.

»Woher weißt du das?«

»Mein Vater ist ein enger Vertrauter Daimyo Kamakuras.« Kazuki beugte sich näher zu Moriko und senkte die Stimme verschwörerisch. »Ich wurde auf Befehl von Kamakura persönlich mit einem ganz besonderen Auftrag betraut.«

»Was musst du tun?« Moriko klang ehrfürchtig.

»Der kluge Falke verbirgt seine Krallen.«

Moriko sah ihn verwirrt an. »Das verstehe ich nicht.«

»Ein großer Krieger zeigt seine wahre Stärke erst, wenn die Zeit gekommen ist. Aber dann wird Daimyo Kamakura mich für meine Dienste belohnen.«

»Womit?«

»Mit einer eigenen Burg!«

Moriko konnte ihre Begeisterung nur mühsam zügeln.

»Du wärst ein Daimyo!«, rief sie.

Jack hatte genug gehört. Akiko hatte gesagt, die Familie Oda kämpfe auf der Seite von Daimyo Takatomi, doch das stimmte nicht mehr. Er musste sofort Masamoto davon verständigen.

Unbemerkt schlich er aus dem Stall und machte sich eilig auf den Rückweg zur Schule.

Auf dem Hof sah er, wie sein Vormund gerade zusammen mit Sensei Yamada in der Buddha-Halle verschwand. Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte er die Treppe hinauf. Die beiden standen in ein Gespräch vertieft vor dem großen bronzenen Buddha. Jack stürzte durch die Tür zu ihnen.

»Ich habe drüben im Stall… Kazuki reden gehört…«, keuchte er atemlos. »Sein Vater steht auf Daimyo Kamakuras Seite…«

»Das wissen wir«, fiel Masamoto ihm mit erhobener Hand ins Wort.

Jack schwieg entgeistert.

Die beiden Samurai wechselten einen ernsten Blick, dann sagte Sensei Yamada: »Ich glaube, wir haben keine andere Wahl, als ihn einzuweihen.«

Masamoto wandte sich an Jack. »Wir vertrauen dir jetzt ein Geheimnis an, das niemand erfahren darf. Hast du verstanden?«

Jack verbeugte sich zum Zeichen, dass er sich des Ernstes der Lage bewusst war.

»Oda-san steht in Wirklichkeit auf unserer Seite«, fuhr Masamoto fort. »Er informiert uns über Daimyo Kamakuras Pläne.«

»Kazukis Vater ist ein Spion?«

Masamoto nickte. »Um zu verhindern, dass Kamakura Verdacht schöpft, musste Oda-sans ganze Familie ihm Treue geloben, auch Kazuki-kun. Sie alle wissen nichts davon.«

Auch Kazuki glaubte fest, dass sein Vater Daimyo Kamakura diente, dachte Jack. Das machte ihn gefährlich.

Masamoto sah ihm an, was er dachte. »Mach dir keine Sorgen wegen Kazuki. Oda-san wird seinem Sohn die Wahrheit sagen, wenn die Zeit gekommen ist. Bis dahin darfst du allerdings niemandem ein Sterbenswörtchen verraten. Wenn Daimyo Kamakura davon erfährt, lässt er Oda-san und seine Familie sofort hinrichten.«

Jack nickte. »Ich verspreche, dass ich nichts sage. Aber wenn Sie wissen, dass Daimyo Kamakura die Macht übernehmen will, warum hält der Rat der Regenten ihn nicht auf?«

»Es ist nicht so einfach«, sagte Masamoto. »Wir wissen zwar, dass es in dem bevorstehenden Konflikt nicht nur um den Glauben geht, aber Daimyo Kamakura erklärt öffentlich, er sei lediglich daran interessiert, die Christen und Ausländer zu vertreiben. Der Daimyo ist ein wichtiges Ratsmitglied und behauptet, in Satoshis bestem Interesse zu handeln. Er verkündet, dass er Japan gegen die angebliche Bedrohung durch die Gaijin verteidigt und im Namen des Kaisers kämpft.«

»Aber er tötet unschuldige Menschen. Reicht das nicht, um gegen ihn einzuschreiten?«

Masamoto schüttelte traurig den Kopf.

»Leider nein«, seufzte er. »Daimyo Kamakura ist geschickt wie ein Schachspieler. Solange er nicht gegen einen japanischen Daimyo ins Feld zieht, kann ihm niemand etwas anhaben. Sonst erscheinen die Regenten als Angreifer. Wenn wir einen Konflikt beginnen, sind wir die Feinde des Kaisers.«

»Der Krieg ist also unausweichlich«, sagte Jack.

»Nicht unbedingt. Alles hängt davon ab, ob Daimyo Kamakura genügend Unterstützung findet. Er hat eine große Armee, stellt aber noch keine Bedrohung für die vereinten Streitkräfte der anderen Regenten dar.«

Jack war sich da trotz Masamotos Versicherung nicht so sicher.

Etwas anderes stand dagegen schon jetzt fest: Ein Krieg würde ihm bei seiner Suche nach dem Portolan nicht helfen. Masamoto, dessen Nachforschungen bisher noch zu keinem Ergebnis geführt hatten, würde dem Logbuch keine vordringliche Bedeutung einräumen. Daran konnte Jack nichts ändern. Er konnte nur hoffen, dass es niemandem gelang, den Text zu entschlüsseln. Seine wichtigste Aufgabe war es jetzt, die Technik der beiden Himmel zu erlernen. Er musste sich auf die Zukunft vorbereiten– wie ungewiss auch immer diese sein mochte.