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Zwei Himmel

»Masamoto-sama und Sensei Hosokawa kämpfen gegeneinander!«, rief eine Schülerin und rannte zur Halle des Phönix.

Jack und Akiko, die zum morgendlichen Unterricht in dieselbe Richtung unterwegs waren, eilten ihr nach. Als sie sich der persönlichen Übungshalle Masamotos näherten, hörte Jack schon von draußen das Klirren der Schwerter. Er drängte sich durch die am Eingang versammelte Schülermenge, bis er die beiden Samurai sehen konnte. Sie kämpften ohne jede Rücksichtnahme und zu seiner Überraschung beide mit zwei Schwertern, dem langen und dem kurzen. Blitzend wie stählerne Raubvögel fuhren die Klingen durch die Luft.

Hosokawa schien die Oberhand zu haben und trieb Masamoto auf das Podest am hinteren Ende der Halle. Masamoto verteidigte sich mit einem Doppelschlag und hieb dabei fast einen seidenen Schirm mit einem aufgemalten brennenden Phönix entzwei. Hosokawa wehrte Masamotos Kurzschwert ab, doch konnte Masamoto mit dem Langschwert seine Verteidigung durchbrechen. Fast hätte er ihn durchbohrt. Im letzten Moment wich der Schwertkampflehrer mit einem raschen Schritt zur Seite aus. Masamoto setzte sofort nach.

»Wusstest du, dass sie einmal im Ernst gegeneinander gekämpft haben?«, fragte ein Schüler, der neben Jack stand.

Jack kannte ihn. Es war Taro, ein hochgewachsener, hübscher Junge mit kräftigen Armen und dunklen Augen, der als einer der besten Schwertkampfschüler der Schule galt. An seinen buschigen Augenbrauen konnte man erkennen, dass er Saburos älterer Bruder war. Als vollständig ausgebildeter Samurai genoss er höchsten Respekt unter seinen Mitschülern und verkörperte all das, wonach sein jüngerer Bruder strebte.

»Für mich sieht das hier auch ziemlich ernst aus«, antwortete Jack und verfolgte ungläubig, wie Hosokawa einen tückischen Schlag nach dem ungeschützten Hals seines Vormunds führte.

»Damals war es das wirklich«, sagte Taro. »Masamoto-sama forderte Sensei Hosokawa auf seiner Kriegerwallfahrt zum Kampf heraus.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sensei Hosokawa je ein Duell verloren hat.« Jack zuckte mitfühlend zusammen, als Masamoto die Waffe des Schwertkampflehrers abblockte und ihm die Schulter in die Brust rammte.

»Hat er auch nicht«, sagte Taro.

Jack runzelte verwirrt die Stirn. »Aber meines Wissens hat Masamoto-sama auf seiner Kriegerwallfahrt keinen einzigen Zweikampf verloren.«

»Vollkommen richtig. Die beiden kämpften einen Tag und eine Nacht ohne Pause. Dann musste ein Beamter der Stadt dazwischentreten und den Kampf abbrechen. Sie hatten bereits zwei Teehäuser und mehrere Marktstände zertrümmert!«

Jack musste lachen. Ihr Zen-Meister Sensei Yamada hatte einmal gesagt, Masamoto sei in seiner Jugend ein Hitzkopf gewesen. Jack konnte sich vorstellen, was die beiden für ein Trümmerfeld hinterlassen hatten.

»Ihr langer Zweikampf endete unentschieden«, sagte Taro. Masamoto und Sensei Hosokawa hatten inzwischen aufgehört zu kämpfen. »Sensei Hosokawa konnte Masamoto-sama dazu überreden, ihm die Technik der beiden Himmel beizubringen. Sie wurden Verbündete und gründeten gemeinsam die Niten Ichi Ryu.«

Die beiden Samurai steckten ihre Schwerter ein und verbeugten sich voreinander. Durch eine Seitentür trat ein Diener mit einer Teekanne und zwei Porzellantassen ein. Die beiden Samurai lachten über einen Scherz und tranken einander zu. »Kampai!«

»Sensei Hosokawa ist wahrscheinlich der einzige Samurai, dessen Schwertkunst sich mit der von Masamoto-sama messen kann«, sagte Taro. Er flüsterte, als grenze ein solcher Gedanke an Gotteslästerung. »Aber der Ehre halber müssen sie das Duell irgendwann einmal noch zu Ende kämpfen.«

»Alles, was ihr bisher an der Schule gelernt habt, war nur eine Vorbereitung auf die beiden Himmel«, verkündete Masamoto den acht in der Halle versammelten Schülern.

Jack konnte ihm nur zustimmen. Er kam sich wieder wie ein Anfänger vor. Wie alle anderen stand er in der Ausgangshaltung, das hölzerne Langschwert hoch erhoben in der Rechten und das hölzerne Kurzschwert auf Hüfthöhe in der Linken. Mühsam versuchte Jack die beiden Schwerter im Gleichgewicht zu halten und die Schläge durchzuführen, die Masamoto ihnen gezeigt hatte.

Er schlug mit rechts auf das Übungsschwert hinunter, das seine Trainingspartnerin Sachiko hielt. Sachiko war für ihre blitzschnellen Reaktionen bekannt. Sie hatte die schwarzen Haare straff zurückgekämmt und mit einem dekorativen roten Essstäbchen befestigt.

Nun führte Jack die Bewegung auch mit dem Kurzschwert aus. Dann wiederholte er beide Schläge und versuchte, schneller und genauer zu treffen. Er war es gewöhnt, das Schwert in beiden Händen zu halten. Das Gewicht von zwei Schwertern ließ seine Arme schmerzen und schwächte seinen Griff.

»Ihr fragt euch vielleicht, warum zwei Schwerter besser sein sollen als eins, wo doch alle anderen Samuraischulen den Kampf mit einem Schwert lehren«, fuhr Masamoto fort und folgte mit dem Blick prüfend den Versuchen seiner Schüler. »Zugegeben gibt es auch Situationen, in denen ein Schwert von Vorteil ist. Aber wenn es um euer Leben geht, müsst ihr euch aller Waffen bedienen, die euch zur Verfügung stehen. Es ist für einen Samurai eine Schande, besiegt zu werden, wenn ein Schwert noch in der Scheide steckt.«

Jack machte noch einige Versuche, dann tauschte er mit Sachiko und hielt den bokken für sie, während sie die Doppelschläge übte. Sachiko hatte bereits seit einem Jahr Unterricht. Ihre Bewegungen waren fließender und sie traf den bokken mit voller Wucht. Jacks Arm schmerzte jedes Mal bis ins Schultergelenk hinauf.

Nur sechs weitere Schüler genossen das Privileg, in der Technik der beiden Himmel unterrichtet zu werden. Gleich rechts von Jack übten Akiko und Kazuki, die wie Jack die Prüfungen des Kreises der Drei gemeistert und sich damit das Recht auf den Unterricht verdient hatten. Zu seiner Beruhigung sah Jack, dass auch Kazuki sich schwertat. Die nächsten beiden Schüler, Ichiro und Osamu, waren bereits fortgeschritten. Sie waren wie Sachiko wegen ihrer überragenden Begabung aus den älteren Jahrgängen ausgewählt worden. Sie hatten bereits mit zwei Schwertern trainiert und führten die Hiebe in rascher Folge aus. Ganz am Ende der Reihe standen ein Mädchen namens Mizuki und ihr Trainingspartner Taro. Sie schlugen mit einer Leichtigkeit, die von viel Übung zeugte, auf den bokken des anderen ein, ohne dabei ins Schwitzen zu geraten.

Masamoto beendete die Übung. »Ausgangshaltung einnehmen!«

Er ging an der Reihe der Schüler entlang und korrigierte sie.

»Mehr Kraft in den Nacken, Sachiko-chan.«

Er drückte Jacks Schultern nach unten. »Aufrecht stehen. Nicht den Hintern herausstrecken.«

Prüfend betrachtete er Kazuki. »Gut. Du stehst sehr sicher. Ihr müsst alle das Gefühl haben, dass euer Körper eine Einheit bildet.«

Er veränderte den Griff, mit dem Akiko das führende Schwert hielt. »Du hältst es zu locker. Du musst es immer so halten, als wolltest du gleich zuschlagen. Ichiro-kun und Osamu-kun, ihr steht zu nah aneinander. Achtet immer auf ma-ai. Mizuki-chan, lege mehr Kraft in deine Füße. Bravo, Taro-kun, aber vergiss nicht, metsuke anzuwenden.«

Masamoto bemerkte den verwirrten Blick auf Jacks Gesicht.

»Ma-ai ist die Entfernung zwischen dir und deinem Gegner. Metsuke bedeutet ›einen fernen Berg ansehen‹. Diese Vorstellung müsstest du eigentlich schon kennen, Jack-kun. Soviel ich weiß, hat Sensei Kano dich in den Prinzipien der Mugan Ryu unterrichtet, der Schule ohne Augen. Metsuke ist etwas Ähnliches: Es geht um die Fähigkeit, alles zugleich wahrzunehmen, ohne sich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Man soll das Schwert des Gegners beobachten, aber zugleich nicht ansehen.«

Jack nickte. Sein blinder bojutsu-Lehrer Sensei Kano hatte ihm im vergangenen Jahr beigebracht, sich beim Kämpfen nicht auf den Sehsinn zu verlassen. Diese ungewöhnliche Fähigkeit hatte ihm schon bei zwei Gelegenheiten das Leben gerettet– einmal gegen Kazuki und das andere Mal im Kampf gegen Drachenauge und seine Helferin Sasori.

Zufrieden mit der Haltung seiner Schüler, fuhr Masamoto mit dem Unterricht fort. »Ich zeige euch jetzt, welchen Vorteil es hat, das Schwert nur mit einer Hand zu halten.«

Er zog sein Schwert so schnell, dass es durch die Luft pfiff, und hielt es unmittelbar vor Jacks Hals an. Jack holte unwillkürlich erschrocken Luft. Kazuki grinste und Jack verfluchte sich stumm dafür, vor der Klasse Schwäche gezeigt zu haben.

»Wenn ihr ein Langschwert mit beiden Händen haltet, ist die Bewegungsfreiheit nach rechts und links und damit die Reichweite des Schwerts eingeschränkt.«

Masamoto packte das Schwert mit beiden Händen, um den Unterschied zu zeigen. Jack tat einen leisen Seufzer der Erleichterung, als sich die nadelscharfe Spitze von seinem Adamsapfel zurückzog.

»Wer mit zwei Schwertern kämpft, überwindet diese Einschränkung.« Masamoto steckte sein Schwert ein. »Ich zeige euch jetzt zusammen mit Sensei Hosokawa eine grundlegende Technik der beiden Himmel.«

Er drehte sich zu dem Schwertmeister um, der den Unterricht von der erhöhten Plattform aus verfolgt hatte. Hosokawa verbeugte sich und trat neben Masamoto. Er zog sein Langschwert und Masamoto seine beiden Schwerter. Blitzschnell griff Hosokawa an. Das Schwert sauste in einem Bogen auf Masamotos Kopf zu. Masamoto fing den Schlag mit seinem Kurzschwert ab, trat zugleich einen Schritt zur Seite und stach mit dem Langschwert nach Hosokawas Hals.

Im nächsten Augenblick war schon alles vorbei. Wäre der Kampf echt gewesen, die Waffe hätte im Hals des Schwertmeisters gesteckt und er wäre an seinem eigenen Blut erstickt.

Sensei Hosokawa zog sich zurück.

»Wie ihr soeben gesehen habt, handelt es sich um eine geradlinige Technik ohne Schnörkel und übertriebene Bewegung«, erklärte Masamoto. Er steckte seine Schwerter ein und verbeugte sich vor Sensei Hosokawa. »Sie ermöglicht genaues Zielen, ohne Zeitverschwendung und auf dem kürzesten Weg. Ich vergleiche die Technik der beiden Himmel gern mit dem Wasser. Sie ist genauso fließend und klar.«

Die Schüler erhielten nun Gelegenheit, die Kombination von Abwehr und Angriff selbst zu erproben. Jacks Übungspartner war diesmal Kazuki. Kazuki schlug mit seinem Langschwert zu. Jack konnte ihn mit seinem Kurzschwert abwehren, verfehlte Kazukis Hals mit dem anderen Schwert jedoch deutlich.

Die Technik wirkte trügerisch einfach, war aber zugleich verwirrend komplex, als wollte man sich zur gleichen Zeit auf den Kopf klopfen und den Bauch reiben. Sie erforderte höchste Konzentration und genaueste Abstimmung beider Hände. Jack machte einen zweiten Versuch und konzentrierte sich diesmal vor allem auf den Angriff. Die Spitze seines Langschwerts fand ihr Ziel, doch er vergaß darüber die Abwehr. Kazukis hölzerner bokken klatschte mit voller Wucht auf sein Ohr und schlug ihm fast den Kopf von den Schultern.

»Pass doch auf!«, rief Jack und hielt sich das schmerzende Ohr.

Kazuki zuckte nur die Schultern. »Du hättest den Schlag eben abwehren müssen.«

»Und du hättest deinen Schlag besser beherrschen müssen, Kazuki-kun«, bemerkte Masamoto vom anderen Ende der Übungshalle.

»Jawohl, Sensei. Tut mir leid, ich bin es noch nicht gewöhnt, zwei Schwerter zu halten. Entschuldige, Jack.«

Er verneigte sich. Doch sein verschlagenes Grinsen verriet Jack, dass er mit zwei Schwertern besser umgehen konnte, als er vorgab– und dass ihm das Geschehene keineswegs leidtat.

Ungeduldig sehnte Jack den Abend herbei. Dann würde Yamato endlich dafür sorgen, dass Kazuki das Lachen verging.