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Die Perle

»Beeil dich, Jack!«, drängte Akiko. »Es wird schon hell.«

Sie trabte auf ihrem weißen Hengst voraus. So hatte Jack sie nach dem Schiffbruch der Alexandria vor der japanischen Küste zum ersten Mal gesehen. Damals war ebenfalls früher Morgen gewesen und Akiko hatte in einem Tempel an der Bucht, in der die Alexandria lag, gebetet. Jack hatte zuerst das Pferd entdeckt und dann das faszinierende schwarzhaarige Mädchen mit der schneeweißen Haut. Akiko war sein erster Eindruck von Japan gewesen.

»Das dumme Tier gehorcht mir nicht«, schimpfte er, vollauf damit beschäftigt, sich auf dem Rücken seiner kleineren, braunen Stute zu halten. »Ein Schiff wäre mir allemal lieber!«

Unsanft auf und ab hüpfend ritt er auf dem Küstenweg hinter Akiko her. Er klammerte sich an die Mähne und versuchte angestrengt, sich im Rhythmus der Stute zu bewegen. Als Matrose hatte er nie reiten gelernt. Es erinnerte ihn nur an die im Sturm schwankende Rah der Alexandria.

»Du bist doch auch den ganzen Weg von Kyoto nach Toba geritten«, sagte Akiko ungerührt.

»Ja, aber zusammen mit Kuma-san. Und was ist passiert? Wir wurden abgeworfen, er hat sich die Schulter ausgerenkt und ich habe mir den Rücken aufgeschürft!«

Akiko lachte, während Jack sich mit gequältem Gesicht weiter durchschütteln ließ. »Nur Mut, wir sind gleich da.«

Sie umrundeten eine schmale Landzunge und hielten. Akiko stieg ab und half Jack vom Pferd.

Sie waren schon über einen Monat in Toba und Akiko hatte sich dank der mütterlichen Pflege vollkommen von ihrer Vergiftung erholt. Zwar waren sie nicht freiwillig zurückgekehrt, doch genoss Akiko es sichtlich, wieder zu Hause zu sein und Zeit mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zu verbringen. Jack sah, wie ihr Gesicht im Dämmerlicht leuchtete und ihre tiefschwarzen Augen unternehmungslustig funkelten.

Ganz anders er selbst. Für ihn war es noch viel zu früh am Morgen. Akiko hatte ihn dazu überredet, noch vor der Dämmerung aufzustehen und mit ihr auf Meoto Iwa, einer ein wenig abseits von Toba gelegenen Landzunge, zu meditieren und den Sonnenaufgang zu betrachten. Yamato hatte noch schlafen wollen und gesagt, er würde später zu ihnen stoßen, wenn sie den Schwertkampf übten.

Jack folgte Akiko zum steinigen Strand. Akiko stieg auf einen flachen Felsen, setzte sich mit gekreuzten Beinen im Lotussitz hin und wartete auf den Sonnenaufgang.

Jack atmete die salzige Luft tief ein. Sie weckte sofort Erinnerungen an früher. Wie gerne wäre er wieder zur See gefahren, hätte das Rollen des Decks unter den Füßen gespürt und das Knattern der Segel gehört, wenn der Wind sie füllte und er Kurs auf zu Hause nahm. Er blickte zum heller werdenden Himmel auf. Dort leuchtete der Polarstern. Jack drehte sich um sich selbst und ließ den Blick über den Horizont wandern.

»Was machst du?«, fragte Akiko.

Jack streckte den Arm aus. »England liegt in dieser Richtung.«

Akiko sah die Sehnsucht in seinen blauen Augen und lächelte traurig. »Eines Tages wirst du dorthin zurückfahren«, sagte sie. Sie bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen. »Aber bis dahin sollst du dich an dem freuen, was du hier erlebst.«

Jack sah zu ihr hinunter. Sie hatte Recht. Er wünschte sich so sehr, nach Hause zurückzukehren, dass er die guten Dinge an Japan oft übersah– die ruhige Ordnung des Lebens als Samurai, den Nervenkitzel des Schwertkampfs, den köstlichen Geschmack des Sushis und die Schönheit der Kirschblüte. Und er spürte, dass er, wenn er je das Land verließ, seine Freunde schmerzlich vermissen würde– Yamato, Yori, Saburo und natürlich Akiko.

Er erwiderte Akikos Lächeln, setzte sich neben sie und wartete auf die Sonne.

»Da kommt sie«, flüsterte Akiko und holte tief Luft. Am Horizont breiteten sich goldene Strahlen fächerförmig aus.

Dann ging die Sonne zwischen zwei aus dem Wasser ragenden Felsen auf. Schwarz hoben sich die Steinbrocken vom tiefroten Himmel ab. Ihre Spitzen waren durch ein dickes, geflochtenes Seil miteinander verbunden. Auf dem größeren Felsen stand ein kleines Tor.

»Was ist das?«, fragte Jack andächtig.

»Meoto Iwa«, antwortete Akiko. »Die verheirateten Felsen. Schön, nicht? Und das da drüben ist der Fuji.«

Jack blickte nach links. Dort war über dem dunstigen Horizont ein schneebedeckter, kegelförmiger Gipfel zu sehen. Wie groß musste dieser Berg sein, dass man ihn trotz der Entfernung so deutlich sah!

Nachdem die Sonne aufgegangen war und sie meditiert hatten, besuchte Akiko noch den nahe gelegenen Shinto-Schrein. Anfangs hatte Jack die doppelte religiöse Praxis der Japaner nicht verstanden. Sie waren nicht nur Anhänger des Buddhismus, sondern zugleich des Shintoismus und verehrten deshalb die kami, die allen Lebewesen und Gegenständen innewohnenden Gottheiten.

In England war Jack als Christ aufgewachsen, genauer als Anhänger der protestantischen Glaubenslehre. Die Gegnerschaft zwischen Protestanten und Katholiken hatte Europa in zahllose Kriege gestürzt. Aufgrund der Glaubensspaltung waren das katholische Spanien und Portugal mit dem protestantischen England verfeindet. Dass der Kampf um die Vorherrschaft auch auf See und in der Neuen Welt ausgefochten wurde, steigerte die Bedeutung des Portolans ins Unermessliche. Der Besitz eines Logbuchs mit so genauen Navigationshilfen, wie sein Vater sie erstellt hatte, konnte das Mächtegleichgewicht sehr wohl zugunsten eines Landes und seiner Glaubensrichtung beeinflussen. In Japan dagegen existierten zwei Religionen in vollkommener Eintracht nebeneinander.

Dass der Buddhismus andere Religionen achtete, hatte es Jack erleichtert, in der Samuraischule als Buddhist zu leben und zugleich im Herzen Christ zu bleiben. Den Buddhismus zu praktizieren war für ihn überlebensnotwendig. Angesichts der zunehmenden Ausländerfeindlichkeit in Japan musste er sich so gut wie möglich an das Leben der anderen anpassen und seine Bereitschaft zeigen, japanische Glaubensinhalte zu übernehmen. Er musste beweisen, dass er nicht nur den Verstand und die Kraft, sondern auch die geistige Einstellung eines Samurai besaß.

Er verbeugte sich vor dem Shinto-Schrein und sprach ein Gebet für seine Eltern im Himmel und seine kleine Schwester Jess auf der anderen Seite der Erdkugel. In seine Worte mischte sich das sanfte Plätschern der Wellen.

Zu Fuß kehrten sie auf dem Küstenweg nach Toba zurück. Die Pferde führten sie hinter sich her.

»Danke«, sagte Jack, glücklich über den gemeinsamen friedlichen Morgen mit Akiko.

»Ich dachte mir, du würdest das Meer gern wiedersehen«, antwortete sie lächelnd.

Jack nickte.

Ihm war an diesem Morgen einiges klar geworden. Er würde immer Seemann bleiben. Die Seefahrt lag ihm im Blut. Aber er war jetzt auch Samurai.

Sie stiegen auf eine niedrige Anhöhe, von der man auf eine kleine Bucht mit kristallklarem Wasser hinuntersah. Akiko blieb stehen und griff sich mit der Hand an die Stirn.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jack.

»Ja, mir ist nur ein wenig schwindlig. Das ist bestimmt die Seeluft.«

»Vielleicht bist du doch noch nicht ganz gesund. Setz dich hin.« Jack band die Pferde an einem Baum in der Nähe fest und ließ sich neben Akiko an den Rand der zum Wasser abfallenden Felsen nieder.

»Es ist wirklich ein Wunder, dass du das Gift überhaupt überlebt hast«, sagte er. Er dachte daran, wie Drachenauge den Portolan gestohlen hatte und Akiko fast von dem weiblichen Ninja getötet worden wäre, der eigentlich ihn, Jack, hatte umbringen sollen. Das Mordwerkzeug war eine vergiftete Haarnadel gewesen. Der weibliche Ninja hatte Akiko damit in den Hals gestochen und Akiko war bewusstlos zusammengebrochen. Eigentlich hätte sie an dem starken Gift sterben müssen.

Akiko hatte auch noch andere unerklärliche Fähigkeiten. Sie war gewandt wie ein Affe den Ahorn hinaufgeklettert, um Jacks Zeichnung zu holen, und hatte bei den Prüfungen des Kreises der Drei unglaublich lange unter dem Wasserfall ausgehalten. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, sie danach zu fragen.

»Als du krank warst, hörte ich, wie Sensei Yamada und Sensei Kano sich über dokujutsu unterhielten, die Giftkunst der Ninjas. Sie vermuteten, jemand könnte deine Abwehrkräfte gegen Gifte systematisch gestärkt haben.«

Akiko hob einen kleinen Kieselstein auf, warf ihn über die Kante der Felsen und beobachtete, wie er hinunterfiel und im Wasser verschwand.

»Nein, die Wahrheit ist viel einfacher«, wiegelte sie ab. »Ich habe bei so etwas immer Glück. Als ich mit den ama, den Tauchern, nach Perlen gesucht habe, wurde ich unzählige Male von Quallen gestochen. Einmal hat mich sogar ein Kugelfisch gebissen und die sind tödlich. Ich war ein paar Tage krank, habe aber überlebt. Ich kann einfach ziemlich viel wegstecken.«

Das leuchtete Jack zwar ein, es erklärte allerdings nicht Akikos andere Fähigkeiten. »Aber…«

Doch Akiko stand auf und öffnete ihren Obi. Jack erstarrte. Keine Japanerin entfernte ihren Gürtel in der Öffentlichkeit. Akiko war freilich keine typische Japanerin. Als Angehörige des Samuraistands hätte sie auch mit den ama nicht verkehren dürfen. Es galt als unter ihrer Würde. Doch sie liebte die Freiheit des Meeres, hatte sie Jack einmal erklärt. Nur dort konnte sie den starren Regeln des japanischen Lebens entrinnen.

»Da wir vom Tauchen sprechen: Ich muss jetzt unbedingt schwimmen«, verkündete sie.

Sie bemerkte Jacks Blick.

»Nicht spicken«, sagte sie lachend und bedeutete Jack, sich umzudrehen. Sie reichte ihm ihren Kimono, wickelte ihr Untergewand fest um sich und sprang ins Wasser.

Jack trat schnell an den Rand der Felsen, sah aber nur noch den Schaum und die Wellen dort, wo Akiko ins Wasser eingetaucht war. Tief unten bewegte sich ein Schatten. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, er hätte schwören mögen, dass es sich um eine Meerjungfrau handelte.

Als Akiko nach einer Weile immer noch nicht aufgetaucht war, begann er sich Sorgen zu machen. Im nächsten Augenblick tauchte ihr Kopf wie der eines Seehundwelpen am anderen Ende der Bucht auf. Sie schwamm zu dem kleinen Sandstrand zwischen den Felsen und winkte Jack, zu ihr zu kommen. Jack band die Pferde los und führte sie hinunter.

Als er am Strand eintraf, war Akiko schon fast wieder trocken. Jack gab ihr den Kimono. Dann kehrte er ihr den Rücken zu und wartete geduldig, bis sie sich angezogen hatte.

»Jetzt kannst du dich umdrehen.«

Jack gehorchte. Akiko streckte ihm die Hand hin. Auf ihr lag eine große ovale, geschlossene Muschel.

»Eine Auster. Ich habe sie unter einem Stein auf dem Grund der Bucht gefunden. Mach sie auf! Vielleicht ist eine Perle drin!«

Jack nahm die mit Buckeln und Graten übersäte Muschel und stemmte sie mit dem Kampfmesser, das er dem Ninja abgenommen hatte, auf. Dabei rutschte die Klinge ab und er schnitt sich wieder in den Finger. Rasch steckte er das Unglück bringende Messer ein, bevor es weiteren Schaden anrichten konnte.

Er öffnete die Auster und Akiko entfuhr ein leiser Schrei. Darin lag eine glänzende Perle, die so schwarz war wie Akikos Augen.

»Das ist sehr selten«, flüsterte sie. »Ich habe noch nie eine so schöne schwarze Perle gesehen.«

Jack hielt sie Akiko hin.

»Nein«, sagte sie und schloss seine Finger um die kostbare Perle. »Die schenke ich dir.«

Jack wollte ihr danken und suchte nach den richtigen Worten.

»Da seid ihr ja!«, rief Taka-san und ritt mit seinem Pferd auf den Strand. »Ihr sollt sofort nach Hause kommen. Masamoto-sama wird in Toba erwartet.«