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Yabusame

»In-yo, in-yo, in-yo!«, schrie Sensei Yosa.

Sie galoppierte auf ihrem schnaubenden Pferd so schnell vorbei, dass Jack nichts als einen farbigen Streifen erkennen konnte. Ein Pfeil sauste pfeifend durch die Luft und spaltete die neben Jacks Kopf hängende rechteckige, hölzerne Zielscheibe mit einem lauten Knall.

Die Schüler klapperten anerkennend mit ihren Köchern. Sensei Yosa ritt im Sattel stehend weiter. Das Pferd lenkte sie mit den Zehen, die Zügel hatte sie losgelassen, um Pfeile einlegen, den Bogen spannen und schießen zu können.

Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit näherte sie sich dem nächsten Ziel. Sie hob den Bogen und schoss den zweiten Pfeil.

Auch er traf ins Ziel. Das Zedernholzbrettchen brach in mehrere Teile auseinander.

Ihr blieben nur wenige Sekunden, um ein drittes und letztes Mal anzulegen. Im selben Moment, in dem ihr Hengst an der dritten Scheibe vorbeiraste, schoss sie den letzten Pfeil. Mit einem dumpfen Ton blieb er genau in der Mitte des Brettchens stecken und spaltete es in zwei Teile.

Die Schüler schüttelten ihre Köcher noch heftiger und lauter.

Sensei Yosa wendete und trabte zurück. Die speziell für diesen Zweck angelegte Bahn lag inmitten des malerischen, bewaldeten Parks um den alten Kamigamo-Schrein. Sie war auf beiden Seiten mit Seilen abgetrennt und mit drei hintereinander angeordneten, an hohen Pfosten hängenden Zielscheiben ausgestattet.

Ein Monat nachdem Jack und seine Freunde wieder in die Schule aufgenommen worden waren, hatte Sensei Yosa eines Tages angekündigt, ihre Schüler seien jetzt im Bogenschießen so weit fortgeschritten, dass sie mit kisha anfangen könnten, der Kunst des berittenen Bogenschießens. Sie hatten sich also am Morgen mit Pfeil und Bogen vor dem Stall der Schule versammelt und fünf Pferde für den Unterricht ausgewählt. Anschließend hatten sie sich zum Kamigamo-Schrein im Norden Kyotos begeben.

Sensei Yosa zügelte ihr Pferd vor den Schülern, die am Anfang der Bahn warteten. Sie band sich die langen schwarzen Haare zurück und zeigte dabei ihr ungewöhnlich schönes Gesicht mit den kastanienbraunen Augen. Hätte nicht eine aus der Schlacht davongetragene tiefrote Narbe die rechte Wange verunstaltet, hätte man sie statt für eine Kriegerin auch für eine königliche Geisha halten können.

»Die Art des kisha, die ihr lernen werdet, heißt yabusame«, erklärte sie und stieg mit einer fließenden Bewe-gung vom Pferd ab. »Ihr verbessert dadurch eure Fähigkeiten als Bogenschützen und vollzieht außerdem ein Ritual, das den Göttern gefällt und sie unserer Schule geneigt macht.«

Sie zeigte die Bahn entlang.

»Die Zielscheiben hängen genauso hoch wie der Bereich zwischen Helmspitze und Gesichtsmaske des Gegners. Ein Treffer bedeutet also auf dem Schlachtfeld einen tödlichen Schuss.«

Sie zog einen Pfeil aus dem Köcher an ihrer rechten Hüfte und zeigte den Schülern die stumpfe, aus einer Holzkugel bestehende Spitze.

»Zum Üben verwendet ihr stumpfe Pfeile. Yabusame ist ein den Göttern geweihtes Ritual. Waffen, die blutige Wunden verursachen, sind deshalb nicht zulässig.«

Sensei Yosa steckte den Pfeil wieder ein. Jack beugte sich zu Yori hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Du hast eine Frage, Jack-kun?« Sensei Yosa musterte ihn mit ihren durchdringenden Falkenaugen.

Jack blickte erschrocken auf. Er hatte die Frage nicht vor der ganzen Klasse stellen wollen. Jetzt spürte er die Blicke der anderen Schüler auf sich.

»Ich habe nur überlegt, warum Sie in-yo gerufen haben«, sagte er.

Sensei Yosa nickte. »Eine gute Frage. In-yo ist ein altes Samurai-Gebet und bedeutet ›Dunkelheit und Licht‹. Es hilft dir, dich geistig auf das Ziel zu konzentrieren. Willst du dich als Erster im Yabusame versuchen?«

Jack schüttelte den Kopf. Zwar übte er seit zwei Jahren Bogenschießen und hatte auch schon große Fortschritte gemacht, aber er traute sich nicht zu, vom Rücken eines Pferdes aus zu schießen.

»Bei allem Respekt, Sensei, ich glaube, ich sollte zuerst reiten lernen.«

»Wie du meinst. Wer kann Jack beibringen, wie ein richtiger Samurai reitet?«

Jack lächelte Akiko hoffnungsvoll zu, doch da trat schon der neue Junge Takuan vor.

»Es wäre mir eine Ehre«, sagte er mit einer Verbeugung. »Ich war an der Takeda Ryu in Wakasa der beste Reiter.«

»Danke, Takuan-kun«, antwortete Sensei Yosa. »Nimm die braune Stute, die ist folgsam.«

Takuan führte das Pferd zu den Bäumen hinüber, Jack folgte ihm mit einigem Abstand.

Dass Takuan ihm helfen wollte, überraschte ihn. Sie hatten seit seiner Ankunft kaum miteinander gesprochen. Dabei war Jack Takuan nicht bewusst aus dem Weg gegangen. Der Grund lag mehr darin, dass Takuan ständig von Verehrerinnen umringt war.

»Es ist mir eine Ehre, dir zu helfen«, sagte Takuan mit einer förmlichen Verbeugung. »Ich habe schon viel von dir gehört.«

»Wirklich?«, fragte Jack ein wenig überrascht.

»Ja. Akiko hat mir erzählt, dass du den Wettbewerb gegen die Yagyu Ryu gewonnen hast. Das Jadeschwert Yamato zu überlassen war wirklich sehr nobel.«

Takuan zog den Sattel zurecht und tätschelte das Pferd beruhigend.

»Und Yori hat dich in den Himmel gelobt. Er hat mir erzählt, wie du ihm bei den Prüfungen zum Kreis der Drei das Leben gerettet hast. Du bist wirklich ein toller Samurai für einen Gaijin…«

Jack zuckte zusammen. Er hatte schon Zutrauen zu Takuan gefasst und in seiner Wachsamkeit nachgelassen. Doch mit einem Wort hatte Takuan plötzlich seine wahren Gefühle verraten.

»Entschuldige bitte… ich wollte Ausländer sagen«, verbesserte Takuan sich hastig. »Wo ich herkomme, sind Leute wie du nicht besonders beliebt.«

»Leute wie ich?«

»Ja, Christen. In der Stadt, aus der ich komme, wollten Jesuiten die Einwohner bekehren. Sie wollten, dass wir ihnen gehorchen und Jesus Christus dienen und nicht mehr unserem Kaiser. Aber du willst das bestimmt nicht.«

»Warum sollte ich?« Jack verschränkte trotzig die Arme. »Ich bin kein Jesuit und auch kein Portugiese.«

»Aber ich dachte, du seist Christ. Ist das nicht dasselbe?«

»Nein, ich bin ein Protestant aus England. Die Jesuiten sind katholisch und England führt Krieg gegen Portugal. Wir sind erbitterte Feinde. Ich will überhaupt niemanden bekehren.«

»Es tut mir furchtbar leid. Dieses Gespräch verläuft ganz anders, als ich wollte.« Takuan verbeugte sich tief, ohne zu Jack aufzublicken. »Bitte nimm meine Entschuldigung für meine Unkenntnis an.«

»Du konntest das ja nicht wissen«, sagte Jack.

Er verstand die vielen Benimmregeln der japanischen Etikette inzwischen etwas besser. Sich zu entschuldigen galt in Japan als Tugend. Wer sich entschuldigte und aufrichtige Reue zeigte, dem wurde verziehen.

»Danke, Jack«, sagte Takuan und lächelte. Er tätschelte der Stute den Hals. »Willst du jetzt für deine erste Reitstunde aufsteigen?«

Jack trat neben das Pferd, stellte den linken Fuß in den Steigbügel und suchte am Sattel Halt. Bis jetzt hatte ihn immer jemand hinaufgezogen. Sosehr er sich auch bemühte, das Pferd wich jedes Mal aus, wenn er aufsteigen wollte.

Takuan hielt den Kopf des Pferdes fest.

»Zieh dich nicht mit den Armen hoch, sondern drücke dich mit dem rechten Bein vom Boden ab«, riet er. »Und hebe das Bein hoch, damit du nicht versehentlich das Pferd trittst oder am Sattel hängen bleibst.«

Jack versuchte es erneut und schaffte es zu seiner eigenen Überraschung, gleich beim ersten Mal aufzusteigen.

»Bravo«, lobte Takuan. »Achte darauf, dass du gut im Sattel sitzt. Du brauchst wie bei den Kampfkünsten ein stabiles körperliches Gleichgewicht.«

Jack rutschte auf der Suche nach einer bequemen Haltung hin und her. Er saß für seinen Geschmack sehr hoch und wacklig. Seit er von Kuma-sans Pferd gefallen war, hatte er Angst vor dem Reiten.

»Entspann dich, du bist noch so steif«, sagte Takuan. »Angst und Anspannung übertragen sich auf das Pferd. Du musst ihm zeigen, wer der Herr ist.«

Er gab Jack die Zügel und befestigte eine lange Leine am Zaumzeug.

»Schon besser. Drücke das Pferd jetzt leicht mit den Waden und schieb dich zugleich im Sattel vor. Dadurch gibst du dem Pferd zu verstehen, dass es gehen soll.«

Jack gehorchte und die Stute begann zu gehen.

»Siehst du! Es ist ganz leicht.«

»Danke für die Hilfe«, sagte Jack. Es tat ihm allmählich leid, dass er so misstrauisch gewesen war. Takuan schien ihm wirklich helfen zu wollen.

»Gern geschehen. Wir gehen jetzt eine Weile, bis du dich an das Auf und Ab gewöhnt hast. Dann zeige ich dir, wie du anhältst.«

Takuan ließ das Pferd an der Longe im Kreis gehen.

»Wie geht es eigentlich mit der Technik der beiden Himmel voran?«

»Es ist, als jongliere man mit zwei Messern«, antwortete Jack. »Sobald die rechte Hand funktioniert, vergisst du die linke.«

Takuan nickte verständnisvoll. »Ich wünschte, ich wäre auch so gut, die Technik lernen zu dürfen. Warum ist eigentlich Yamato nicht dabei?«

»Er hat die Aufnahme in den Kreis der Drei nicht geschafft. Aber in ein, zwei Jahren müsste er auch so weit sein.«

»Ich an seiner Stelle wäre ziemlich enttäuscht. Und peinlich wäre es mir auch. Er ist schließlich Masamotos Sohn.«

»Dafür kann er hervorragend mit dem bo kämpfen.«

»Und Akiko?«, fragte Takuan beiläufig und nickte in ihre Richtung.

Akiko bestieg gerade ihr Pferd, um sich ein erstes Mal im Yabusame zu versuchen.

»Was soll mit ihr sein?« Takuans direkte Frage überraschte Jack.

»Was weißt du über sie? Sie ist so anders als alle Mädchen, die ich kenne.«

Akiko nickte ihnen zu, während sie zum Anfang der Bahn ritt. Sofort verbeugte Takuan sich ebenfalls. Jack schien er vollkommen vergessen zu haben. Als Akiko anritt, feuerte er sie an.

»Das Reiten liegt ihr im Blut«, sagte er, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Sie macht das wirklich toll.«

Also deshalb hatte Takuan angeboten, ihm zu helfen, dachte Jack. Takuan sah Akiko wie gebannt hinterher. Er interessierte sich nicht dafür, ihm das Reiten beizubringen, sondern er wollte mehr über Akiko erfahren.

Akiko stellte sich im Sattel auf und wollte einen Pfeil einlegen, doch bevor sie schießen konnte, war sie schon an der ersten Zielscheibe vorbeigeritten. Als sie an Jack und Takuan vorbei auf die zweite Scheibe zugaloppierte, begann Jacks Stute plötzlich zu traben und lief Akikos Pferd hinterher.

»Takuan?«, rief Jack aufgeregt, aber Takuan hörte ihn nicht.

Akiko schoss den zweiten Pfeil ab, traf aber nicht. Aus dem Gleichgewicht gebracht, hielt sie sich mit den Schenkeln am Sattel fest und zog einen weiteren Pfeil aus dem Köcher. Takuan ließ die Longe los und begann zu klatschen und Akiko anzufeuern.

Jacks Stute scheute und ging durch.

Offenbar im Glauben, es handle sich um ein Rennen, galoppierte sie hinter Akiko her. Jack klammerte sich in Todesangst fest.

»Wie kann ich das Pferd anhalten?«, schrie er, während er fast aus dem Sattel gerissen wurde.

Takuan sah ihm erschrocken nach. »Zieh an den Zügeln!«, rief er.

In Panik riss Jack die Zügel zurück.

Die Stute kam abrupt zum Stehen und Jack flog über ihren Kopf. Er überschlug sich und landete unsanft auf der Erde. Um ihn stieg eine Staubwolke auf.

Bewegungslos blieb er liegen und schnappte nach Luft. Ihm war vom Aufprall übel und alles tat ihm weh. Wenigstens schien nichts gebrochen zu sein. Der Staub legte sich und Takuan und Sensei Yosa erschienen an seiner Seite.

»Bist du verletzt, Jack-kun?«, fragte Sensei Yosa.

»Nein«, stöhnte Jack.

Takuan und Sensei Yosa halfen ihm vorsichtig auf, während die anderen Schüler sich um sie versammelten. Jack sah, wie Kazuki und seine Freunde schadenfroh grinsten.

»Das nächste Mal darfst du nicht so stark an den Zügeln ziehen«, sagte Takuan. Er klopfte den Schmutz von Jacks Kittel.

»Das hättest du mir auch früher sagen können!«, keuchte Jack.

»Es tut mir so leid. Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Stute plötzlich durchgehen würde.«

»Egal«, sagte Jack, obwohl er nicht verstand, warum Takuan die Longe losgelassen hatte.

Sensei Yosa schickte die Schüler an den Rand der Bahn zurück.

»Jack-kun, du solltest Yabusame auf meinem Trainingspferd üben, bis du besser reiten kannst«, schlug sie freundlich vor. »Es folgt dir bestimmt besser.«

»Danke, Sensei«, sagte Jack und rieb sich die Rippen. »Aber ist Ihr Pferd nicht zu groß für mich?«

Einige Schüler blickten neidisch auf Jack und dann auf Sensei Yosas prächtigen Hengst.

Sensei Yosa lächelte. »Ich meine nicht mein Pferd, sondern das da drüben.«

Sie zeigte zum Rand des Übungsplatzes. Dort standen eine Zielscheibe und daneben ein gesatteltes Holzpferd. Die Schüler brachen in Gelächter aus. Jack starrte das Holzpferd entgeistert an.