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Der Herbstblattschlag

»Hajime«, befahl Masamoto und eröffnete damit den Übungskampf in der Technik der beiden Himmel zwischen Jack und Taro.

Die beiden gingen langsam von den entgegengesetzten Enden der Halle des Phönix aufeinander zu, bis sich die Spitzen ihrer Langschwerter berührten. Ihre kurzen Schwerter hielten sie darunter in Bereitschaft.

Plötzlich explodierte Taro. Ohne sein Schwert zu heben, fuhr er damit an Jacks Klinge entlang, drückte sie zur Seite und stach nach Jacks Herz. Im letzten Moment hielt er inne. Jack spürte die Schwertspitze nur ganz leicht auf seiner Brust.

»Ausgezeichnet, Taro-kun, ein fehlerfreier Flint-und-Funken-Schlag«, lobte Masamoto. »Jetzt bist du dran, Jack-kun.«

Jack fuhr mit der Spitze seines Schwerts an Taros Waffe entlang und zielte auf Taros Herz. Doch noch bevor er am Ziel war, spürte er schon Taros Schwertspitze an seinem Magen. Er hatte Taros Schwert nicht weit genug zur Seite geschlagen.

»Wenn die Klinge aus Stahl gewesen wäre, hätte sie dich durchbohrt«, sagte Masamoto grimmig. »Du musst bestimmter zuschlagen, Jack-kun. Lege mehr Kraft in Füße, Körper und Hände und schlage mit allen Gliedern zugleich zu.«

»Hai, Masamoto-sama«, antwortete Jack und kniete niedergeschlagen wieder neben die anderen Schüler. Er hatte den Flint-und-Funken-Schlag als Einziger nicht gemeistert.

»Wir fahren mit dem Herbstblattschlag fort«, kündigte Masamoto an. »Das passt zur Jahreszeit. Im Kern geht es darum, auf das führende Schwert des Gegners zu schlagen, ihn zu entwaffnen und das Schwert selber aufzunehmen. Seht gut zu!«

Masamoto und Sensei Hosokawa zogen ihre Schwerter. Sensei Hosokawa griff an, doch Masamoto kam ihm mit seinem Schwert zuvor und schlug mit der Spitze zweimal in rascher Folge auf Sensei Hosokawas Schwert. Klappernd fiel die Waffe zu Boden.

»Diese Technik funktioniert nur, wenn ihr sofort entschlossen auf den Angriff reagiert«, erklärte Masamoto. Er bedeutete den Schülern, in Kampfstellung zu gehen.

»Übt, bis ihr den Schlag beherrscht.«

Jack stand allein auf der Veranda des Südlichen Zen-Gartens, froh, dem harten Training in Masamotos Übungshalle entronnen zu sein. Nachdenklich betrachtete er das lange Rechteck aus weißem Sand, in das jemand mit einem Rechen kleine Wellen geharkt hatte. Das Sandbecken war das Zentrum des Gartens, der mit großen, aufrecht stehenden Granitblöcken und akkurat zurechtgestutzten Büschen geschmückt war. In der hinteren Ecke wuchs eine alte Kiefer mit knorrigen Ästen, die an einen gebrechlichen alten Mann erinnerte. Wind und Wetter hatten ihr so sehr zugesetzt, dass ihr Stamm von einem hölzernen Pfosten gestützt werden musste.

Jack holte tief Luft und hoffte, dass sich seine Laune in der ruhigen Umgebung bessern würde.

Er hatte am Ende der morgendlichen Übungsstunde immer noch Schwierigkeiten mit dem Herbstblattschlag gehabt. Warum? Mit einem Schwert kam er doch gut zurecht. Doch sobald er zwei in den Händen hielt, wurden seine Bewegungen ungenau und unbeherrscht. Zu seiner Enttäuschung war er in dem Vierteljahr, in dem sie die Technik der beiden Himmel schon übten, eher schlechter als besser geworden.

Er war überzeugt, dass sich hinter der scheinbaren Einfachheit der Technik ein tieferes Geheimnis verbarg. Ein Geheimnis, das Masamoto noch enthüllen würde oder dessen Bedeutung ihm bisher vollkommen entgangen war. Aufgeben würde er jedenfalls nicht. Angesichts des drohenden Krieges und der Gefahr durch Drachenauge war die Technik für ihn überlebensnotwendig.

Taro trat aus der Halle des Phönix, bemerkte Jack auf der Veranda und kam zu ihm.

»Lass dich nicht davon entmutigen, dass du keine Fortschritte machst«, sagte er. »Die Technik der beiden Himmel ist die schwierigste Schwertkunst in Japan. Sie zu lernen ist, wie einen Berg mit gefesselten Händen und Füßen zu besteigen.«

»Aber du beherrschst sie«, erwiderte Jack. »Was ist ihr Geheimnis?«

Taro lachte. »Genau das habe ich Masamoto-sama auch einmal gefragt. Er meinte, das Geheimnis sei, dass es kein Geheimnis gebe.«

»Das verstehe ich nicht. Es muss eins geben.«

»Das waren damals auch meine Worte. Aber er antwortete nur: ›Der Lehrer ist die Nadel und der Schüler der Faden. Als Schüler muss man unaufhörlich üben.‹ Wahrscheinlich besteht darin das Geheimnis. Im ständigen Üben.«

Taro zeigte mit einer ausholenden Handbewegung auf den Zen-Garten.

»Die Technik der beiden Schwerter ist wie dieser Garten. Ich weiß nicht, welcher Gärtner ihn geschaffen hat. Er wirkt vollkommen und zugleich ganz einfach. Trotzdem erforderte seine Gestaltung bestimmt viel Zeit, Nachdenken und Können.«

»Wie lange hast du gebraucht, um die Technik zu beherrschen?«, fragte Jack.

Taro grinste. »Ich stehe noch ganz am Anfang. Um die Technik zu meistern, braucht man ein ganzes Leben.«

Die Enttäuschung war Jack deutlich anzusehen. »So viel Zeit habe ich nicht. Ein Krieg steht vor der Tür.«

Taro nickte ernst. Er musterte Jack aus den Augenwinkeln, dann sagte er: »Ich sehe, du willst die Technik genauso unbedingt lernen wie ich. Wenn dir der Unterricht nicht reicht, bin ich bereit, außerhalb des Unterrichts mit dir zu üben.«

Jack verbeugte sich dankbar. »Wann?«

»Du hast es wirklich eilig. Heute Abend?«

Jack nickte eifrig.

»Dann bis nach dem Abendessen.« Taro verneigte sich und ging zur Halle der Schmetterlinge.

Jack blieb im Garten zurück.

Die Aussicht, mit Taro zu üben, munterte ihn auf. Er konnte aus dessen Fehlern lernen und schnellere Fortschritte machen. Als hinter ihm eine Schiebetür aufging, drehte er sich um. Sachiko, Mizuki und Akiko verließen die Halle des Phönix.

»Akiko!«, rief Jack und lief zu ihr.

Sie verbeugte sich, als er vor ihr stand. »Der Unterricht war diesmal anstrengend, nicht wahr? Der Herbstblattschlag ist furchtbar schwer.«

Jack nickte. »Stimmt. Aber Taro hat angeboten, heute Abend mit mir zu üben. Willst du auch dazukommen?«

»Danke, Jack, das ist wirklich nett von dir, aber Takuan will mir heute Abend schon bei meinem Haiku für den Wettbewerb helfen. Vielleicht ein anderes Mal.«

»Natürlich«, sagte Jack und versuchte mühsam, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Dann bis nachher beim Mittagessen«, sagte Akiko und lächelte betont munter. »Ich muss gehen. Sachiko und Mizuki warten auf mich.«

Jack kehrte in den Garten zurück, setzte sich auf die Veranda und stützte den Kopf in die Hände. In Gedanken hörte er Yori sagen, dass Takuan vielen Mitschülern half, darunter auch ihm selbst. Es gab also keinen Grund zur Aufregung. Warum war ihm dann zumute, als sei er plötzlich auf den Meeresgrund gesunken?

»Du siehst traurig aus, Gaijin«, sagte Kazuki. Er lehnte lässig an einem Pfeiler der Veranda. »Eifersüchtig, weil Akiko schon verabredet ist?«

»Überhaupt nicht!«, erwiderte Jack. »Takuan hilft ihr nur mit ihrem Haiku.«

Kazuki merkte, dass er einen wunden Punkt berührt hatte, und grinste. »Ich verstehe ja, was Akiko an Takuan findet. Er ist schön und intelligent, zwar kein großer Kämpfer, aber immerhin ein tüchtiger Reiter. Und natürlich Japaner. Bist du sicher, dass sie sich nur für sein Haiku interessiert?«

»Was soll das heißen?« Jack war aufgesprungen und hatte die Hand an sein Schwert gelegt.

»Jederzeit bereit, Akikos Ehre zu verteidigen.« Kazuki schnaubte. »Wie edel! Wenn du unbedingt kämpfen willst, lass uns doch gleich die beiden Himmel üben.«

Er zog seine Schwerter aus den schwarz-goldenen Scheiden. Sein Vater hatte ihm das Schwertpaar zur erfolgreichen Aufnahme in den Kreis der Drei geschenkt. Die Klingen blitzten gefährlich in der Sonne.

Auch Jack trug seine beiden echten Schwerter. Dieses Privileg teilten alle Schüler der Technik der beiden Himmel. Im Unterricht wurden sie dagegen nur verwendet, wenn ein Schüler allein übte. Zweikämpfe wurden aus Sicherheitsgründen nur mit Holzschwertern ausgetragen. Und Jack konnte mit zwei Schwertern noch nicht gut genug umgehen, um Kazukis Herausforderung anzunehmen.

»Bist du zu feige?«, stichelte Kazuki, sobald er Jacks Zögern bemerkte. »Siehst du, das ist der Unterschied zwischen dir und Yamato. Yamato hat Ehrgefühl und Mut. Er riskiert etwas. Deshalb ist er ein Samurai und du bist keiner!«

Jacks Hand schloss sich um den Griff seines Schwerts, doch er schwieg beharrlich.

»Leute wie du haben kein Rückgrat. Ich kann Akiko verstehen, dass sie einen echten Samurai vorzieht.«

Gegen seinen Willen ließ sich Jack provozieren.

»Nimm das zurück!«, rief er und zog seine Schwerter.

»Aber es stimmt doch. Jeder sieht, dass Akiko lieber mit Takuan zusammen ist als mit dir.«

Jack konnte nicht länger an sich halten. Er holte aus und schlug nach Kazukis Kopf.

Doch Kazuki war bereit. Er wehrte Jack mit seinem Kurzschwert ab und stach zugleich mit seinem Langschwert zu. Es handelte sich um eine elementare Technik der beiden Himmel– ein einfaches »Parieren und Zuschlagen«–, doch es funktionierte.

Jack konnte der Klinge nur mit Müh und Not ausweichen. Kazuki hätte ihn erwischt, hätte er nicht ein wenig danebengezielt. Hastig trat Jack einen Schritt zurück, bevor Kazuki nachsetzen konnte.

»Ist das alles, was du kannst?«, höhnte Kazuki.

Blind vor Wut griff Jack erneut an. Krachend trafen ihre Schwerter aufeinander. Viel zu schnell für Jack konterte Kazuki und schlug mit seinem Schwert zweimal auf den Rücken von Jacks Klinge. Jack musste loslassen. Klappernd fiel seine Waffe auf die Bretter der Veranda. Kazuki drückte ihm die Spitze seines Schwerts an den Hals.

»Ist das zu glauben?«, rief er spöttisch. »Der Herbstblattschlag klappt!«

Jack hatte zwar noch sein Kurzschwert, aber es nützte ihm nichts mehr. Kazuki brauchte nur zuzustechen und er war tot. Sein Rivale würde sich jetzt seinen Preis für den Sieg über Yamato holen.

Kazuki drängte ihn rückwärts von der Veranda hinunter und gegen einen der Granitblöcke. »Mit der Technik der beiden Himmel werde ich dich immer besiegen«, sagte Kazuki und weidete sich an der Panik in Jacks Augen.

»Das wagst du nicht!«, flüsterte Jack.

»Aber sicher. Genau das ist doch der Unterschied zwischen dem wahren Samurai und einem Gaijin wie dir.« Kazuki drückte stärker zu und ein Blutstropfen erschien auf Jacks Haut.

Jack spürte, wie der rasiermesserscharfe Stahl in sein Fleisch eindrang, und zog eine Grimasse. Er wollte weiter zurückweichen, konnte aber nicht. Kazuki grinste feindselig und seine Augen funkelten grausam.

»Dieses eine Mal werde ich dich verschonen«, sagte er und zog die Klinge zurück.

Jack tat einen unsicheren Seufzer der Erleichterung und erstarrte sofort wieder vor Schreck. Kazukis Schwert blitzte vor ihm auf, fuhr an seiner Nase vorbei und schnitt ihm über die linke Wange.

»Aber das bekommst du als Erinnerung daran, was dich erwartet!«

Kazuki ging und Jack blieb allein im Garten zurück. Blut lief ihm über das Gesicht, tropfte hinunter und hinterließ rote Flecken in dem makellos weißen Sand.