57
Sensei Kyuzo

Sie eilten die Treppe hinunter und an den Leichen Satoshis und seiner Gefolgsleute vorbei. Im Laufen hob Jack zwei Kurzschwerter auf und gab eins davon Akiko, die ihren Bogen beim Sturz über den Balkon verloren hatte.

Im sechsten Stock stellten sie fest, dass Daimyo Kamakuras Ninjas offenbar erneut in den Turm eingedrungen waren. Vier Samurai lagen tot am Fuß der Treppe, und am Ende des Korridors huschten Ninjas hin und her und ermordeten lautlos die Leibwache der Regenten.

»Daimyo Takatomi!«, rief Akiko erschrocken. »Er ging auf sein Zimmer, um nach Emi zu sehen.«

Sie bog in einen Nebengang ein und Jack folgte ihr auf den Fersen. Als sie sich der Schiebetür näherten, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Daimyo Takatomis Leibwächter lagen mit durchgeschnittenen Kehlen auf dem Boden.

Jack spähte durch die offene Tür. Ihm bot sich ein bizarrer Anblick inmitten des blutigen Gemetzels: Daimyo Takatomi bereitete Tee zu. Neben ihm saß Emi, das verbundene Bein ausgestreckt und eine Tasse in der Hand. Die beiden wurden von vier Ninjas bewacht, waren aber unverletzt. Die Ninjas schienen sie nur gefangen zu halten. Offenbar hatte Daimyo Kamakura mit seinem ehemaligen Freund etwas anderes vor.

Jack fing Emis Blick auf. Emi wirkte völlig unbesorgt. Als Jack ihr durch Zeichen bedeutete, sie retten zu wollen, schüttelte sie nur ganz leicht den Kopf. Lächelnd hob sie die Teetasse, als wollte sie ihrem Vater zutrinken, und formte mit dem Mund ein stummes »Sayonara, Jack«.

Ein von zwei Ninjas verfolgter Samuraiwächter rannte hinter ihnen den Gang entlang. Jack und Akiko flohen rasch in die entgegengesetzte Richtung und wieder in den sechsten Stock hinauf. Anschließend stiegen sie Pater Bobadillos Geheimtreppe nach unten.

Als sie aus seinem Studierzimmer traten, empfing sie das reinste Chaos. Die Roten Teufel hatten sich Zugang zum Turm verschafft und die Soldaten Satoshis unternahmen einen letzten verzweifelten Versuch, sie am Eindringen zu hindern. Ein grausam aussehender Roter Teufel entdeckte Jack und Akiko und rannte auf sie zu. Seine Rüstung war blutbespritzt und er selbst war zwar kleiner als die meisten anderen, wirkte aber wild wie ein Tiger.

Jack und Akiko wollten gerade fliehen, da riss der Rote Teufel seine Gesichtsmaske herunter.

Darunter kam Sensei Kyuzo zum Vorschein.

Mit einem erleichterten Seufzer senkte Akiko ihr Schwert. Doch ihr Lehrer lief mit finsterer Miene weiter auf sie zu und zog ein Messer aus dem Gürtel. Jack sah das angriffslustige Funkeln in seinen Augen und zog Akiko zurück. Sensei Kyuzo war ein Verräter wie Kazuki. Er stand auf Daimyo Kamakuras Seite und schien fest entschlossen, sie zu töten.

»Jack-kun!«, rief Sensei Kyuzo barsch und warf das Messer auf Jack.

Gefangen zwischen Ninjas, Roten Teufeln und einem tobenden Sensei, konnte Jack nirgendwohin fliehen.

Der Messer flog an seiner Schulter vorbei und bohrte sich in einen Ninja, der sich von hinten an Jack angeschlichen hatte. Der Ninja brach zusammen.

»Kamakuras Ninjas sind überall«, knurrte Sensei Kyuzo. Er zog das Messer heraus und wischte die Klinge an dem toten Ninja ab. »Wo ist Yamato-kun?«

Jack konnte vor lauter Schreck nichts antworten. Außerdem schämte er sich, Sensei Kyuzo für einen Verräter gehalten zu haben.

»Er ist tot«, sagte Akiko heiser.

Der Sensei starrte sie unverwandt an und setzte seine Gesichtsmaske wieder auf. »Masamoto-sama wartet.«

Er nahm ihre beiden Schwerter und warf sie ohne eine weitere Erklärung weg. Dann packte er sie an den Armen und führte sie den Gang entlang und zu einer Treppe. Vier Rote Teufel kamen ihnen mit gezogenen Waffen entgegen. Jack und Akiko blieben erschrocken stehen.

»Weiter!«, zischte Sensei Kyuzo und stieß sie unsanft an.

Die Roten Teufel beachteten sie nicht und rannten an ihnen vorbei.

Ohne anzuhalten, führte Sensei Kyuzo Jack und Akiko ins Erdgeschoss hinunter. Sie wollten gerade ins Freie treten, da stellte sich ihnen ein Roter Teufel mit goldenen Hörnern in den Weg.

»Verräter, die hingerichtet werden sollen«, rief Sensei Kyuzo als Erklärung.

»Ich übernehme das«, sagte der Rote Teufel und zog sein Schwert.

»Nein!«, erwiderte Sensei Kyuzo fest.

Der Rote Teufel sah ihn wütend an. »Du willst dich mit mir anlegen?«

»Die beiden sollen zu Daimyo Kamakura«, erklärte Sensei Kyuzo mit einer respektvollen Verbeugung. »Sie sind Schüler der Niten Ichi Ryu und der Fürst wünscht sie persönlich zu bestrafen. Insbesondere den Gaijin.«

Er schüttelte Jack grob am Arm.

Der Rote Teufel wich zurück. Seine Enttäuschung war ihm deutlich anzumerken.

»Meinetwegen«, brummte er und ließ sie durch.

Sensei Kyuzo führte sie nach draußen, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Im Hof wurde an verschiedenen Stellen immer noch gekämpft. Sensei Kyuzo marschierte ungerührt geradeaus und bog zwischen den Bäumen scharf nach rechts ab.

»Masamoto-sama hält die Gegner am Teegarten auf«, flüsterte er und nahm Helm und Gesichtsmaske ab. »Auf Befehl von Daimyo Takatomi sollen wir alle noch lebenden Samuraischüler aus der Burg bringen…«

Er zog plötzlich sein Messer und warf es in einen Baum. Im nächsten Augenblick fiel ein Ninja aus den Ästen und blieb tot auf dem Boden liegen.

»Wir haben nicht viel Zeit«, fuhr Sensei Kyuzo fort und suchte mit den Augen die Blätter über ihnen ab. »Es gibt einen Geheimgang. Sensei Kano wird euch führen.«

»Sensei Kano lebt!«, rief Jack.

Sensei Kyuzo nickte ungeduldig. »Er ist durch den Gang in die Burg zurückgekehrt. Unterwegs beschaffen wir euch Waffen.«

Vor ihnen ließen sich sechs Ninjas aus den Bäumen fallen. Der Sensei blieb stehen.

»Geht!«, befahl er und schob Jack und Akiko in Richtung Garten.

»Aber das ist doch Selbstmord«, sagte Jack, als er begriff, dass der Sensei allein gegen die Ninjas kämpfen wollte.

»Bilde dir nicht ein, dass ich es für dich tue, Gaijin«, fauchte Sensei Kyuzo. »Ich diene Masamoto-sama. Und jetzt befehle ich euch zu gehen!«

Zutiefst erschüttert über das Opfer des Lehrers wandte Jack sich zum Gehen. Sensei Kyuzo handelte nach dem Kodex des Bushido. Obwohl er Jack nicht leiden konnte, betrachtete er es ganz selbstverständlich als seine Pflicht, den jungen Samurai mit seinem Leben zu schützen.

Jack blickte noch einmal zurück. Umringt von den Ninjas hatte Sensei Kyuzo die Fäuste gehoben und wartete gelassen auf ihren Angriff.