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Der verletzte Reiter

Schnaubend donnerte Morikos Pferd die Bahn entlang. Moriko selbst wirkte ruhig und zuversichtlich und hatte das erste Ziel fest im Auge. Ohne das geringste Schwanken stand sie im Sattel auf, legte gelassen einen Pfeil ein, spannte den Bogen und schoss. Das erste Brettchen zersplitterte.

Dasselbe wiederholte sich mit dem zweiten Brettchen.

Moriko näherte sich dem letzten Ziel. Sie wartete, bis sie fast auf gleicher Höhe war, und schoss. Die Holzspitze des Pfeils traf genau ins Schwarze und Holzsplitter flogen in alle Richtungen. Die Schüler der Yagyu Ryu brüllten begeistert.

Akiko schüttelte unglücklich den Kopf. »Das war beeindruckend.«

»Aber du hast rückwärtsgeschossen und bist deshalb noch besser«, sagte Jack.

Akiko lächelte. Sein Vertrauen tat ihr gut. »Lass uns Takuan Glück wünschen. Das hat er jetzt noch nötiger.«

Sie gingen zu der Stelle, an der die Pferde angeleint waren. Takuan lag stöhnend auf dem Boden und hielt sich die Seite.

»Was ist los?«, fragte Akiko erschrocken und eilte zu ihm.

»Ich wollte gerade mein Pferd satteln…«, keuchte Takuan. Er zuckte bei jedem Atemzug zusammen. »Ich machte einen Schritt zurück und stieß mit einem anderen Pferd zusammen. Es trat mich in die Rippen. Ich glaube, sie sind gebrochen.«

»Der letzte Reiter der Niten Ichi Ryu möge bitte an den Start kommen«, rief ein Kampfrichter.

»Glaubst du, du kannst trotzdem reiten?«, fragte Jack.

Takuan versuchte sich aufzusetzen, doch vergeblich. Er schüttelte schwach den Kopf. »Es tut wahnsinnig weh. Ich kriege kaum Luft.«

»Letzter Aufruf für den Schützen der Niten Ichi Ryu!«, brüllte der Kampfrichter.

»Aber die Schulen gewinnen nach Punkten«, beharrte Jack. »Du brauchst nur einmal zu treffen, dann haben wir schon gewonnen.«

»Reite du für mich«, stöhnte Takuan.

»Aber ich habe noch nie auf einem richtigen Pferd geübt!«, protestierte Jack.

Takuan lächelte gequält. »Vergangene Woche bist du ohne Zügel geritten.«

»Und hinuntergefallen!«

»Du brauchst nicht zu reiten, Jack«, sagte Akiko und kniete neben Takuan. »Es ist doch nur ein Wettkampf. Wir müssen uns jetzt vor allem um Takuan kümmern.«

Jack merkte, dass ihm soeben eine Gelegenheit, Akiko zu beeindrucken, durch die Lappen zu gehen drohte. Kazuki hatte Recht. Akiko wollte einen richtigen Samurai, der nicht davor zurückschreckte, etwas zu riskieren.

»Doch, ich versuche es«, sagte er und band Takuans Pferd los.

Er führte es zur Startlinie, ohne sich noch einmal umzusehen, und stieg auf. Akiko sollte ihm seine Angst nicht anmerken.

Er blickte die Bahn entlang und schluckte aufgeregt. Sie schien nicht enden zu wollen und die Ziele sahen winzig klein aus. Er rutschte im Sattel hin und her, um das Pferd besser mit den Schenkeln zu packen. Takuans Hengst war unendlich viel größer als sein hölzernes Übungspferd. Und es hatte Beine, die sich bewegten! Nie im Leben würde er das schaffen.

Einige Hundert Samuraischüler blickten erwartungsvoll in seine Richtung. Saburo starrte ihn erschrocken an, einen halben Hühnchenspieß im offenen Mund. Sensei Yosa trat zu ihm und tat so, als müsste sie die Zügel an seinem Pferd überprüfen.

»Wo ist Takuan?«, zischte sie und durchbohrte ihn mit einem wütenden Blick.

»Ein Pferd hat ihn getreten«, flüsterte Jack.

Der Kampfrichter hob den Fächer mit der roten Sonne. Jack sollte losreiten.

Sensei Yosa holte tief Luft und seufzte. »Na gut, jetzt ist es zu spät. Brich dir wenigstens nicht den Hals!«

Jack lächelte sie unsicher an und setzte sein Pferd in Bewegung. Der Hengst wurde rasch schneller und galoppierte die Bahn entlang. Jack umklammerte die Zügel und seinen Bogen so fest, dass die Knöchel seiner Hände weiß hervortraten.

Viel zu früh sah er das erste Ziel in Sicht kommen. Er zwang sich, die Zügel loszulassen, und nahm einen Pfeil aus Takuans Köcher. Während er von den Bewegungen des Pferdes durchgeschüttelt wurde, versuchte er krampfhaft, den Pfeil einzulegen. Im letzten Augenblick war er so weit. Verzweifelt schoss er.

Er verfehlte das Ziel weit und hätte fast einen Kampfrichter getroffen. Hinter sich hörte er Lachen. Wenn er treffen wollte, musste er den Bogen länger ruhig halten und dazu musste er sich in den Steigbügeln aufstellen.

Das Pferd galoppierte weiter. Das zweite Ziel kam rasch näher und Jack riss einen Pfeil aus dem Köcher. Gegen alle Vorsicht ließ er die Zügel los und stand auf. Er konnte den Rhythmus des Pferdes aufnehmen, hob den Bogen und zielte. Doch dann warf ihn ein unerwarteter Stoß aus dem Gleichgewicht und er fiel nach vorn. Verzweifelt hielt er sich am Hals des Pferdes fest.

Wieder lachten die Zuschauer über den Gaijin, der an ihnen vorbeipreschte und sich in Todesangst am Pferd festklammerte. Jack fühlte sich an Bord der Alexandria zurückversetzt. Ihm war, als müsste er sich im Sturm auf einer Rah halten.

Das ist die Lösung!, dachte er. Er musste sich an seine Seebeine erinnern.

Also verdrängte er seine Angst, stellte sich vor, das Pferd sei die Rah, und stand in den Steigbügeln auf. Federnd bewegte er sich auf und ab und fing die Bewegungen des galoppierenden Hengstes ab, als seien sie Wellen.

Nur noch ein Ziel war übrig und ihm blieb kaum Zeit, darauf anzulegen. Doch jetzt machte sich das Training auf dem Übungspferd bezahlt. Jack fiel ein, was Sensei Yosa vor einem Jahr zu ihm gesagt hatte: »Erst wenn der Schütze nicht an das Ziel denkt, kann die Kunst des Bogenschießens sich entfalten.« Er konzentrierte sich nicht mehr auf das Ziel, sondern ließ seinen Körper die Bewegungen des Einlegens, Zielens und Schießens vollziehen. Auf dem Übungspferd traf er sogar mit geschlossenen Augen unweigerlich. Darauf musste er jetzt vertrauen.

Er ließ die Sehne des Bogens los.

Sein Pferd galoppierte weiter und über das Ende der Bahn hinaus. Vergeblich streckte Jack sich nach den herunterhängenden Zügeln. Erst als er in der Ferne hinter sich Jubelgeschrei hörte, wurde ihm klar, dass er getroffen hatte. Doch da war er bereits in den Wald eingetaucht.

»Das sah vielleicht komisch aus«, sagte Saburo, als die Schule am Abend in der Halle der Schmetterlinge feierte. »Du hättest um ein Haar einen Kampfrichter erschossen und dein Pferd erwürgt und dann reitest du fast bis in die nächste Provinz.«

»Aber er hat getroffen«, sagte Takuan, der Jack gegenübersaß. Er trug einen festen Verband um den Brustkorb. Eine Schar besorgter Mädchen umringte ihn.

»Wir haben alle zum Sieg beigetragen«, sagte Jack und prostete Takuan mit einer Tasse Grüntee zu, die Akiko ihm eingeschenkt hatte. »Ohne deine Hilfe hätte ich es nicht geschafft.«

»Jack ist heute so bescheiden«, sagte Yamato. »Sonst beansprucht er den ganzen Ruhm für sich!«

Er versetzte Jack einen freundschaftlichen Rippenstoß zum Zeichen, dass er es nicht ernst meinte.

»Wie geht es dir, Takuan?«, fragte Emi.

»Schon viel besser«, antwortete Takuan mit einer Verbeugung. Emi setzte sich an ihren Tisch. »Sensei Yamada meint, ich hätte wahrscheinlich nur eine Rippe gebrochen. Die Schwellung geht dank der Kräutersalbe, die du mir gegeben hast, schon zurück.«

Emi lächelte verschämt. »Ich hatte sie zufällig zur Hand.«

Saburo sah Jack vielsagend an und flüsterte: »Wie schafft der das bloß? Sogar die Tochter des Daimyo rennt ihm nach!«

Jack unterdrückte ein Grinsen und nippte an seinem Tee.

»Kohai!«, rief Masamoto vom Kopfende der Halle.

Die Schüler verstummten und wandten sich dem erhöhten Tisch zu.

»Ihr habt mich heute wieder stolz gemacht, Samurai. Der Sieg gegen die Yagyu Ryu und die Yoshioka Ryu beweist, dass wir die beste Samuraischule von Kyoto sind!«

Die Schüler brachen in lautstarken Beifall aus.

»Und wir haben einen Doppelsieg davongetragen, weil auch der beste Yabusame-Schütze von Kyoto aus unserer Schule kommt«, fügte er mit einem Nicken in Akikos Richtung hinzu.

Akiko verbeugte sich bescheiden und Jack strahlte sie voller Stolz an. Die Schiedsrichter hatten Akiko den Preis für ihren spektakulären, rückwärts gerichteten Schuss verliehen. Akiko hatte diese Technik als erste Schülerin überhaupt bei einem Schulwettkampf erfolgreich vorgeführt. Moriko hatte geschäumt. Jack hatte gesehen, wie sie in einem Wutanfall ihre Pfeile zerbrochen hatte, während Kazuki versuchte sie zu beruhigen.

»Traditionsgemäß bringt ein Sieg im Bogenschießen der Schule für den Rest des Jahres Glück«, rief Masamoto und hob seine Teetasse. »Möge dieses Glück andauern. Kampai!«

»Kampai!«, antworteten die Schüler.

Plötzlich wurde die Tür der Halle aufgerissen und ein Mädchen stürzte schreiend herein. »Die Halle des Falken brennt!«