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Rache

Kanonen- und Brandkugeln flogen pfeifend so dicht an Jack vorbei, dass er die Hitze auf der Haut spürte. Er stand auf einem Balkon, von dem aus man ganz Osaka überblickte. An jedem anderen Tag hätte ihn die Aussicht vom obersten Stock des Turms begeistert. Sie reichte weit über die Stadt und die Tenno-ji-Ebene hinaus bis zum Meer, das in der Ferne glitzerte.

Doch an diesem Abend sah er überall nur Zerstörung und Elend. Ein großer Teil des Burggeländes stand in Flammen. Überall auf den brennenden Bastionen lagen Leichen. Die Feinde hatten die Mauern überrannt und schossen mit Kanonen und Arkebusen auf den Turm. Unter Jack waren die Roten Teufel durch das Tor zum inneren Hof vorgestoßen und lieferten sich erbitterte Zweikämpfe mit Satoshis Soldaten, die das letzte Bollwerk verteidigten.

Im Gegensatz dazu war das private Besprechungszimmer im siebten Stock des Turms eine Oase der Ruhe. Das von eleganten, freistehenden Lampen beleuchtete Zimmer mit seinen dunklen Holzbalken war mit Blattgold verziert. Ein großes Gemälde schmückte die Wände. Es zeigte einige Samuraifürsten bei der Jagd, bei der Meditation und beim Teetrinken unter grünbelaubten Bäumen und erinnerte an eine friedlichere Zeit.

In Satoshis privatem Zimmer im siebten Stock hatte Jack den Thronanwärter und seine Gefolgsleute tot angetroffen. Zeichen für einen Kampf gab es keine, doch die Strohmatten waren blutgetränkt und neben jedem Toten lag dessen Schwert. Satoshi hatte angesichts der bevorstehenden Niederlage seiner Armee den einzigen ehrenhaften Weg eingeschlagen, der einem besiegten Samuraifürsten offenstand, und seppuku begangen. Seine Gefolgsleute waren ihm pflichtschuldig in den Tod gefolgt und hatten sich ebenfalls mit ihren Schwertern den Bauch aufgeschlitzt.

»Du entkommst mir nicht«, sagte Drachenauge aus dem Zimmer hinter Jack. »Gib mir das Buch.«

»Nein!« Trotzig steckte Jack den Portolan ein.

»Ich will Daimyo Kamakura nicht enttäuschen. Gib es mir sofort!«

»Wenn Sie wirklich Tatsuo sind«, beharrte Jack trotzig, »warum helfen Sie dann Daimyo Kamakura? Er hat Sie am Nakasendo verraten.«

»Er bereut das inzwischen«, erwiderte Drachenauge heftig. »Und er hat Wiedergutmachung geleistet, indem er für mich Krieg führt.«

»Für Sie?«, rief Jack erstaunt.

Drachenauge nickte stolz.

»Aber er führt Krieg, um die Christen und Ausländer aus Japan zu vertreiben.«

»Das sind Daimyo Kamakuras Ziele«, sagte Drachenauge. »Für mich geht es um Rache.«

»Gegen wen?«

»Masamoto.« Der Ninja spuckte den Namen förmlich aus.

Jack sah ihn entgeistert an. »Sie müssen verrückt sein. Sie stürzen Japan aus persönlichen Rachegelüsten in einen Bürgerkrieg?«

»Masamoto hat meinen Sohn getötet!«, rief Drachenauge. Zum ersten Mal verlor er die Fassung.

»Und Sie seinen Sohn Tenno!«, rief Jack.

»Auge um Auge«, sagte der Ninja. Er hatte seine Beherrschung wiedergewonnen. »Aber das reicht mir noch lange nicht. Ich will alles auslöschen, seinen Fürsten, seine Familie, seine geliebte Schule und alles, wofür er als Samurai steht. Ihn selber werde ich nicht töten. Masamoto soll die Qualen erleiden, die ich all die Jahre ertragen musste. Er wird den Rest seines Lebens um das trauern, was er verloren hat. Dann bin ich endlich gerächt.«

Sensei Yamada hatte damals vor zwei Jahren im Zen-Garten Recht gehabt, dachte Jack. Er hatte gesagt, Rache sei etwas Selbstzerstörerisches. Sie hatte an dem Ninja gefressen, bis nichts mehr von ihm übrig war– außer Hass.

»Gib mir jetzt das Buch!«, verlangte Drachenauge.

»Auf keinen Fall!« Jack griff nach seinen Schwertern.

Er hatte beschlossen, sich dem Ninja zu stellen. Er wollte nicht mehr weglaufen und sich verstecken. Sein Schicksal sollte sich hier und jetzt ein für alle Mal entscheiden.

»Ich habe keinen Streit mit dir, Gaijin«, sagte der Ninja in einem plötzlichen Gesinnungswandel. »Ich bewundere dich sogar und gebe dir eine letzte Chance. Händige mir das Buch aus und ich lasse dich leben.«

Zugleich zog er ein gewaltiges Schwert aus der Scheide auf seinem Rücken.

Kuro Kumo.

Schwarze Wolke, das letzte und beste Schwert aus der Hand des Schmiedes Kunitome. Der Stahl der Klinge funkelte im Licht der brennenden Burg.

»Mein letztes Angebot«, knurrte Drachenauge. »Komm zu mir. Ich lehre dich den Weg des Ninja.«

Jack hätte fast laut gelacht. »Ich werde nie ein Ninja werden!«, rief er. »Masamoto ist kein Mörder. Nur Sie sind einer. Sie haben meinen Vater getötet. Sie werden immer mein Feind sein.«

»Wie du willst«, sagte Drachenauge.

Wie ein Blitz sauste Schwarze Wolke durch die Luft.

Jack zog eilends beide Schwerter und fing den Schlag ab. Der in den Stahl seiner Schwerter eingravierte Namen leuchtete wie in direkter Herausforderung im flackernden Schein der Flammen auf.

Shizu.

Drachenauge fauchte wütend und versetzte Jack einen Tritt gegen die Brust. Jack wurde rückwärts gegen das Geländer des Balkons geschleudert. Unter ihm tobte die Schlacht, vor ihm holte Drachenauge zu einem tödlichen Schlag gegen seinen Hals aus.

Jack wehrte den Angriff mit dem Langschwert ab und nutzte die Wucht, mit der seine Klinge weggeschlagen wurde, zu einem Gegenangriff auf Drachenauges Kopf. Der Ninja duckte sich und vollführte einen Beinfeger. Er erwischte Jack am Knöchel, brachte ihn zu Fall und holte aus. Jack rollte hastig zur Seite. Der Ninja schlug nach ihm und sein Schwert schnitt durch die Bretter des Balkons, als seien sie aus Papier.

Jack sprang auf und griff seinerseits wieder an. Er schlug mit seinem Kurzschwert waagrecht und mit seinem Langschwert gleichzeitig senkrecht zu. Drachenauge brachte sich mit einem Salto rückwärts in Sicherheit. Jack setzte nach und der Ninja wich weiter zurück. Jack hatte ihn schon fast in eine Ecke getrieben, da stieß der Ninja mit dem Fuß eine Lampe um. Brennendes Öl lief über den Boden. Die Strohmatten fingen sofort Feuer und Flammen leckten an den Wänden. Das Wandgemälde warf Blasen.

»Masamoto hat dir einiges beigebracht«, spottete Drachenauge und wich Jack und dem sich ausbreitenden Feuer weiter aus. »Aber mit der Technik der beiden Himmel schiebst du deinen unvermeidlichen Tod nur hinaus.«

Blitzschnell stach er zu und hätte Jack fast durchbohrt. Im letzten Moment konnte Jack ihn jedoch abwehren und mit seinem Kurzschwert kontern. Er traf Drachenauge an der Brust und schlitzte ihm die Kleider auf. Eine blutige Linie zeichnete sich ab. Der Schnitt ging nicht tief, doch Drachenauge blickte an sich hinunter, erstaunt, dass er überhaupt verwundet worden war.

Jack nützte die Ablenkung sofort aus und riss sein Langschwert nach oben. Drachenauge reagierte blitzschnell und bog sich wie ein Schilfrohr im Wind vor der tödlichen Klinge zurück.

Doch nicht schnell genug.

Jacks Schwertspitze schnitt durch die Kapuze des Ninjas.

Bis dahin war Drachenauge für Jack ein einäugiger, gesichtsloser Albtraum gewesen. Jetzt stand er auf einmal mit entblößtem Haupt vor ihm.

Hattori Tatsuo hätte mit seinem ausgeprägten Kinn und den hohen Wangenknochen ein schöner Mann sein können, eine Zierde jedes japanischen Fürstenhofes. Doch sein Gesicht bot einen furchtbaren Anblick. Die Blattern, die er in seiner Jugend gehabt hatte, hatten es durch tiefe Krater entstellt, als sei hier und dort das Fleisch weggefault. Und anstelle des Auges, das den Blattern zum Opfer gefallen war, war nur ein zerklüftetes schwarzes Loch zu sehen.

Wütend starrte Drachenauge Jack mit seinem grünen Auge an. »Du siehst dem Tod ins Auge!«, fauchte er. »Stirb, Samurai!«

Wie besessen stürzte er sich auf Jack, um ihn zu enthaupten. Jack riss sein Langschwert nach oben und wehrte den Schlag ab.

Die beiden Schwerter prallten gegeneinander. Und Schwarze Wolke zerbrach die Klinge Shizus in zwei Teile.

Entgeistert starrte Jack auf den nutzlosen Stummel in seiner Hand. Drachenauge versetzte ihm sofort einen Tritt in die Brust.

Jack landete auf einer brennenden Strohmatte, geriet mit der Hand in die Flammen und verlor sein Kurzschwert. Er rollte vom Feuer weg, doch eine Schwertklinge hielt ihn an.

»Kunitome hat bei seinem Leben geschworen, dies sei das beste Schwert, das er je gemacht habe«, sagte Drachenauge und betrachtete sein Schwert mit grimmiger Genugtuung. »Er hatte Recht. Knie nieder, Gaijin.«

Jack kniete sich hin. Die Spitze des Schwerts war auf ihn gerichtet.

Er hatte verloren. Zwar hatte er die Technik der beiden Himmel erlernt, aber Drachenauge war ein zu starker Gegner gewesen.

Drachenauge hob das Schwert und hielt inne. Ein schadenfrohes Grinsen breitete sich auf seinem entstellten Gesicht aus.

»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als dich zu köpfen.«