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Nächtlicher Überfall

»Akiko!«, schrie Jack und zerrte Takuan hastig hinter einen Baum in Deckung.

Er suchte das Dunkel zwischen den Bäumen nach Ninjas ab, doch wenn welche da waren, sah man sie in ihren schwarzen Kitteln nicht.

Akiko tauchte neben ihm auf. »Was ist passiert?«, fragte sie erschrocken und half Jack, Takuan auf den Boden zu legen.

»Ein Pfeil aus einem Blasrohr«, antwortete Jack und zog die vergiftete Spitze aus Takuans Hals.

Akiko sah sich um. »Da oben!«

Wie ein Geist huschte ein Schatten auf der Krone der Burgmauer entlang.

Dann hörten Jack und Akiko einen Zweig auf dem Weg knacken und fuhren herum.

»Takuan, wir warten schon auf dich«, rief Emi. »Takuan?« Jetzt sah sie Takuan in Jacks Armen hängen.

Sie eilte an seine Seite. »Bist du verletzt?«

Takuan richtete den Blick mit sichtlicher Mühe auf sie. Sein Atem ging flach, seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Emi beugte sich über ihn und Takuan streifte ihre Wange mit einem Kuss.

Dann schloss er die Augen und sein Kopf fiel zur Seite.

Emi nahm seine Hand. »Bleib bei mir«, schluchzte sie.

Doch Takuan atmete nicht mehr.

»Akiko, du musst die anderen warnen«, rief Jack aufgeregt und bettete Takuans Kopf behutsam auf den Boden. In der Ferne ertönten Musketenschüsse. Daimyo Takatomi hatte mit seinem Verdacht Recht gehabt. »Daimyo Kamakura ist mit Ninjas zurückgekehrt!«

Akiko nickte und entfernte sich im Laufschritt.

Jack hörte Masamoto brüllen: »Wir werden angegriffen! Samurai der Niten Ichi Ryu, versammelt euch am inneren Tor!«

Weitere Schreie folgten. »Schützt Seine Hoheit! Alle Daimyos zum Hauptturm!«

Füße rannten über die Holzbrücken und Samurai wurden zu den Waffen gerufen. Inmitten des Lärms hörte Jack Daimyo Takatomis Stimme. »Emi-chan? Wo bist du?«

»Wir können nichts mehr für Takuan tun«, sagte er und zog die weinende Emi von dem leblosen Körper weg. »Geh zu deinem Vater.«

Er zeigte zum Garten und lief selbst in die entgegengesetzte Richtung.

»Und du?«, rief Emi ihm nach.

»Ich suche Takuans Mörder!« Er eilte auf die steinerne Treppe zu, die zum inneren Mauerring hinaufführte.

Er nahm immer zwei Stufen auf einmal. Droben angekommen, zog er sein Langschwert.

Gespenstisch leer lag die Mauer vor ihm. Wohin waren die Wachen verschwunden?

Plötzlich brach östlich der Burg Kanonendonner los, unmittelbar gefolgt von einer zweiten Salve, als seien hundert Geschütze gleichzeitig abgefeuert worden. Überall auf dem Burggelände wurden die Laternen gelöscht.

Hastig lief Jack an der Brüstung entlang, bis er im Dunkeln über etwas stolperte. Auf dem Boden lag ein Samurai mit durchgeschnittener Kehle. Jetzt wusste er, was mit den Wachen geschehen war.

Von der Krone der inneren Burgmauer aus sah er, wie sich endlose Reihen flackernder Fackeln dem äußeren Burgtor näherten.

Daimyo Kamakuras Armee kehrte in voller Stärke zurück.

Der Angriff hatte begonnen.

Satoshis Soldaten strömten zu Tausenden zum Haupttor, um die Mauern zu bemannen und zu verteidigen. Sie wussten nicht, dass der Feind bereits in die Burg eingedrungen war.

Plötzlich flog ein dreigezackter Wurfanker durch die Luft und verhakte sich am Rand der Brüstung unmittelbar neben Jack. Jack schnitt das Kletterseil sofort mit seinem Schwert durch. Der Anker landete klappernd vor seinen Füßen, das Seil fiel draußen ins Dunkel zurück.

Jack blickte über die Brüstung. Er konnte kaum etwas erkennen. Dann erst begriff er, dass ihre Gegner genau das beabsichtigten. Die Kanonensalve hatte nur der Ablenkung gedient. Sie sollte die Verteidiger zum Osttor locken und sie außerdem zwingen, alle Laternen zu löschen, damit die Kanonen sich nicht auf den Hauptturm einschießen konnten. Die schwarz gekleideten Ninjas waren in der Dunkelheit praktisch unsichtbar.

Angestrengt spähte er in die Leere hinunter und hielt erschrocken die Luft an. Im Mondlicht, das sich im inneren Burggraben spiegelte, sah er, wie schattenhafte Gestalten das Wasser überquerten. Unmittelbar unter ihm krochen sie wie Spinnen die Mauer hoch.

Zwei Augen tauchten unvermutet aus der Nacht auf und ein stählerner Gegenstand sauste aufblitzend durch die Luft. Jack wich zurück. Der Wurfstern verfehlte seinen Hals nur knapp. Ein Ninja kletterte über die Brüstung.

Jack holte mit seinem Schwert aus und hieb nach den Beinen des Ninjas. Doch der Ninja sprang hoch und schlug einen Salto über Jacks Kopf. Er landete hinter Jack und trat ihm in die Nieren. Jack prallte gegen die Brüstung. Sengende Schmerzen fuhren ihm durch den Unterleib. Als er einen Gegenstand durch die Luft sausen hörte, rollte er instinktiv zur Seite. Dort, wo sein Kopf eben noch gelegen hatte, schlug ein schweres Bleigewicht ein. Steinsplitter flogen in alle Richtungen.

Jack kroch hastig weg und hob sein Schwert, um sich zu verteidigen. Der Ninja hielt in der einen Hand eine Sichel, in der anderen eine Kette. Das beschwerte Ende kreiste über seinem Kopf. Dann ließ er es los und die Kette flog auf Jack zu. Da Jack ihr auf dem engen Weg nicht ausweichen konnte, hielt er sie mit dem Schwert auf. Die Kette wickelte sich um die Klinge und der Ninja riss Jack das Schwert aus der Hand.

Klirrend fiel es zu Boden, doch der Ninja beachtete es nicht weiter. Fauchend näherte er sich Jack. Er ließ die Kette wieder über seinem Kopf kreisen und hob die Sichel in seiner anderen Hand, bereit, Jack damit zu töten, sobald er ihn mit der Kette umwickelt hatte.

Jack wich zurück. Er hatte noch sein Kurzschwert und das Kampfmesser, aber keine Zeit mehr, eine Waffe zu ziehen. Der Ninja ließ die Kette fliegen. Jack wartete genau den richtigen Moment ab, trat in den von der Kette beschriebenen Kreis und führte einen kuki-nage aus.

Der Luftwurf überrumpelte den Ninja und riss ihn von den Füßen. Jack drehte sich mit ihm und nützte den Schwung des Angriffs dazu aus, den Ninja in die Luft zu werfen, wie Sensei Kyuzo es unzählige Male mit ihm gemacht hatte. Der Ninja flog über die Brüstung und verschwand auf der anderen Seite in der Nacht. Sein Schrei endete mit einem fernen Platschen. Er war auf dem Wasser des Grabens aufgeschlagen.

Jack hob sein Langschwert auf, hatte aber keine Zeit, sich über den perfekt gelungenen kuki-nage zu freuen. Während des Kampfes hatten sich weitere Wurfanker an der Mauer festgehakt. Jack begann die Seile durchzutrennen, doch in einiger Entfernung waren schon drei Ninjas auf die Mauer geklettert. Niemand stellte sich ihnen entgegen, denn die Vorhut der Ninjas hatte bereits sämtliche Wachen getötet. Im Schutz der Dunkelheit näherten die Ninjas sich dem Hauptturm.

Offenbar waren Satoshi und der Rat der Regenten ihr Ziel. Während die Verteidiger sich auf Daimyo Kamakuras Truppen vor den Mauern konzentrierten, sollten die Ninjas still und heimlich die Anführer in der Burg ermorden. Bestimmt versteckten sich einige von ihnen bereits im Turm und warteten nur darauf, dass die Regenten sich dorthin zurückzogen.

Er musste Masamoto warnen.