33
Moriko

Der Balken nagelte Jack auf dem Boden fest.

Die Flammen wurden immer heißer. Das ganze Gebäude ächzte und drohte über ihm einzustürzen.

Abgrundtiefe Verzweiflung packte ihn. Er würde sich nicht mehr von Akiko und seinen Freunden verabschieden können. Er würde seine kleine Schwester nicht mehr sehen und nie wieder englischen Boden betreten. So viele Gefahren und Herausforderungen hatte er bestanden und so viel gelernt, doch jetzt musste er allein sterben. Bei lebendigem Leibe verbrennen.

Er verwünschte Kazuki, dessen Skorpionbande und alles, wofür Kazuki stand. Also hatte er mit seinem Verdacht doch von Anfang an Recht gehabt. Die Verzweiflung wich seinem Zorn. So einfach wollte er sich Kazuki nicht geschlagen geben. Er stemmte sich mit aller Macht gegen den Balken.

Doch der Balken bewegte sich nicht.

»Jack!«, rief eine vertraute Stimme und er spürte, wie das Gewicht des Balkens sich hob.

Er kroch darunter hervor. Sein Rücken schrammte am Holz entlang.

»Mach schnell!«, rief Yamato. »Ich kann ihn nicht mehr lange halten.«

Er ließ den Balken genau in dem Moment fallen, als Jack seine Beine darunter hervorgezogen hatte. Jack stand auf und stolperte zusammen mit Yamato in den von Rauch erfüllten Korridor.

»Wo ist Kazuki?«, keuchte Jack.

»Er rannte an mir vorbei und sagte, er hätte dich nicht gesehen!«

»Er ist ein Verräter!«, rief Jack. Sie stürzten aus der Halle der Löwen und in den Hof.

Auf dem Schulgelände herrschte Krieg. Schwerter blitzten im Licht der Flammen, die Schlachtrufe der Samurai und das Geschrei der Verwundeten erfüllten die Luft. Eine kleine Gruppe von Schülern der Niten Ichi Ryu kämpfte Seite an Seite mit Sensei Hosokawa und Sensei Yosa gegen die Eindringlinge. Die brennenden Gebäude tauchten alles in einen blutroten Höllenschein.

Yamato sah seinen Freund erschrocken an. »Kazuki? Ein Verräter?«

Jack nickte. »Kazuki und seine Skorpionbande.«

Er sah sich um. Viele Eindringlinge waren Samuraischüler wie sie selbst. Zwei davon erkannte er an ihrer Körpergröße– Raiden und Taro, Kazukis hünenhafte Cousins aus Hokkaido. Jetzt erst begriff er, was wirklich geschah. Die Schule wurde nicht von den Soldaten Daimyo Kamakuras angegriffen, sondern von den Schülern und Sensei der Yagyu Ryu. Deshalb war der Angriff so überraschend gekommen, ohne dass Masamoto davor gewarnt worden wäre. Ihre Gegner wohnten selbst in Kyoto.

Akiko, Saburo und Kiku rannten ihnen entgegen.

»Wo ist Yori?«, fragte Jack.

Akiko schüttelte den Kopf. »Wir haben ihn noch nicht gesehen.«

In Jack krampfte sich vor Angst alles zusammen. »Er wollte unsere Waffen holen.«

Er wendete, um in die Halle der Löwen zurückzukehren.

»Nein!«, schrie Yamato und hielt ihn fest. »Das ist zu gefährlich.«

Wie zur Bestätigung stürzte im selben Moment das Dach des Mädchentrakts ein. Eine gewaltige Funkenwolke stieg wie ein Glühwürmchenschwarm in die Nacht auf.

»Yori!«, brüllte Jack und wollte sich von Yamato losreißen. Verzweifelt sahen sie zu, wie ein weiterer Teil des Dachs in sich zusammensank. Jack ließ die Arme sinken. Wenn Yori sich noch in der Halle befand, war er verloren.

Doch im nächsten Augenblick trat Yori taumelnd inmitten einer Wolke aus Rauch und Asche aus der Tür. Auf dem Rücken trug er ein großes Bündel Waffen, die er in Jacks Festtagskimono eingewickelt hatte. Nach Luft ringend und mit vom Rauch geröteten Augen ließ er das Bündel vor seinen Freunden fallen.

»Ich habe alles mitgenommen, was ich schleppen konnte«, keuchte er.

Jack umarmte ihn vor Erleichterung. Yori, an solche Gefühlsausbrüche nicht gewohnt, versteifte sich überrascht.

»Bravo, Yori!«, sagte Yamato und zog seinen bo aus dem Bündel.

Akiko nahm ihren Bogen und Köcher auf. Jack griff nach seinen beiden Schwertern, deren goldenes Phönixwappen durch das Dunkel leuchtete.

»Vorsicht!«, rief Saburo und stieß Jack zur Seite.

Ein Pfeil flog vorbei. Er hätte Jack in die Brust getroffen. Stattdessen traf er Saburo. Saburo ging zu Boden. Die stählerne Spitze hatte sich in seine linke Schulter gebohrt.

Kiku kniete sofort neben ihm. »Er stirbt!«, schrie sie.

»Nein, er blutet nur«, erwiderte Yamato. Er riss einen Streifen von dem Kimono, in den die Waffen gewickelt waren, und band ihn fest um die Wunde.

»Was hat die hier zu suchen?«, rief Akiko.

Jack sah hoch. Neben der brennenden Halle des Falken stand Moriko, das Mädchen von der Yagyu Ryu. Sie hielt ihren Bogen in der Hand. Seelenruhig, als nehme sie an einem Wettkampf teil, legte sie den nächsten Pfeil an.

Akiko riss einen Pfeil aus ihrem Köcher, doch dann hielt sie inne und starrte ihn erschrocken an. »Das sind die Pfeile mit den Holzspitzen!«

»In Wirklichkeit habe ich das Bogenschießen gewonnen!«, schrie Moriko. Sie zielte auf Akiko und schoss.

Akiko kniete hin, spannte ihren Bogen und schoss den stumpfen Yabusame-Pfeil ab. Morikos Pfeil flog an ihrem Ohr vorbei und schnitt eine Haarsträhne ab. Akikos Pfeil verfehlte sein Ziel nicht. Er traf Moriko mitten auf die Brust. Moriko taumelte unter der Wucht des Aufpralls zurück.

Akiko zog einen zweiten Pfeil aus dem Köcher. Moriko, die nach Luft schnappte, aber nicht verletzt war, legte ihrerseits wieder einen Pfeil mit stählerner Spitze auf. Jack sah hilflos zu. Akiko war einen kurzen Augenblick vor Moriko fertig. Sie schoss. Der Pfeil flog kerzengerade und traf Moriko auf die Stirn. Moriko taumelte nach hinten auf die brennende Halle des Falken zu, brach zusammen und blieb bewusstlos liegen.

»Nein, ich habe gewonnen«, sagte Akiko mit einem zufriedenen Lächeln.

Bevor jemand sie erneut angreifen konnte, zog Jack rasch seine Schwerter aus dem Waffenhaufen und gab Yori, Kiku und Akiko die drei noch übrigen Langschwerter.

»Wir müssen den anderen helfen.«

In der gegenüberliegenden Ecke des Hofes waren Takuan und Emi von gegnerischen Samurai umringt. Takuan war noch von seiner Verletzung geschwächt und konnte kaum das Schwert heben, das er gefunden hatte. Akiko schoss sofort einen Pfeil, der seinen Gegner zu Fall brachte.

Yamato hob seinen Stock und eilte den beiden zu Hilfe. Akiko rannte ihm hinterher und legte im Laufen den nächsten Pfeil ein. Jack wollte den beiden folgen, da sah er, dass Moriko vom Boden aufstand. Unsicher schwankend legte sie einen Pfeil ein.

Jack rannte los, wusste aber, dass er sie nicht rechtzeitig erreichen würde.

»Stirb!«, kreischte Moriko mit sich überschlagender Stimme und zielte auf Akikos Rücken.