15
Das Bootsrennen

»Es ist so beschämend!«, sagte Jack. Er war mit den anderen zum bojutsu-Unterricht unterwegs und sie gingen durch die malerischen Gärten des Eikan-Do-Tempels.

Droben auf dem Hügel ragte die Spitze der Pagode wie eine mehrstufige Krone durch die Bäume. Noch war das Laub, das sie umgab, grün, aber der Herbst stand vor der Tür und es würde sich bald in ein rot, golden, gelb und orange leuchtendes Farbenmeer verwandeln. Dann füllten die Gärten sich mit Menschen, die momiji gari erleben wollten, die Herbstlaubschau.

»Ich muss auf einem Spielzeugpferd sitzen, während alle anderen auf richtigen Pferden reiten!«, schimpfte Jack.

»Es ist ja nicht für immer«, tröstete Yamato ihn.

»Nein«, fiel Saburo ein und unterdrückte ein Grinsen. »Sensei Yosa macht bestimmt bald Räder dran.«

Yamato und Saburo wollten sich regelrecht ausschütten vor Lachen.

Jack sah sie böse an. »Kazuki verspottet mich deswegen schon die ganze Woche. Jetzt streut ihr auch noch Salz in die Wunde!«

»Aber Takuan hilft dir doch, nicht wahr?«, fragte Akiko, die selber Mühe hatte, ernst zu bleiben.

»Das schon«, gab Jack zu und warf einen Blick auf Takuan, der mit Emi und ihren Freundinnen Cho und Kai plauderte. Die Mädchen kicherten hinter vorgehaltener Hand über etwas, was Takuan gerade gesagt hatte. »Ich traue ihm trotzdem irgendwie nicht.«

»Wieso nicht?«

»Er hat die Leine losgelassen, als mein Pferd durchging.«

Yamato wurde schlagartig ernst. »Warum sollte er das tun?«

Jack zuckte die Schultern. »Um mich vor den anderen bloßzustellen. Um zu beweisen, dass ein Gaijin kein Samurai sein kann.«

»Du bist zu misstrauisch, Jack«, widersprach Akiko. »Takuan war bisher immer höflich und nett zu uns. Er hat mir auch gesagt, wie sehr er sich für deinen Unfall verantwortlich fühlt.«

»Dir sagt er doch alles.«

»Was meinst du damit?«

Jack bereute seine vorschnelle Bemerkung sofort. Akiko wollte ihm nur helfen. »Ach… nichts.« Er ging schneller und ließ die anderen hinter sich zurück.

Yori eilte ihm nach.

»Alles in Ordnung?«, fragte er leise.

Jack schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt nein«, brummte er missmutig. »Ich mache mich beim Yabusame vor allen lächerlich.«

»Aber wir sind doch alle Anfänger«, wandte Yori ein. »Und du kannst nicht immer der Beste sein.«

»Das meine ich auch nicht.« Jack seufzte. »Aber Takuan kann es so gut und alle reden über ihn– er hat sogar Sensei Yosa beeindruckt. Und er unterhält sich andauernd mit Akiko.«

»Er unterhält sich auch mit anderen viel.« Yori musterte Jack ernst. »Hüte dich vor dem Tiger, der nicht nur die Beute, sondern sein eigenes Herz reißt.«

»Was soll das heißen?«, fragte Jack entgeistert.

Doch Yori zog nur allwissend die Augenbrauen hoch, wie Sensei Yamada es zu tun pflegte, und ging weiter.

Sensei Kano klopfte mit seinem langen, weißen Stock auf den Boden und beendete das Training der Schüler.

»Ihr habt euch aufgewärmt«, rief er mit seiner tiefen, volltönenden Stimme. »Jetzt werden wir an eurem Gleichgewichtssinn arbeiten.«

Sensei Kano, ein Koloss von Mann mit kurz geschnittenen schwarzen Haaren und einem flauschigen Bart, war ein furchterregender Samurai. Er trat auf einen hölzernen Anlegesteg am mittleren Teich des Tempelgeländes. Seine zielstrebigen Schritte ließen nicht im Entferntesten ahnen, dass er blind war. Nur der verschwommene Blick seiner grauen Augen verriet es. Die Augen sahen nichts. Mit seinen anderen Sinnen nahm Sensei Kano dagegen alles wahr.

Er klopfte mit seinem Stock an den Rand des Steges. Dort schaukelten einige kleine Ruderboote im Wasser.

»Tut euch jeweils zu zweit zusammen und rudert mit den Booten zum anderen Ufer und zurück.«

»Wie soll das unserem Gleichgewichtssinn helfen?«, fragte Saburo.

»Einer von euch rudert, der andere muss hinten stehen«, erklärte Sensei Kano. »Am anderen Ufer wechselt ihr. Ihr fahrt um die Wette, doch wird dieses Rennen nicht unbedingt von den schnellsten Ruderern gewonnen. Wenn euer Partner ins Wasser fällt, müsst ihr einmal im Kreis rudern, bevor ihr weiterfahrt. Yori-kun, passt du darauf auf, dass alle sich an diese Regel halten?«

Die Schüler taten sich zu zweit zusammen und stiegen in die Boote.

Takuan drängelte sich rasch vor Jack. »Fährst du mit mir?«, fragte er Akiko.

Akiko bedankte sich mit einer kleinen Verbeugung. »Ich wollte eigentlich mit Kiku fahren.«

»Natürlich, aber wäre es nicht sinnvoller, wenn Kiku mit Saburo fährt?«

Saburo sah Takuan mit offenem Mund an, Kiku riss überrascht die Augen auf.

»Ein großer, starker Samurai wie du fährt ein solches Rennen doch sicher gern mit einem leichten, schnellen Mädchen wie Kiku.«

Saburo band sich den Obi fester um seine ausladenden Hüften, unschlüssig, was er auf dieses Lob antworten sollte. »Wenn du meinst…«

»Prima«, sagte Takuan, als sei die Entscheidung damit getroffen. »Sieh mich nicht so gekränkt an, Jack. Ich würde ja mit dir rudern, aber dann hätten wir einen unfairen Vorteil.«

»Inwiefern?«, fragte Jack verwirrt.

»Du warst Matrose und hast deshalb die beste Chance zu gewinnen.« Takuan half Akiko in ein Boot. »Die Mädchen brauchen gerechtigkeitshalber einen starken männlichen Partner zum Ausgleich.« Er bemerkte, wie Akiko die Stirn runzelte, und fügte hastig hinzu: »Nicht dass Akiko Hilfe bräuchte.«

»Da hast du Recht«, sagte Jack und stieg mit Yamato in ein Boot. »Als Ballast kannst du ihr natürlich nützen! Trotzdem gebe ich dir nicht allzu viele Chancen.«

»Klingt nach einer Herausforderung«, sagte Takuan grinsend. »Wir sehen uns dann am Ziel.«

Er drückte sich vom Steg ab und Akiko nahm ihren Platz am Heck ein.

»Takuan weiß immer eine Antwort«, sagte Yamato und nahm die Ruder.

Jack nickte. Akiko trieb an ihnen vorbei. Der Wind trug ihnen ihr perlendes Lachen zu. Jack hoffte inbrünstig, dass sie nicht auf Takuans Annäherungsversuche hereinfiel.

Endlich lagen alle Boote nebeneinander aufgereiht und die Nichtruderer hatten ihren Platz am Heck eingenommen. Sie versuchten sich mithilfe ihrer Stöcke im Gleichgewicht zu halten, trotzdem schwankten viele gefährlich.

»Auf die Plätze, fertig… los!«, rief Sensei Kano.

Die Boote setzten sich in Bewegung. Saburo fiel als Erster mit einem lauten Platsch ins Wasser. Hustend und spuckend tauchte er wieder auf. Kiku zog ihn ins Boot, das dabei fast kenterte, dann nahm sie die Ruder auf, um die Strafrunde zu drehen.

Jack gewöhnte sich sofort wieder an die schwankenden Planken und feuerte Yamato an. Sie ließen die anderen bald hinter sich zurück. Schon landete der nächste Schüler platschend im See. Jack drehte sich um und sah Cho im Wasser zappeln. Emi schimpfte wütend mit ihr und verkündete, sie wäre lieber mit Kai gefahren. Kai sah aus, als hätte sie ebenfalls gern getauscht, denn ihr Partner war der schwergewichtige Nobu.

Akiko und Takuan kamen gut voran. Takuan versuchte möglichst ruhig zu rudern, obwohl Akiko wahrscheinlich sogar bei Sturm auf einem Bein stehen konnte, ohne umzufallen. Die Liste ihrer Talente schien dieser Tage endlos. Sein Blick fiel auf Kazuki und Hiroto, die sich von hinten an sie heranarbeiteten. Hiroto ruderte mit langen, kraftvollen Schlägen, Kazuki stand mit seinem bo geduckt am Heck, um seinen Schwerpunkt möglichst niedrig zu halten.

»Schneller!«, rief Jack. »Die anderen holen auf.«

Yamato legte sich ins Zeug. Sie passierten einen Stein, der die Hälfte der Strecke markierte. Doch Hiroto erwies sich als der bessere Ruderer und die beiden Boote lagen schon bald gleichauf. Plötzlich fuhren Jack sengende Schmerzen durch die Rippen und er wäre fast ins Wasser gefallen.

»Das ist Betrug!«, schrie Yamato. Er hatte gesehen, wie Kazuki Jack seinen Stock in den Rücken gestoßen hatte.

»Nicht Betrug, sondern Taktik«, erwiderte Kazuki herablassend. Hiroto ging mit dem Boot längsseits. »Schließlich haben wir bojutsu-Unterricht. Und vergiss nicht unsere Abmachung!«

Er schlug erneut zu. Jack, der immer noch taumelte, konnte ihm nicht ausweichen. Er bekam den Stock in den Bauch und krümmte sich vor Schmerzen vornüber. Kazuki holte zum entscheidenden Angriff aus, um Jack ins Wasser zu stoßen. Im letzten Moment konnte Jack ihn abwehren. Er ließ seinen Stock kreisen und zielte auf Kazukis Kopf. Doch Kazuki duckte sich und zog seinen Stock tief über Jacks Boot. Jack musste springen, um nicht an den Schienbeinen getroffen zu werden.

Er landete unsanft auf den Planken und das kleine Boot begann gefährlich zu schwanken. Yamatos rechtes Ruder tauchte tief ins Wasser ein und wurde ihm aus der Hand gerissen. Das Boot legte sich schräg. Jack fuchtelte verzweifelt mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Nur seine jahrelange Erfahrung als Matrose verhinderte, dass er über Bord ging.

Doch kippte ihr Boot bereits zur Seite und lief voll. Jack sprang auf die andere Seite, um es aufzurichten, bevor es kenterte, doch zu spät. Das Boot war zu klein.

Lachend fuhren Kazuki und Hiroto an ihnen vorbei.

»Ihr könnt hoffentlich schwimmen!«, rief Hiroto ihnen zu. Zappelnd und prustend lagen Jack und Yamato im kalten Wasser.

Bis sie ihr Boot aufgerichtet hatten, eingestiegen waren und die Strafrunde gedreht hatten, waren drei andere Boote an ihnen vorbeigefahren, darunter Takuan und Akiko.

Yamato packte die Ruder und begann wütend zu rudern, während Jack geduckt am Heck stand und ihn anfeuerte. Als sie am gegenüberliegenden Ufer ankamen, hatten sie bereits zwei Boote überholt. Takuan und Akiko hatten soeben gewendet, Kazuki und Hiroto hatten Plätze getauscht und befanden sich bereits auf dem Rückweg. Jack übernahm die Ruder von Yamato, vergewisserte sich, dass sein Freund gut stand, und tauchte die Ruder ein.

Mit jedem Schlag kamen sie den beiden Booten vor sich näher. Takuan konnte gut das Gleichgewicht halten, doch Akiko ruderte nicht so schnell wie Jack. Er überholte die beiden schon bald. Als Nächstes wollte er Kazuki einholen. Er zog die Ruder gleichmäßig durch das Wasser und achtete darauf, dass sie nicht am Grund des Teichs hängen blieben. Ruhig glitten sie durch das Wasser und lagen bald Kopf an Kopf mit Kazuki und Hiroto.

Doch Kazuki wollte sie nicht vorbeilassen. Die Ruder schlugen aneinander und er drohte Jacks Boot zu rammen. Hiroto wollte Yamato mit seinem Stock ins Wasser stoßen, doch Yamato war zu schnell und zu geschickt mit dem bo. Er lenkte den Stoß ab, schlug Hiroto seinen Stock über die Knöchel und zwang ihn, seine Waffe fallen zu lassen. Dann stieß er Hiroto in die Brust. Hiroto kippte ins Wasser. Kazuki gab fluchend auf. Jack und Yamato ließen ein Triumphgeheul ertönen.

Sie hatten gesiegt!

Da lief ein Ruck durch das Boot und es hielt abrupt an. Yamato verlor das Gleichgewicht und fiel auf Jack. Die beiden waren so mit ihren Rivalen beschäftigt gewesen, dass sie mit einem künstlichen Felsen zusammengestoßen waren. Hilflos mussten sie zusehen, wie Akiko seelenruhig an ihnen vorbeiruderte.

Takuan hob grüßend seinen Stock. »Eure Heldentaten haben mich zu einem Haiku inspiriert.

Der Hase rennt zu schnell,
um als Erster am Ziel zu sei
n
hört, wie die Schildkröte lacht.«