21
Die Waffenwand

Sensei Kyuzo ließ Jack aus der Reihe der Schüler im Butokuden vortreten. »Such dir eine Waffe aus«, befahl er.

Ihr Lehrer im waffenlosen Kampf stand in der Mitte der Übungshalle und hatte die kleinen, steinharten Fäuste in die Hüften gestemmt. Er war kaum größer als ein Kind und wirkte zwischen den mächtigen Säulen aus Zypressenholz, die das gewaltige Gewölbe des Butokuden stützten, noch kleiner. Doch wussten alle Schüler der Niten Ichi Ryu, dass man ihn nicht unterschätzen durfte. Er war so gemein und gefährlich wie eine Grubenotter.

Seine schwarzen Knopfaugen folgten Jack zur Waffenwand der Halle. Ehrfürchtig starrte Jack auf die Sammlung verschiedenster Waffen. Neben den vertrauten Übungsschwertern und Langschwertern hing dort eine große Auswahl tödlicher Kampfmesser. Jack entdeckte auch zwei nodaichi, deren gewaltige Klingen in extralangen Scheiden steckten. Er erinnerte sich, wie Masamoto bei einem Zweikampf am Strand gegen ein solches Schwert gekämpft hatte und nur mit einem Ruder gegen dessen tödliche Reichweite angekommen war.

Links von ihm hingen Bogen und Pfeile, außerdem unterschiedlich lange Holzstöcke. Rechts standen in einem Gestell Speere, mit denen man seinem Gegner auf verschiedene schreckliche Weisen das Leben nehmen konnte– einige mit einfachen Spitzen, um ihn zu durchbohren, andere mit scharfen Schneiden zum Hacken und Zerstückeln. Einige besaßen auch dreigezackte Spitzen, mit denen man dem Gegner schwerste Verletzungen zufügen konnte.

Dazwischen hingen besondere Waffen. Jack war nicht überrascht, auch einen Fächer zu sehen. Eine Kunoichi, ein weiblicher Ninja, hatte ihn einmal mit einer solchen unschuldig aussehenden und doch tödlichen Waffe zu Tode prügeln wollen. Die Rippen des Fächers bestanden aus gehärtetem Eisen.

Außerdem gab es Kettenwaffen mit Gewichten an den Enden, Schwertlanzen mit gekrümmten Klingen, Sicheln und eine große, mit Eisen umhüllte und mit tückischen Stacheln besetzte Keule aus Eichenholz.

»Beeil dich!«, schimpfte Sensei Kyuzo. »Bis du dich entschieden hast, ist der Krieg schon ausgebrochen.« Der Schnurrbart unter seiner Nase zuckte ungeduldig.

Jack entschied sich für die Keule. Wenn Sensei Kyuzo unbedingt eine Waffe wollte, bitte sehr.

Die Keule war allerdings so schwer, dass er sie nicht hochheben konnte. Sie fiel krachend zu Boden und auf seinen Fuß. Er hüpfte vor Schmerzen im Kreis herum und die anderen Schüler kicherten und lachten.

»Um eine solche Keule zu schwingen, brauchst du richtige Muskeln, Gaijin«, schnaubte Sensei Kyuzo. »Nimm etwas, was deinen beschränkten Fähigkeiten entspricht.«

Wütend griff Jack nach der nächstbesten Waffe. Ein Kampfmesser.

Sensei Kyuzo hatte wie immer ihn ausgewählt, um eine neue Technik vorzuführen. Jack wusste, was gleich passieren würde. Er würde gedemütigt, getreten, geschlagen, festgehalten und durch die Halle geworfen werden. Diesmal kamen allerdings zum ersten Mal auch Waffen zum Einsatz. Bestimmt machten sie alles noch schlimmer.

»Dachte ich mir«, sagte Sensei Kyuzo. »Aber ich kann daran gut zeigen, wie man einen Gegner entwaffnet. Stoße es mir in den Bauch.«

Jack sah ihn überrascht an.

»Los!«, befahl Sensei Kyuzo.

Jack stieß zu. Sensei Kyuzo wich ihm aus, schlug Jack mit der Faust auf das Handgelenk und versetzte ihm zugleich einen Schlag gegen den Hals. Das Messer fiel zu Boden, im nächsten Augenblick folgte Jack.

»Wenn man jemanden entwaffnen will, muss man ihm zunächst ausweichen«, erklärte Sensei Kyuzo. Jack rang nach Luft. »Dadurch wendet man zumindest einmal die unmittelbare Gefahr ab.«

Jack stand langsam auf und rieb sich den Hals. Er war noch bei Bewusstsein. Sensei Kyuzo hatte demnach nicht mit voller Kraft zugeschlagen, aber auf jeden Fall stärker als nötig.

Er warf Akiko einen Blick zu. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und schien empört darüber, wie der Sensei ihn behandelte.

»Wähle eine andere Waffe«, befahl der Sensei, ohne Jack Zeit zu geben, sich zu erholen.

Jack entschied sich für ein Holzschwert. Damit war er vertraut und konnte sich vielleicht an Sensei Kyuzo rächen.

Doch der Sensei schien genau zu wissen, wie Jack ihn angreifen würde, und konnte dem Schwert mühelos ausweichen. Er trat auf Jacks rechte Seite, fing Jacks Arm ab und drehte ihm den Unterarm auf den Rücken.

»Zweitens fügt man dem Angreifer Schmerzen zu. Damit lenkt ihr den Gegner ab und macht ihn vielleicht sogar kampfunfähig.« Sensei Kyuzo drückte stärker auf den Unterarm. Jack verzog das Gesicht vor Schmerzen. »Wenn ihr euren Gegner so festhaltet wie ich jetzt, könnt ihr mit dem Schwert nachsetzen und ihn töten.«

Er wand Jack den bokken aus der Hand und führte die Klinge zwischen Jacks Beinen nach oben. Anschließend zog er die Schwertspitze weiter bis zur Brust hinauf. Die anderen Schüler zuckten unwillkürlich zusammen. Sensei Kyuzo drückte zwar nicht fest zu, aber es tat trotzdem weh und Jack war froh, dass er kein stählernes Langschwert ausgewählt hatte.

»Wenn ihr dem Gegner drittens die Waffe auch noch abnehmen könnt, umso besser«, sagte Sensei Kyuzo, ohne Jacks Schmerzen zu beachten. »Greif mich jetzt mit einem Speer an.«

Wütend nahm Jack den gefährlichen Dreizack von der Wand und griff seinen Lehrer damit an. Der Lehrer wich den spitzen Zacken seelenruhig aus und trat Jack gegen die Schienbeine. Er packte den Speer, drehte ihn Jack aus den Händen und schlug ihm damit gegen das Kinn. Jack ging zum zweiten Mal zu Boden.

»Steh auf!«, rief Sensei Kyuzo spöttisch und ohne das geringste Mitleid. »Ich gebe dir eine letzte Chance, mich zu bezwingen. Oder kannst du nicht mehr?«

Jack rappelte sich mühsam auf und schüttelte den Kopf, um seine Benommenheit loszuwerden. Akiko hielt sich mit der Hand die Augen zu. Offenbar konnte sie Jacks Demütigung nicht mehr mit ansehen. Yamato schien stumm zu wünschen, Jack möge aufgeben, solange er noch konnte.

Jack wusste, dass Sensei Kyuzo nur mit ihm spielte, aber er war wütend und konnte der Versuchung nicht widerstehen, den sadistischen Lehrer ein letztes Mal herauszufordern. Er suchte die Wand nach einer Waffe ab, mit der er ihn in Schach halten konnte. Schließlich entschied er sich für eine Kette, an deren Ende ein Gewicht befestigt war.

Er ließ sie über seinem Kopf kreisen und näherte sich dem Sensei. Zu seiner Freude sah er Sensei Kyuzo sofort zurückweichen.

»Diese Waffe kann man nur sehr schwer unschädlich machen«, sagte der Sensei und wich noch weiter zurück. »Man kann sie nicht abblocken oder festhalten und ihr auch nur schwer ausweichen.«

Jack grinste. Er hatte Sensei Kyuzo zum ersten Mal in die Enge getrieben. Jetzt würde er ihn besiegen

»Man kommt ihr nur mit einem kuki-nage bei«, rief Sensei Kyuzo und stürzte sich auf Jack. »Einem Luftwurf.«

Jack wirbelte die Kette so schnell herum, wie er konnte. Sensei Kyuzo drehte sich mit ausgestreckten Armen in den von der Kette beschriebenen Kreis, schlug Jack mit der führenden Hand gegen den Kopf und drückte ihn mit seinem eigenen Schwung nach unten. Mit der anderen Hand bekam er die Kette zu fassen und riss ihn vollends um. Unsanft landete Jack zum dritten Mal auf dem Boden. Sensei Kyuzo hielt seinen Arm in einem schmerzhaften Hebelgriff.

»Der Luftwurf basiert darauf, dass eine Kugel ihren Schwerpunkt immer in der Mitte hat«, erklärte Sensei Kyuzo. Er entwand Jack die Kette, behielt den Hebelgriff aber bei, obwohl Jack zum Zeichen seiner Unterwerfung bereits auf den Boden klopfte. »Man kann dem Schwung der Drehung in diesem Fall nicht widerstehen, sondern muss ihm folgen und den Angreifer umreißen.«

Jack klopfte lauter. Die Schmerzen in seinem Arm wurden unerträglich. Sensei Kyuzo beachtete ihn nicht.

»Ihr habt jetzt die vier Techniken gesehen, mit denen ihr arbeiten werdet. In der Schlacht können sie euch das Leben retten. Bildet Paare, wählt eine Waffe und übt miteinander.«

Endlich löste er seinen Griff und ließ Jack wie ein uninteressant gewordenes Spielzeug fallen.

Jack rieb sich das schmerzende Ellbogengelenk und ging zu Akiko und den anderen, die vor der Waffenwand standen.

»Warum lässt du dich von ihm provozieren?«, fragte Akiko und sah ihn besorgt an. In der Hand wog sie einen Speer.

»Ich habe mich nicht freiwillig als Opfer gemeldet«, protestierte Jack. »Er hat es auf mich abgesehen. Wenigstens weiß ich, auf welcher Seite er steht, wenn ein Krieg ausbricht.«

»Sag so etwas nicht, Jack«, schalt Akiko. »Du darfst seine Treue zu Masamoto-sama nicht infrage stellen. Wenn Sensei Kyuzo dich so reden hören würde, würde er dir eine Strafarbeit geben, die einen Monat lang dauert.«

Jack zuckte die Schultern. »Er bestraft mich auch so.«

»Ist die schwer«, ächzte Saburo. Er versuchte gerade, die schwere Keule hochzuheben. »Aber einen Schädel kann man damit schon einschlagen!«

Yamato ließ die Kette in der Hand schwingen. »Die Kette war keine schlechte Wahl, Jack, aber wenn du Abstand von Sensei Kyuzo wolltest, warum hast du nicht Pfeil und Bogen genommen?«

»Gute Idee«, keuchte Saburo mit der schweren Keule in der Hand. »Dagegen wäre er machtlos gewesen.«

»Wirklich?«, fragte der Sensei herausfordernd. Er war unbemerkt hinter Saburo getreten.

»Na ja… gegen einen Pfeil kann man sich nicht wehren«, stotterte Saburo. Er ließ die Keule krachend fallen.

»Es kommt nur darauf an, wie schnell man reagiert.«

»Aber wie kann man einen Pfeil anhalten?«, rief Saburo. Der gelangweilte Ton des Sensei verwirrte ihn.

»Mit den Händen.«

Saburo schnaubte ungläubig.

Sensei Kyuzo durchbohrte ihn mit einem wütenden Blick, doch dann merkte er, dass die anderen Schüler sich um sie versammelt hatten und ihn erwartungsvoll ansahen. Sie wollten alle wissen, wie das ging.

Sensei Kyuzo riss einen Bogen von der Waffenwand. »Ich brauche jemanden, der einen Pfeil geradeaus schießen kann. Akiko-chan, ich befehle dir, auf mein Herz zu schießen.«

Er ging zum anderen Ende des Butokuden, ohne Akikos Proteste zu beachten.

»Worauf wartest du?«, rief er barsch. »Wir verschwenden nur wertvolle Unterrichtszeit.«

Jack meinte zu spüren, dass Sensei Kyuzo sich trotz seiner äußeren Ungeduld über die Gelegenheit freute, sein Können als Krieger zu zeigen. Der Sensei litt unter seiner Kleinwüchsigkeit. Umso wichtiger war es ihm unter Beweis zu stellen, dass er stärker, schneller und geschickter war als alle anderen.

Akiko legte einen Pfeil ein, spannte den Bogen und zielte. Ihre Hände zitterten ein wenig.

Gespanntes Schweigen senkte sich über die Halle. Niemand bewegte sich. Alle warteten darauf, was Sensei Kyuzo tun würde.

Akiko schoss und der Pfeil flog auf den Sensei zu.

Sensei Kyuzo rührte keinen Muskel.

Der Pfeil flog an seiner Schulter vorbei und bohrte sich in einen Pfeiler hinter ihm.

»Ich sagte doch, du sollst auf mich schießen!«, rief er ärgerlich. »Einen Pfeil, der mich nicht trifft, brauche ich auch nicht abzufangen.«

Akiko leckte sich nervös die Lippen und legte einen zweiten Pfeil ein. Diesmal zielte sie auf das Herz des Sensei.

Jack wusste, dass sie treffen würde. Gleich würde Sensei Kyuzo sterben.

Kerzengerade flog der Pfeil durch die Luft und auf sein Ziel zu.

Im allerletzten Moment fing Sensei Kyuzo ihn mit der rechten Hand auf.

Die Schüler starrten ihn stumm an.

Einen Augenblick lang genoss er ihre entgeisterten Blicke, dann kehrte er triumphierend durch die Halle zurück und gab den Pfeil Akiko zurück.

»Noch Fragen?«