50
Papierkranich

Jack drängte die Wachen zur Seite und rannte die Treppe des Torturms zu den Wehrgängen hinauf. Hunderte von Soldaten schossen mit Arkebusen oder Pfeil und Bogen auf die Feinde oder schleuderten Steine auf sie. Drunten in der Ebene kämpften einige versprengte Reste von Satoshis Armee tapfer weiter, während Daimyo Kamakuras Truppen mit ihren Belagerungsmaschinen und Kanonen gegen die Mauern vorrückten.

Unmittelbar unter Jack griff eine wimmelnde Masse Roter Teufel das Burgtor an. Die Verteidiger hatten die Zugbrücke hochgezogen, doch die Angreifer gingen daran, den Burggraben mit den Leichen der Gefallenen auszufüllen.

Verzweifelt blickte Jack sich um. Yori war nirgends zu sehen. Er musste irgendwo unter den Leichen liegen.

»Wir müssen gehen«, sagte Akiko und legte Jack die Hand auf die Schulter. »Masamoto-sama hat angeordnet, dass wir uns bei unserem Quartier sammeln sollen.«

»Warum wurde das Tor geschlossen?« Jack schlug wütend mit der Faust auf die Brüstung.

»Die Feinde hätten uns sonst überrannt.«

»Aber Yori stand schon auf der Brücke!« Jack zitterte vor Empörung. Dann begann er auf einmal hemmungslos zu schluchzen. »Ich habe ihm versprochen, auf ihn aufzupassen.«

»Das hast du doch auch getan«, sagte Akiko und zog ihn mit sich. »Es war Yoris eigene Entscheidung, Taro zu helfen. Durch sein Opfer hat er uns gerettet.«

Bei ihrer Ankunft im Quartier stellte Jack erschrocken fest, dass nur knapp die Hälfte der Schüler zurückgekehrt war. Viele waren verwundet, andere saßen wie betäubt da und starrten verloren vor sich hin. Sie hatten schwere Verluste erlitten. Sensei Nakamura war gefallen, Sensei Yamada und Sensei Kano wurden vermisst. Jack ging zu Emi, deren Bein inzwischen verbunden war. Cho leistete ihr Gesellschaft.

»Wo ist Kai?«, fragte er und fürchtete die Antwort.

Cho schüttelte traurig den Kopf und wischte eine Träne weg.

Emi wollte sich aufsetzen, um ihn zu begrüßen. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast, Jack.«

»Es ist das Mindeste, das ich tun konnte, nachdem ich es letztes Jahr in Gefahr gebracht habe«, antwortete Jack.

Emi lächelte ihn an. »Ich verzeihe dir.«

»Ich auch«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Jack drehte sich um. Vor ihm stand Daimyo Takatomi in Begleitung zweier Leibwächter. Er trug den Arm in einer Schlinge.

»Jack-kun, ich danke dir und deinen Freunden dafür, dass ihr meine Tochter in Sicherheit gebracht habt. Dass Taro und Yori nicht zurückgekehrt sind, tut mir sehr leid.« Daimyo Takatomi neigte den Kopf. »Sobald diese Schlacht vorbei ist, besuche uns bitte wieder zur Teezeremonie in meiner Burg. Dann werden wir ihrer gedenken und auf ihre Tapferkeit anstoßen.«

»Es wäre mir eine Ehre«, sagte Jack mit einer tiefen Verbeugung. Der Daimyo ging mit Emi, die von seinen Leibwächtern getragen wurde. Jack unterdrückte ein müdes Lächeln. Es konnte nur Daimyo Takatomi einfallen, mitten im Krieg eine Teezeremonie abzuhalten.

»Samurai der Niten Ichi Ryu«, rief Masamoto, von den Kämpfen gezeichnet, doch grimmig entschlossen. »Wir haben große Verluste erlitten, doch zum Aufgeben konnten die Feinde uns nicht zwingen.«

Heftige Gefühle bewegten ihn und die Narben in seinem Gesicht leuchteten tiefrot.

»Die Tugenden des Bushido, die ihr auf dem Schlachtfeld gezeigt habt, verdienen größten Respekt. Euer Mut im Angesicht der Gefahr und die Opferbereitschaft derer, die gestorben sind, um ihre Kameraden zu retten, werden nie vergessen werden. Dieser Geist ist das Fundament unserer Schule und macht uns unbesiegbar. Denkt an Sensei Yamadas Worte: Nur gemeinsam sind wir stark.«

Jack, Akiko und Yamato wechselten einen Blick. Zwar dachten sie vor allem an Yori, aber sie wussten auch, dass sie weiter zusammenhalten mussten, wenn sie den Krieg überleben wollten.

»Während ich hier rede, plant der Rat der Regenten bereits eine Gegenoffensive. Ruht euch in der Zwischenzeit aus. Ihr werdet eure Kraft für den nächsten Angriff brauchen. Lang lebe die Niten Ichi Ryu!«

Die Schüler wiederholten den Schlachtruf, doch klang er schwächer als sonst. Masamoto und die noch übrigen Sensei verließen den Hof in Richtung Hauptturm. Jack ging mit Yamato und Akiko in ihr Quartier.

Er legte sich in die hinterste Ecke, um zu schlafen. Doch der ferne Kanonendonner erinnerte ihn ständig daran, dass die Schlacht andauerte. Und das leere Lager zwischen ihm und Yamato sprach auf grausame, schmerzliche Weise davon, dass Yori nicht mehr bei ihnen war.

Jack versuchte sich mit Erinnerungen an zu Hause abzulenken, doch seine Gedanken kehrten immer wieder zu Yori zurück. Kurz vor dem Einschlafen bemerkte er einen kleinen weißen Papierkranich in Yoris Bündel. Er streckte die Hand aus, zog ihn heraus und hielt ihn auf dem Handteller vor sich hin. Ihm fiel ein, wie Yori ihm vor seinem Kampf gegen Sasaki Bishamon, einen eingebildeten Samurai auf Kriegerwallfahrt, einen solchen Kranich geschenkt hatte. Es war Yoris tausendster Kranich gewesen, bei dem man sich traditionsgemäß etwas wünschen durfte. Yori hatte sich gewünscht, dass Jack im Zweikampf nichts zustoßen möge. Jetzt steckte Jack den kleinen Vogel in seine eigene Schultertasche zu dem Daruma, den Yori aus dem Feuer gerettet hatte. Vielleicht brachte ihm auch dieser Kranich Glück.

Jedenfalls würde er seinen treuen Freund nie vergessen.