36
Der Tag danach

Das Morgenrot sickerte durch den vom Rauch trüben Himmel und färbte die Wolken wässrig rot. Feierliches Schweigen hing über der Schule. Die Überlebenden versorgten die Verwundeten und retteten aus den ausgebrannten Gebäuden, was sie konnten.

Jack trat mit dem Fuß einige rauchende Trümmer der Halle der Löwen zur Seite. Sein Zimmer war vollkommen zerstört, bokken, Bonsai und Kleider waren verbrannt. Ausnahmsweise war er einmal froh, dass Drachenauge ihm das Logbuch gestohlen hatte, sonst wäre es ebenfalls nichts als Asche. Jetzt besaß er nur noch den Kimono, den er am Leib trug, und Masamotos Schwertpaar.

Er bückte sich und entdeckte halb unter der Asche vergraben einen verkohlten Pergamentfetzen. Er zog ihn aus dem ebenfalls verkohlten Inro und hielt die Überreste einer Kinderzeichnung in der Hand. Das Bild, das seine Schwester von ihrer Familie gemalt hatte. Es war so gut wie zerstört. Jack ließ es wieder in die fast erloschene Asche fallen.

Er durfte sich keine Hoffnung mehr machen, je nach Hause zu Jess zurückzukehren. Nicht, wenn ein Krieg Japan zu verschlingen drohte. Kämpfe würden ausbrechen und das Reisen unmöglich machen. Nun war seine Schule überfallen worden. Er hatte gelobt, dem Weg des Kriegers zu folgen, und sich damit verpflichtet, die Ehre seiner Schule zu verteidigen. Der Verhaltenskodex des Bushido bestimmte über sein Handeln. Seine Treue zu Masamoto und zu seinen Freunden war wichtiger als die lang erträumte Heimkehr.

Der Inro, in dem das Bild gesteckt hatte, war ebenfalls verkohlt. Als Jack ihn fallen ließ, hörte er etwas klappern. Er hob ihn wieder auf und Akikos Perle rollte in seine Hand. Sie hatte das Feuer wie durch ein Wunder überstanden. Mit einem erschöpften Lächeln steckte er das kostbare Geschenk in eine Falte seines Obi. Es sollte ihn an das erinnern, was in Japan gut war und für das es sich zu kämpfen lohnte.

Er wollte gerade zu seinen Freunden zurückkehren, da sah er etwas stählern aufblitzen. Er schob die Asche zur Seite und legte das Messer frei, das er dem Ninja im Bambuswald abgenommen hatte. Die lackierte Scheide war in der Hitze geborsten, aber das Messer selbst war unbeschädigt. Im Gegenteil, das Feuer schien den Stahl noch mehr gehärtet zu haben, denn von Jacks kleinem Finger tropfte bereits Blut. Offenbar hatte er sich schon wieder geschnitten. Vorsichtig steckte er das von einem bösen Geist besessene Messer in den Gürtel.

»Jack!«, rief Yori und rannte zu ihm.

Jack richtete sich langsam auf und begrüßte ihn. Ihm tat alles weh. Er fühlte sich am ganzen Leib zerschlagen und sein Hals schmerzte von der Schlinge, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Dabei gehörte er noch zu denen, die Glück gehabt hatten. Wenigstens konnte er noch gehen.

Yoris Gesicht war von Ruß und Tränen verschmiert. Er gab Jack einen kleinen, runden, in ein Tuch eingewickelten Gegenstand.

»Der gehört dir«, sagte er stolz.

Jack wickelte ihn aus.

Zum Vorschein kam sein Daruma.

»Er lag auf dem Kimono, in den ich die Waffen eingewickelt habe«, erklärte Yori. »Ich wusste, dass der Wunsch, den du an ihn gerichtet hast, dir viel bedeutet, deshalb habe ich ihn zusammen mit den Waffen mitgenommen.«

»Danke.« Jack klopfte ihm auf die Schulter. »Obwohl ich nicht glaube, dass der Daruma mir hilft. Mein Wunsch ist schon fast drei Jahre alt.«

»Daruma-Wünsche gehen immer in Erfüllung. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, Jack.«

Yori blickte bittend zu ihm auf und Jack merkte, dass der Freund selbst am Ende seiner Kräfte war. Der Überfall und die grausamen Kämpfe hatten ihn zutiefst erschüttert und er rang sichtlich um Fassung. Jetzt suchte er bei Jack Trost.

Jack lächelte. »Wir haben überlebt, das ist das Wichtigste. Und du hast mir das Leben gerettet. Meine Mutter hat immer gesagt: ›Wo Freunde sind, da ist auch Hoffnung.‹ Und du bist ein wahrer Freund, Yori.«

Yori verneigte sich gerührt. »Es ist mir eine Ehre.«

Sie überquerten den Hof und kamen an einer Gruppe von Schülern der Yagyu Ryu vorbei, die von Samurai der Yoshioka Ryu bewacht wurden. Auch Nobu und Hiroto befanden sich unter den Gefangenen. Sie waren notdürftig verbunden, wirkten aber am Boden zerstört und hatten die Köpfe beschämt gesenkt. Kazuki war nicht dabei. Offenbar hatte der Verräter im Gewühl der Schlacht entkommen können.

Die Nachricht von seinem Verrat hatte sich wie ein Lauffeuer unter den Schülern verbreitet. Masamoto war über das doppelte Spiel von Kazukis Vater außer sich. Er gelobte, Oda-san zu bestrafen, und ließ eine Patrouille nach dessen Sohn suchen. Bisher waren alle Nachforschungen allerdings vergeblich gewesen.

Am Haupttor hatte man die Leichen der Gefallenen zusammengetragen. Sie sollten in verschiedenen Tempeln eingeäschert werden. Daneben stand Akiko.

»Geh du schon weiter, ich komme gleich nach«, sagte Jack zu Yori.

Yori nickte verständnisvoll und betrat die Halle der Schmetterlinge.

Jack ging zu Akiko. Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet.

»Ich mochte sie nicht, aber einen solchen Tod hat sie nicht verdient.« Akiko blickte auf die tote Moriko hinunter. »Es war alles meine Schuld.« Ihre Stimme klang rau.

»Das stimmt nicht«, widersprach Jack, ohne den verkohlten Leichnam anzusehen. »Du wusstest nicht, dass die Halle gleich einstürzen würde. Und wenn du sie nicht mit dem Pfeil kampfunfähig gemacht hättest, hätte sie uns beide getötet.«

»Sieht so der Krieg aus?«, fragte Akiko und zeigte traurig auf die Leichen. »Darauf wurden wir im Unterricht nicht vorbereitet.«

Jack verstand, was sie meinte. Sie hatten sich ausschließlich auf ihre Übungen konzentriert und nie darüber nachgedacht, was es bedeutete, jemandem das Leben zu nehmen. Der Ausbruch des Krieges zwang sie, ihre Waffen einzusetzen. Ab jetzt mussten sie zu ihrer Verantwortung als Samurai stehen.

»Du hast einmal gesagt, Samurai zu sein heiße zu dienen«, meinte Jack. »Dem Kaiser, dem Daimyo und unserer Familie. Ich habe das damals nicht verstanden. Jetzt weiß ich, was es bedeutet. Als Samurai müssen wir manchmal töten und laufen Gefahr, getötet zu werden, wenn wir die, denen wir dienen oder die wir lieben, schützen wollen.«

»So ist es, Jack.« Akiko seufzte. »Was das Ganze allerdings nicht leichter macht.«

»Nein, aber es lohnt sich, für den Frieden zu kämpfen.«

Während Jack das sagte, wurde ihm bewusst, dass er bereit war, sein Leben für Japan und seine Freunde zu opfern.

In der Halle der Schmetterlinge lagen auf abgeräumten Tischen verwundete Samuraischüler. Sensei Yamada und Sensei Kano versorgten sie. Die anderen Lehrer besprachen sich mit Masamoto und Yoshioka in der Halle des Phönix.

»Warte, bis unsere Eltern davon erfahren!«, sagte Taro gerade, als Jack und Akiko eintraten.

Er stand über einen Tisch gebeugt, auf dem sein Bruder Saburo lag. Saburos Schulter war verbunden, durch die Binde sickerte ein wenig Blut.

»Lass Saburo in Ruhe, Taro«, rief Jack. »Er hat genug durchgemacht.«

»Ich mache ihm doch gar keine Vorwürfe, Jack. Saburo wird für meine Eltern ein Held sein. Er hat sich für einen anderen Samurai geopfert.«

Saburo grinste stolz. »Und ich werde eine richtige Narbe haben!«

»Du musst jetzt ausruhen«, befahl Kiku. Sie gab ihm einen Schluck Wasser zu trinken und wischte ihm die Stirn ab.

»Weiß eigentlich jemand, was überhaupt los ist?«, fragte Yori.

Yamato nickte. »Ein Schüler der Yoshioka Ryu sagte, es hätte überall in der Stadt Überfälle gegeben. Das ist der Beginn von Daimyo Kamakuras Aufstand.«

»Aber warum haben die Schüler und Lehrer der Yoshioka Ryu uns geholfen?«, fragte Jack.

»Yoshioka-san ist ein treuer Untertan von Daimyo Takatomi«, erklärte Taro. »Seine Pflicht gegenüber seinem Herrn wiegt schwerer als sein persönliches Zerwürfnis mit Masamoto-sama. Wahrscheinlich erhielt er den Befehl, uns zu helfen. Und indem er uns rettete, hat er die Schmach seiner Niederlage gegen Masamoto-sama wiedergutgemacht.«

Die Schiebetür nahe dem Kopftisch der Halle flog auf und Masamoto und die Lehrer traten ein. Die Schüler unterbrachen ihre Tätigkeit und knieten sich hin. Masamoto nahm in der Mitte des Podests Platz, legte seine Schwerter neben sich und betrachtete die Schüler streng. Seine vernarbte Gesichtshälfte leuchtete tiefrot und über seinem rechten Auge klaffte eine tiefe Schnittwunde. Neben ihm saß Sensei Hosokawa mit einem Druckverband am linken Oberarm. Angespanntes Schweigen kehrte in der Halle ein.

»Daimyo Kamakura hat uns den Krieg erklärt«, begann Masamoto.

Die Schüler, die noch unter dem Schock der Kämpfe standen, starrten ihn wie betäubt an. Yori warf Jack einen nervösen Blick zu. Seine schlimmste Befürchtung war Wirklichkeit geworden.

»Er kämpft jetzt nicht mehr nur gegen Ausländer und Christen, sondern gegen jeden Daimyo und Samurai, der sich seiner Herrschaft nicht beugt, unabhängig davon, ob er Ausländer duldet oder nicht. Soviel wir wissen, hat er an verschiedenen Orten in Japan gleichzeitig zugeschlagen. Die Stadt Nagoya ist gefallen, der Tokaido steht unter seiner Kontrolle und seine Armee marschiert in diesem Augenblick in unsere Richtung. Wir haben Nachricht erhalten, dass die Samurai, die dem Rat der Regenten und unserem künftigen Herrscher Hasegawa Satoshi treu dienen, sich in der Burg von Osaka versammeln. Von dort wollen sie dem Rebellen entgegenziehen und ihn vernichten. Auf Befehl von Daimyo Takatomi brechen wir noch heute nach Osaka auf.«

Die Vorbereitungen waren um die Mittagszeit abgeschlossen. Pferde wurden gesattelt, Proviant eingepackt und Waffen ausgegeben. Nicht alle Schüler kamen mit. Die jüngeren wurden zu ihren Familien zurückgeschickt, die verwundeten sollten in der Schule bleiben, bis sie wieder kämpfen konnten. Der Rest war im Hof angetreten und wartete auf den Befehl zum Aufbruch.

»Gambatte«, wünschte Saburo seinen Freunden alles Gute. Er hatte sich trotz Kikus Protesten unbedingt von ihnen verabschieden wollen. Steif verbeugte er sich. Kiku, die freiwillig angeboten hatte, dazubleiben und die Verwundeten zu versorgen, wischte sich eine Träne aus dem Auge und verbeugte sich ebenfalls. Akiko, Yamato und Yori erwiderten die Verbeugung. Saburo zog Jack an sich und umarmte ihn ungeschickt. Die Schmerzen in seiner Schulter ließen ihn zusammenzucken. »Sei vorsichtig«, sprudelte es aus ihm heraus. »Tu nichts Dummes. Nimm dich vor Ninjas in Acht. Iss immer alles auf…«

»Du wirst mir auch fehlen, Saburo«, sagte Jack aufrichtig. Er grinste. »Jetzt habe ich niemanden mehr, der für mich Pfeile auffängt!«

Saburo lachte. Dann trat er zurück und wurde wieder ernst. »Pass gut auf dich auf, mein Freund.«

»Osaka und Sieg!«, brüllte Sensei Hosokawa. Die Kolonne der jungen Samurai setzte sich in Bewegung und marschierte durch das Schultor.

Jack schulterte sein Gepäck. Ob er je zur Niten Ichi Ryu zurückkehren würde? Er sah sich um. Im mächtigen Butokuden hatte er das Schwert besiegt und für Sensei Kyuzo täglich im waffenlosen Kampf als Trainingspartner herhalten müssen. In der schönen Halle der Schmetterlinge hatte er Neujahr gefeiert und das zweifelhafte Vergnügen gehabt, gegrillte Aalleber zu essen. Im Südlichen Zen-Garten hatte er sich erholt und ungestört nachdenken können. Außerdem hatte Sensei Yosa sie dort in der Kunst des Bogenschießens unterrichtet. In der Halle des Buddha hatte Sensei Yamada seine schweren Rätselfragen gestellt und Jack den legendären Schmetterlingstritt vorgeführt. Die ausgebrannte Halle der Löwen schließlich war in den vergangenen drei Jahren sein Zuhause gewesen.

Er erinnerte sich noch an seine Angst am Tag seiner Ankunft in der Schule und wie schrecklich und unbesiegbar ihm die anderen Schüler erschienen waren. Er dachte daran, wie er auf seinem Futon in seiner kleinen Kammer gelegen hatte, allein in einem fremden Land und verfolgt von einem einäugigen Ninja. Wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank hatte er sich gefühlt.

Jetzt zog er mit ähnlichen Gefühlen in den Krieg. Mit dem Unterschied, dass er diesmal wusste, wofür er kämpfte. Er war als hilfloser Junge aus England gekommen und verließ die Schule als fertig ausgebildeter Samuraikrieger.