35
Yoshioka Ryu

Nur zanshin rettete Jack das Leben.

Er spürte den Angriff von hinten und duckte sich. Pfeifend fuhr die Klinge durch die Luft und verfehlte seinen Kopf um Haaresbreite. Kazuki stieß eine Verwünschung aus und griff sofort mit seinem Kurzschwert an. Jack hatte keine Zeit auszuweichen. Er fuhr herum und parierte den Schlag nach seinem Bauch mit dem eisernen Fächer. Zwar konnte er den Schlag ablenken, dafür verlor er den Fächer aus den Fingern. Klappernd fiel er zu Boden.

Kazuki griff erneut an. Jack entkam ihm durch einen geduckten Sprung und rollte über den Hallenboden. Sich ohne Waffe gegen zwei Schwerter zu verteidigen, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Seine eigenen Schwerter sah er quälend nah hinter Kazuki liegen, aber sobald er an Kazuki vorbeizukommen suchte, versperrte der ihm den Weg.

Jack täuschte einen Ausfall zur einen Seite vor. Im letzten Moment änderte er jedoch die Richtung, rannte zur Waffenwand und riss das einzige Schwert herunter, das dort noch hing. Er konnte es nicht einmal mehr aus der Scheide ziehen, da schlug Kazuki bereits nach seinem Hals.

Jack parierte den Schlag. Die Scheide des Schwerts zerbrach. Er schüttelte die Überreste von der Klinge herunter, trat rasch einen Schritt zurück und hob das Schwert. Dem Vergleich mit Masamotos Schwertern hielt es nicht stand. Es war schwer, lag schlecht in der Hand, die Klinge war schartig und der Griff vom ständigen Üben glatt und abgenutzt.

Kazuki bemerkte Jacks Verunsicherung und griff an. Blitzend fuhren die Schwerter durch die Luft. Jack verteidigte sich, so gut es ging, doch die zweitklassige Waffe behinderte ihn. Er wehrte einen Schlag nach seinem Bauch ab und antwortete mit einem Hieb nach dem Hals, dem Kazuki allerdings mühelos auswich. Doch dann machte Kazuki einen Schritt zur Seite und schlug mit aller Kraft auf Jacks Schwert. Die Spitze der schartigen Klinge brach ab. Wie betäubt starrte Jack auf das abgebrochene Ende.

Sofort griff Kazuki wieder an und drückte Jack mit der Schulter an einen Pfeiler. Jack konnte nicht ausweichen. Kazuki schwang sein Schwert in einem waagrechten Bogen, um ihn in zwei Hälften zu teilen. Verzweifelt begegnete Jack dem Schlag mit seinem Schwert. Die beiden Waffen schlugen zusammen. Jack wollte sein Schwert wieder zurückziehen, doch im selben Augenblick führte Kazuki einen vollendeten Herbstblattschlag und entwaffnete Jack.

»Schon wieder besiegt!«, rief er hämisch und setzte die Schwertspitze an Jacks Hals. »Auf die Knie, Gaijin!«

Jack blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Offenbar wollte Kazuki ihn zwingen, seppuku zu begehen. Der Gedanke entsetzte ihn. Wie konnte sich jemand selbst den Bauch aufschlitzen?

Kazuki sah zu Hiroto hinüber, der immer noch schreiend in seiner Ecke hockte.

»Sei endlich ruhig! Du wirst nicht sterben. Das ist doch nur Blut.« Kazuki schüttelte verärgert den Kopf. »Nobu, komm her.«

Nobu setzte sich auf und rieb sich den Kopf. Als er Jack mit Kazukis Schwert am Hals knien sah, hellte sich seine Miene auf und er grinste schadenfroh.

Kazuki musterte Jack. Er schien unschlüssig, ob er ihn töten sollte oder nicht. »Du bist kein Samurai«, schnaubte er verächtlich. »Gaijin verdienen keinen ehrenvollen Tod durch das Schwert.« Er hob sein Schwert und zog die Spitze über Jacks rechte Wange. Jack wich erschrocken zurück. Auf der Wange erschien eine dünne, blutige Linie. »Damit deine Narben gleichmäßig verteilt sind.«

Nobu kam mit geschulterter Keule zu ihnen und wartete auf Kazukis Anweisungen.

Kazuki steckte sein Schwert in die Scheide und packte Jack am Hals. »Du hast Moriko getötet!«, sagte er. Seine Stimme zitterte vor Entrüstung. »Das wirst du mir büßen.«

»Aber das stimmt nicht…«, protestierte Jack, doch Kazuki ließ ihn nicht ausreden.

»Brich ihm die Beine, Nobu. Diesmal soll er uns nicht entkommen. Er soll verbrennen, genau wie Moriko.«

Nobu hob gehorsam die Keule, um Jacks Knöchel zu zertrümmern.

»Halt!«, sagte eine ängstliche Stimme am Eingang.

Yori rannte mit gezogenem Schwert in die Halle.

»Wenn du Jack verletzt, töte ich Kazuki«, drohte er und richtete sein Schwert auf Kazukis Herz. Sein Schwertarm zitterte trotz seiner mutigen Worte.

»Tu, was er sagt, Nobu.« Kazuki senkte wie besiegt den Kopf.

Auf Nobus feistem Gesicht zeichnete sich Verwirrung ab. Er wollte schon die Keule senken, da griff Kazuki an. Blitzschnell riss er sein Langschwert aus der Scheide und schlug Yori das Schwert aus der Hand.

»Dein kleiner Leibwächter konnte dir schon wieder nicht helfen«, höhnte Kazuki und bohrte Yori den Zeigefinger in die Brust. »Los, Yori, renn weg, wie du es immer tust.«

Yoris Lippen zitterten. Er holte immer wieder tief Luft und sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen.

Kazuki wandte sich mit einem kalten Lachen ab. »Wenn du dem Gaijin die Beine gebrochen hast, Nobu, kannst du die Maus zerquetschen.«

Nobu hob grinsend die Keule über den Kopf.

Da gellte plötzlich ein ohrenbetäubender Schrei durch die Halle. »JAH!«

Nobu wich mit verwirrtem Gesicht zurück. Seine ganze Kraft war wie weggeblasen. Die Keule glitt ihm aus den Händen und auf seinen Kopf. Er schwankte wie ein Daruma und brach bewusstlos zusammen.

Kazuki wirbelte mit erschrocken aufgerissenen Augen herum, zog seine Schwerter und griff an.

»JAH!«

Kazuki blieb wie angewurzelt stehen und wollte sein Langschwert heben.

»JAH!«

Kazuki fiel auf die Knie. Er war aschgrau im Gesicht und stöhnte, als habe jemand ihn mit einem Speer durchbohrt.

»Hör auf!«, rief Jack. »Du bringst ihn um.«

Yori, der bereits für den nächsten Schrei Luft geholt hatte, atmete wieder aus. Jack stand auf und sammelte seine Schwerter ein. Er sah Yori zittern.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Yori blinzelte, als erwache er aus einer Trance, und nickte schwach. »Ich konnte dich doch nicht schon wieder im Stich lassen«, sagte er kaum hörbar.

»Das hast du ja auch nicht«, antwortete Jack und legte den Arm um ihn. »Sensei Yamada hatte Recht. Der kleinste Luftzug kann auf dem größten Ozean Wellen schlagen.«

Jack zeigte auf Nobu, der bewusstlos auf dem Boden lag, und sie lachten beide vor Erschöpfung und Erleichterung zugleich. Sie verstummten, als sie bemerkten, dass Kazuki sich zum Ausgang schleppte.

Yori und Jack ließen den vor sich hin stöhnenden Hiroto und den bewusstlosen Nobu in der Halle zurück und rannten Kazuki nach. Doch als sie zur Tür kamen, war der Verräter bereits im Getümmel der Schlacht untergetaucht.

Eine neue Welle junger Samurai strömte gerade brüllend durch das Tor der Niten Ichi Ryu.

An ihrer Spitze lief Yoshioka.

Masamoto sammelte seine Schüler vor dem Südlichen Zen-Garten. Jede Gruppe wurde von einem Sensei angeführt. Jack und Yori rannten zu ihren Kameraden, um sich mit ihnen den neuen Gegnern von der Yoshioka Ryu entgegenzustellen. Sie waren müde vom Kämpfen und in der Minderheit, dachte Jack. Sie hatten kaum noch Hoffnung.

»Wir kämpfen bis zum letzten Samurai!«, schrie Sensei Kyuzo und hob sein Schwert.

Die Schüler der Niten Ichi Ryu nahmen den Schrei auf, um sich Mut für den letzten Angriff zu machen.

Siegessicher brüllten die Schüler und Lehrer der Yagyu Ryu zurück. Die Schüler der Yoshioka Ryu nahmen den Schlachtruf allerdings nicht auf. Stattdessen zogen sie ihre Schwerter und griffen die Schüler und Lehrer der Yagyu Ryu an.

Plötzlich sahen sich die Eindringlinge in die Defensive gedrängt. Sie wurden zurückgetrieben. Das Blatt hatte sich gewendet.

Hals über Kopf traten sie den Rückzug an.

Die Schüler der Niten Ichi Ryu begrüßten ihre unerwarteten Verbündeten jubelnd und machten sich gemeinsam mit ihnen an die Vertreibung des Gegners. Bald war der Hof geräumt und das Tor gegen weitere Überfälle geschlossen.

Erleichtert senkten Jack und die anderen ihre Schwerter. Sie hatten den Angriff überlebt.

Die Kosten ihres Sieges waren allerdings hoch. Sensei und junge Samurai beider Schulen lagen blutend und sterbend auf dem Hof und die ganze Schule stand in Flammen.