8
Bushido

»Ein entehrter Samurai muss seppuku begehen!«, brüllte Masamoto und sah Jack finster an.

Er saß auf einem Podest im Empfangszimmer von Hirokos Haus und schleuderte die Worte hervor wie ein feuerspuckender Vulkan. Seine Wut auf den Adoptivsohn schien auch nach zwei Monaten nicht abgekühlt. Die vernarbte linke Hälfte seines Gesichts war tiefrot angelaufen, seine bernsteingelben Augen funkelten.

Jack blickte ängstlich zu seinem Vormund auf. Akiko hatte ihm einmal erklärt, was seppuku war, doch konnte er sich vor Schreck über Masamotos Wutausbruch nicht daran erinnern. Er wusste nur noch, dass es nichts Schönes gewesen war. Verstohlen warf er Akiko einen fragenden Blick zu, doch sie verharrte in gebeugter Stellung mit dem Gesicht am Boden. Dasselbe galt für Yamato.

»Seppuku ist ein Selbstmordritual«, sagte Masamoto, der Jacks Verwirrung bemerkt hatte. »Wenn ein Samurai, der besiegt oder entehrt ist, sich selbst das Leben nimmt, zeigt er damit im Sinn des Bushido Mut. Er macht seine Verfehlungen wieder gut und sein Ruf bleibt unbefleckt.«

Jack nickte. Indem er Masamoto nichts vom Portolan seines Vaters erzählt hatte, hatte er gegen den Verhaltenskodex des Bushido verstoßen, gegen die sieben Tugenden, nach denen ein Samurai lebte: Gerechtigkeit, Mut, Güte, Höflichkeit, Wahrhaftigkeit, Ehre und Treue. Seine Unehrlichkeit hatte ihn das Vertrauen seines Vormunds gekostet und noch viel mehr.

Er hatte auch gegen die wichtigste Pflicht des Samurai verstoßen, nämlich seinem Herrn zu dienen. Weil er das Buch in der Burg von Daimyo Takatomi versteckt hatte, hatte er das Leben des Daimyo höchstpersönlich in Gefahr gebracht. Er hatte den Mann gefährdet, mit dessen Schutz Masamoto beauftragt war.

Ohne Vorwarnung zog Masamoto sein Kurzschwert. Die Klinge blitzte gefährlich auf, bereit, ihr Werk zu tun.

»Seppuku ist eine besonders schmerzhafte, qualvolle Art des Todes. Zuerst schlitzt du dir selbst den Bauch auf…«

Jack begann zu zittern. Pater Lucius’ Worte fielen ihm ein. Der inzwischen verstorbene Jesuitenpriester, der ihm Japanisch beigebracht hatte, hatte ihn gewarnt: »Widersetze dich einem Samurai und er macht Hackfleisch aus dir.«

Jack war Masamoto untreu gewesen und jetzt musste er den Preis dafür zahlen.

Die Ausbildung, die er so mühsam absolviert hatte, alles, was er erreicht hatte, war umsonst gewesen. Er würde seine Schwester nie wiedersehen, sondern in Japan sterben.

»und dann, wenn du Todesqualen leidest, wird dir der Kopf abgeschlagen!«

»Ich bin allein an allem schuld!«, sprudelte es aus ihm heraus. Ihm war plötzlich eingefallen, dass seine Freunde womöglich dasselbe Schicksal erwartete wie ihn. Mussten auch sie seppuku begehen? »Das Logbuch zu verstecken war allein meine Idee. Bitte bestraft die anderen nicht für mein Vergehen.«

»Ich bewundere die Treue, mit der du zu deinen Freunden stehst, Jack-kun, aber meine Entscheidung ist schon gefallen.«

»Ich kann von hier weggehen«, flehte Jack und verbeugte sich noch tiefer, bis er ausgestreckt auf dem Boden lag. »Dann falle ich Euch nicht mehr zur Last.«

»Das kannst du nicht«, widersprach Masamoto sachlich. »Du weißt selbst, dass es für dich zu gefährlich ist, allein zu reisen. Außerdem will Dokugan Ryu dich womöglich immer noch töten oder entführen. Aber noch wichtiger ist, dass ich als dein Vormund bis zu deiner Volljährigkeit für dich verantwortlich bin. Du kannst nicht gehen, denn du wirst zur Schule zurückkehren.«

»W-was?«, stotterte Jack und blickte zu Masamoto auf.

Sein Vormund grinste ihn doch tatsächlich an. Das Lächeln zerknitterte seine vernarbte Gesichtshälfte.

»Ich habe mir nur einen kleinen Scherz erlaubt, Jack-kun«, sagte Masamoto. Er lachte kehlig und steckte sein Schwert wieder ein. »Du brauchst nicht seppuku zu begehen und ich schlage dir auch nicht den Kopf ab. Dazu ist deine Verfehlung zu gering.«

»Aber ich dachte, ich hätte gegen den Ehrenkodex des Bushido verstoßen«, rief Jack, der den makabren Humor seines Vormunds nicht zu schätzen wusste.

»Nein, du hast vieles getan, aber nicht gegen den Bushido verstoßen.«

Jack holte tief Luft und Masamoto setzte sich bequemer hin. Er nahm eine Tasse Grüntee von einem Tischchen und trank genießerisch einen Schluck.

»Sensei Yamada hat sich bei mir für dich verwendet und ich stimme ihm insofern zu, als du deine Entscheidungen, wie fehlgeleitet sie auch sein mögen, mit der größten Rücksicht auf mich getroffen hast. Ihr habt alle drei durch euer Handeln gezeigt, dass ihr unverbrüchlich zueinander steht, und euch im Kampf gegen einen furchterregenden Gegner ehrenvoll geschlagen.«

»Heißt das, dass wir alle wieder auf die Schule gehen dürfen?«, fragte Yamato ängstlich und senkte den Kopf, bis er die Strohmatte berührte.

»Natürlich kehrt ihr dorthin zurück!«, schnaubte Masamoto und bedachte seinen Sohn mit einem ärgerlichen Blick. »Aber ich musste dem Rest der Schule zeigen, dass ich euch angemessen bestrafe. Was ihr getan habt, kann nicht stillschweigend übergangen werden. Ihr habt Daimyo Takatomi in Gefahr gebracht und es verdient, von der Schule zu fliegen– sogar eine noch härtere Strafe wäre durchaus denkbar gewesen.«

Er musterte sie nacheinander eindringlich. Sie sollten die Schwere ihres Vergehens begreifen.

»Doch verdient die Tapferkeit eures Tuns auch Anerkennung. Ihr habt furchtlos und unerschrocken gehandelt– wie es eines Samurai meiner Schule würdig ist. Und Seine Hoheit Daimyo Takatomi hat euch in Anbetracht eurer bisherigen Dienste gnädig verziehen.«

Er klatschte laut in die Hände und die Schiebetür des Empfangszimmers glitt auf. Drei Samuraiwachen traten ein. In den Händen trugen sie die von Jack und seinen Freunden beschlagnahmten Waffen. Sie legten einen langen Bambusbogen und einen Köcher voller mit Falkenfedern besetzter Pfeile vor Akiko und jeweils ein Paar zueinander passender Schwerter vor Jack und Yamato. Die Waffen symbolisierten die gesellschaftliche Stellung und persönliche Ehre des Samurai.

»Ich verleihe euch hiermit wieder das Recht des Samurai, Waffen zu tragen«, verkündete Masamoto und bedeutete ihnen, die Waffen aufzunehmen.

Die drei verbeugten sich dankbar.

Jack streckte die Hand aus und strich liebevoll über die lackierten Scheiden. Sie waren tiefschwarz und nur in der Nähe des Hefts mit einem kleinen goldenen Phönix verziert. Dieser Vogel war Masamotos Familienwappen und die beiden Schwerter, das lange und das kurze, waren sein erstes Schwertpaar gewesen. Jack hatte sie als Preis für seinen Sieg im Schulwettbewerb geschenkt bekommen.

Er zog das Langschwert ein Stück aus der Scheide. In den schimmernden Stahl war ein einziger Name eingraviert.

Shizu.

Jack lächelte. Masamotos Schwerter waren Werke des größten Schwertschmieds Shizu-san und ihnen wohnte der gütige Geist ihres Schöpfers inne– im Gegensatz zum verfluchten Messer des Ninjas, das er ebenfalls besaß.

»Ich danke Euch für Eure Güte, Masamoto-sama«, sagte er und verbeugte sich noch einmal.

Masamoto nickte und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, dass sie gehen sollten. Jack stand auf und steckte die beiden Schwerter in seinen Obi. Bequem hingen sie an seiner Hüfte. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er an die Schule zurückkehren und seine Ausbildung zu Ende bringen durfte. Aber für die nächste Begegnung mit Drachenauge würde er sein ganzes Können brauchen.

An der Tür blieb er stehen und drehte sich noch einmal nach Masamoto um.

»Was ist, Jack-kun?«, fragte sein Vormund.

Jack warf Yamato einen abwägenden Blick zu. Sein Freund hatte darauf beharrt, dass Hattori Tatsuo tot sei. Trotzdem war es nicht ganz ausgeschlossen, dass er noch lebte, wie die Alte behauptet hatte. Und sie sollten Masamoto alles berichten, was sie über Dokugan Ryu in Erfahrung brachten. Wenn sein Vormund wusste, wer der Ninja in Wirklichkeit war, erleichterte das vielleicht die Suche nach seinem Aufenthaltsort.

»Auf der Reise nach Toba sind wir einer alten Frau begegnet, die meinte, sie wisse, wer Drachenauge sei.«

Masamoto stellte seine Teetasse ab und sah Jack mit plötzlichem Interesse an. Yamato dagegen schüttelte den Kopf. Jack sollte nicht weiterreden.

»Und?«, fragte Masamoto. »Wer ist er?«

»Hattori Tatsuo. Die Frau versicherte uns, Hattori sei nicht am Nakasendo umgekommen.«

Masamoto starrte Jack an und begann zu lachen.

»Damit kannst du Kinder erschrecken, Jack-kun. Der alte Kriegerfürst aus dem Norden soll von den Toten zurückgekehrt sein? Die Frau hat dir leider einen Bären aufgebunden. Es gab tatsächlich Gerüchte, Hattori Tatsuo sei nach der Schlacht gesehen worden, aber ich konnte sie einfach nicht glauben.«

»Warum nicht?«, fragte Jack.

»Weil ich ihm selbst den Kopf abgeschlagen habe.«

Jack nickte langsam. Was die Alte gesagt hatte, stimmte also doch nicht. Die einzige Spur, die er hatte, stellte sich als Sackgasse heraus. Er musste wohl oder übel warten, bis Drachenauge wieder auftauchte.

»Dokugan Ryu ist kein böser Geist«, sagte Masamoto. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er den Namen aussprach. »Er ist zwar grausam und skrupellos, aber man kann seine Dienste kaufen. Er ist ein Auftragsmörder, nicht mehr und nicht weniger. Dabei fällt mir ein, ich habe einige Nachforschungen zu deinem Buch anstellen lassen.«

Jack hob hoffnungsvoll den Kopf.

»Leider hat niemand es gesehen oder davon gehört. Der Ninja selbst ist untergetaucht. Wahrscheinlich bereitet er sich auf einen neuen Auftrag vor. Ich bin jedoch überzeugt, dass so ein kostbares Buch nicht spurlos verschwindet. Sobald ich etwas erfahre, gebe ich dir Bescheid.«

»Danke.« Jack verbeugte sich, um seine Enttäuschung zu verbergen.

»Bis dahin musst du wachsam bleiben. Wenn Drachenauge das Logbuch nicht lesen kann, kommt er bestimmt wieder. Sei darauf gefasst! Wenn wir nächsten Monat zur Eröffnung der Halle des Falken nach Kyoto zurückkehren, bekommst du deshalb auch einen neuen Lehrer. Soweit ich weiß, ist er ein ziemlicher Tyrann.«

»Wer ist es?«, fragte Jack. Hoffentlich behandelte der neue Lehrer ihn nicht so schlecht wie Sensei Kyuzo, sein Lehrer im Kampf ohne Waffen.

»Ich!« Masamoto lachte. »Ich werde dich endlich in der Technik der beiden Himmel unterweisen.«