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Der letzte Samurai

Jack setzte sich auf sein hölzernes Pferd.

Braunes, verrottetes Laub bedeckte den Boden. Der Herbst war vorbei und an den Bäumen entlang der Bogenschießbahn am Kamigamo-Schrein hingen kaum noch Blätter. Die anfangs so unmittelbare und schreckliche Bedrohung durch den Krieg hing inzwischen schwer und düster am Horizont wie ein fernes Gewitter. Zwar hörte man immer wieder von verfolgten Ausländern und nordwärts ziehenden ronin, aber noch hatte Daimyo Kamakura keinen japanischen Fürsten angegriffen und der Krieg war nicht offen ausgebrochen. Viele Schüler glaubten nicht mehr an die Gefahr. Jack wusste, dass eine solche Arglosigkeit bei einem verschlagenen Menschen wie Kamakura gefährlich war. Doch selbst er schöpfte Hoffnung. Vielleicht hatte der Daimyo nicht die nötige Unterstützung gefunden und sein Feldzug war zum Erliegen gekommen.

»In-yo, in-yo«, sagte er abwesend vor sich hin. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn ein und schoss auf die hölzerne Zielscheibe.

Inzwischen konnte er mit geschlossenen Augen schießen. Er kannte die genaue Höhe des Ziels und traf aus jeder Entfernung und jedem Winkel. Er wusste genau, wie lange er brauchte, den Pfeil einzulegen, zu schießen und sich für den nächsten Schuss bereit zu machen. Und er wusste, dass die Übungspfeile mit den abgerundeten Holzspitzen beim Fliegen ein wenig absanken. Völlig offen war dagegen, ob er das alles auch vom galoppierenden Pferd aus schaffte.

Neidisch sah er zu, wie die anderen Schüler auf ihren Rössern die Bahn entlangdonnerten. Emi galoppierte an ihm vorbei und traf die ersten beiden Ziele, verfehlte aber das letzte. Trotz monatelangen Übens hatte mit Ausnahme von Takuan noch niemand alle drei Ziele in einem Durchgang geschafft. Gelegentlich fiel ein Schüler vom Pferd, doch Sensei Yosa ließ keinen ständig auf einem hölzernen Übungspferd trainieren– nur Jack.

»Takuan meint, du hättest im vergangenen Monat große Fortschritte im Reiten gemacht«, sagte Sensei Yosa. Sie hatte sich Jack von hinten genähert und er fuhr zusammen.

»Wirklich?«, fragte er hoffnungsvoll. Obwohl er überrascht war, das zu hören, denn Takuan schien mehr mit Akikos Fortschritten beschäftigt als mit seinen Reitkünsten.

»Er sagt, du würdest als Nächstes lernen, ohne Zügel zu reiten.« Sensei Yosa tätschelte dem Übungspferd liebevoll den Kopf. »Wenn du weiterhin gut vorankommst, sitzt du im Frühjahr beim Yabusame auch auf einem richtigen Pferd. Komm mit zur Bahn, ich habe euch etwas anzukündigen.«

Jack seufzte tief über die Aussicht, ein weiteres Vierteljahr auf seinem hölzernen Pferd sitzen zu müssen. Er stieg ab, versetzte ihm einen Tritt in den hölzernen Hintern und folgte Sensei Yosa.

»Wie geht es deinem Schlachtross?«, fragte Saburo, als Jack sich zwischen ihn und Yamato kniete. »Frisst es immer noch Sägemehl?«

»Sehr witzig, Saburo.«

»Wann darfst du auf einem richtigen Pferd reiten wie wir?«, fragte Yamato.

»Erst im Frühjahr!«

»Das dauert ja noch ewig!«, rief Yamato.

Jack nickte niedergeschlagen. Yamato nahm ihn wenigstens ernst.

»Bis dahin hast du den Hintern voller Splitter!«, sagte Yamato und begann zu grinsen.

Jack konnte nicht anders und fiel in das Lachen der beiden anderen ein. Sensei Yosa gebot mit erhobener Hand Ruhe und die drei beherrschten sich mühsam.

»Ich bin mit euren Fortschritten sehr zufrieden. Deshalb will ich ein Wettschießen gegen zwei andere Samuraischulen aus Kyoto veranstalten, die Yagyu Ryu und die Yoshioko Ryu. Es wird zu Beginn der Kirschblüte stattfinden. Bis dahin mache ich mir ein Bild von euren Fähigkeiten und wähle drei Reiter aus, die für die Ehre der Niten Ichi Ryu kämpfen werden.«

Auf dem Rückweg vom Kamigamo-Schrein zur Schule unterhielten die Schüler sich aufgeregt.

»Wer wohl ausgewählt wird?«, fragte Kiku.

»Bestimmt Takuan«, sagte Akiko. »Er kann am besten schießen und reiten.«

»Es ist nett von dir, das zu sagen, aber es gibt unter den Schülern viele gute Reiter«, antwortete Takuan. »Meine Wahl würde auf dich fallen.« Er lächelte sie an.

Saburo warf Jack einen Blick zu und verdrehte die Augen. Jack versuchte wegzuhören, bemerkte aber natürlich auch, wie Akiko über Takuans Kompliment errötete.

Kazuki hatte Recht, dachte er bitter. Akiko empfand etwas für Takuan.

»Du hättest wahrscheinlich auch Chancen, Jack«, fügte Takuan über die Schulter hinzu. »Mit deiner Übung im Scheibenschießen.«

»Wohl kaum, solange es keine eigene Disziplin für Yabusame auf Holzpferden gibt«, erwiderte Jack. Er war gekränkt und zugleich bemüht, es nicht zu zeigen. »Sensei Yosa meint, ich bekomme erst im Frühjahr ein richtiges Pferd.«

»Da hast du noch Glück«, antwortete Takuan. »Ein Schüler aus meiner alten Schule musste sich drei Jahre lang mit einem Holzpferd begnügen, bevor er ein richtiges reiten durfte!«

Das glaubte Jack gern. Seine Erfahrung mit Sensei Kyuzo hatte ihn gelehrt, dass es unter den Sensei von Japan einige ausgesprochene Sadisten gab.

»Keine Sorge, Jack«, sagte Yori, der neben ihm ging. »Wenn du erst auf einem richtigen Pferd sitzt, hast du schon eine solche Technik im Bogenschießen, dass du bestimmt als Teilnehmer ausgewählt wirst.«

»Ich würde mich nicht zu sehr auf den Wettbewerb freuen«, fiel Kazuki ihm von hinten ins Wort.

»Warum nicht?«, fragte Yori.

»Bis dahin haben wir Krieg.«

Yori sah ihn erschrocken an. »Aber… jetzt ist schon fast Winter und es ist nichts passiert. Die Gefahr ist vorüber.«

Kazuki schüttelte den Kopf. »Es braucht Zeit, eine Armee zu versammeln. Laut meinem Vater haben wir jetzt nur die Ruhe vor dem Sturm.«

»Aber warum sollten Sensei Yosa und Sensei Nakamura für das nächste Frühjahr Schulwettbewerbe planen, wenn wir bald Krieg haben?« Yoris Stimme klang panisch.

»Wettbewerbe halten die Moral aufrecht und lenken ab.«

Kazuki durchbohrte Jack mit dem Blick.

»Schöne Narbe«, sagte er und ging an ihm vorbei.

Blitzend fuhr das Messer auf Jacks Bauch zu. Jack wich geschickt aus, schlug Kazuki kräftig auf den Handrücken und entwaffnete ihn. Bevor er sich allerdings über seinen Sieg freuen konnte, sauste bereits ein Holzschwert auf seinen Kopf nieder.

Jack duckte sich darunter hindurch und packte seinen zweiten Angreifer, Goro, am Arm. Er drehte ihm den Arm auf den Rücken, nahm ihm das Schwert ab und schlug es zwischen Goros Beinen nach oben.

Durch einen Schrei von hinten alarmiert, fuhr er herum. Fast hätte ihm der dritte Angreifer, Nobu, einen Speer durch die Brust gestoßen. Mit knapper Not entging Jack der stählernen Spitze, trat Nobu gegen die Schienbeine und packte den Schaft des Speers. Er drehte ruckartig daran und schlug Nobu das Ende ins Gesicht.

Dann wandte er sich seinem letzten Angreifer zu. Doch noch bevor er zu einem Luftwurf ansetzen konnte, schwang Hiroto schon seine Kettenwaffe und die Kette wickelte sich um Jacks Körper. Im nächsten Moment wurde er von den Füßen gerissen.

»Dabei hast du doch so gut angefangen«, höhnte Sensei Kyuzo. »Verloren!«

Jack schüttelte die Kette ab, stand auf und verbeugte sich vor seinen vier Angreifern. Zwar hatte er sich nichts gebrochen, aber er spürte bereits eine schmerzhafte Schwellung dort, wo das Kettengewicht seinen Rücken getroffen hatte. Er hatte die Übung, wie man die Waffen des Gegners unschädlich machte, als Letzter absolviert und brachte die Kette zur Waffenwand zurück.

Anschließend kniete er sich in die Reihe der anderen Schüler. Sie hatten sich in Vorbereitung eines möglichen Krieges den ganzen Vormittag in den Techniken des waffenlosen Kampfes geübt, ihre Kräfte gemessen, miteinander gerungen und sich gegenseitig entwaffnet.

»Einige von euch haben im Unterricht glänzende Fortschritte gemacht«, sagte Sensei Kyuzo mit einem Blick in Kazukis Richtung. »Andere haben, milde ausgedrückt, enttäuscht.«

Jack spürte Sensei Kyuzos bohrenden Blick auf sich.

»Doch seid ihr, meine ich, inzwischen alle für die schwierigste Prüfung im Kampf ohne Waffen bereit– den ›Letzten Samurai‹.«

Auf seinem strengen Gesicht breitete sich ein dämonisches Lächeln aus.

»Aufstehen.«

Die Schüler erhoben sich und flüsterten beklommen miteinander. Sensei Kyuzo lächelte. Das konnte nichts Gutes bedeuten.