5
Mutterstolz

»Hier ist es mir nicht geheuer«, murmelte Yamato. Besorgt umklammerte er mit der rechten Hand den langen Schaft seines bo.

Verlassen lag die einzige Straße von Shindo vor ihnen. Staub wirbelte über den Boden und verschwand zwischen einigen heruntergekommenen Hütten. Das Dorf wirkte trotz der warmen Sonne kalt und dunkel und das Innere der Hütten wenig einladend.

»Ein Geisterdorf«, sagte Jack und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Sie banden ihre beiden Pferde an und betraten das menschenleere Dorf.

»Nicht ganz«, flüsterte Akiko. »Wir werden beobachtet.«

Jack und Yamato wechselten einen nervösen Blick.

»Von wem?«, fragte Yamato.

»Zum Beispiel von diesem kleinen Mädchen.« Akiko nickte in Richtung einer strohgedeckten Hütte zu ihrer rechten Seite.

Aus dem Dunkel starrte sie ein schmutziges Gesicht mit ängstlich aufgerissenen Augen an. Dann verschwand es. Akiko näherte sich der Hütte. Jack und Yamato blieben stehen und Akiko sah sich nach ihnen um. Die beiden fürchteten offenbar einen Hinterhalt der Ninjas.

»Kommt, ihr zwei. Ein kleines Mädchen tut euch doch nichts.«

Beschämt folgten sie ihr.

Akiko spähte in das Dunkel hinter der Tür. »Hallo?«, rief sie. »Entschuldigung?«

Aus der Hütte drang rasselndes Atmen wie von einem sterbenden Hund. Dann tauchte plötzlich das hohlwangige Gesicht eines Mannes auf.

»Verschwindet!«, sagte er barsch. »Wir haben nichts für euch.«

Das kleine Mädchen, das sie zuvor gesehen hatten, versteckte sich hinter seinen Beinen und blickte fasziniert auf Jacks blonde Haare. Jack lächelte sie an.

»Es tut uns leid, wenn wir Sie stören, aber wir haben nur einige Fragen«, erklärte Akiko.

»Wo sind die anderen Bewohner des Dorfes?«, fragte Yamato.

»Gegangen. Das solltet ihr auch.« Der Mann schickte sich an, die klapprige Tür seiner Hütte zu schließen.

»Wir suchen Kunitome-san«, sagte Jack.

Der Mann sah ihn an, als bemerke er ihn erst jetzt. Dann schnaubte er.

»Der Teufel! Er ist tot!«

»Seit wann?«, fragte Jack. »Wer hat ihn getötet?«

Der Mann seufzte. Das Gespräch kostete ihn offenbar seine letzte Kraft.

»Er hat Selbstmord begangen, mit seinem eigenen Schwert«, sagte er ungeduldig. »Deshalb ist das Dorf tot. Er war für Shindo ein Segen und zugleich ein Fluch. Seine Fähigkeiten als Schwertschmied zogen Leute von weit her an und wir Dorfbewohner freuten uns über das Geld, das sie mitbrachten. Aber der böse Geist seiner Schwerter hat auch schlimmes Gesindel angelockt. Jetzt ist er weg und niemand kommt mehr. Nur sein Geist ist geblieben und wirft einen dunklen Schatten über Shindo. Ihr solltet gehen. Dieser Ort hat ein schlechtes Karma.«

»Warum sind Sie dann nicht gegangen?«, fragte Yamato. Der Mann wollte die Tür schließen und Yamato drückte mit der Hand dagegen.

»Wir wollten ja, aber hört ihr das?« Der rasselnde Atem in der Hütte war weit und breit das einzige Geräusch. »Das ist meine kranke Mutter. Sie will nicht sterben. Und solange sie lebt, sitzen wir in dieser tödlichen Falle fest. Jetzt geht!«

Er schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.

Bestürzt sahen sie einander an.

»Unsere Spur scheint hier zu enden«, sagte Yamato. Er klang erleichtert. »Lass uns zurückreiten, bevor Kuma-san unser Verschwinden bemerkt.«

»Nein«, erwiderte Jack und ging die Straße weiter. »Wir müssen noch den Drachentempel finden, von dem Orochi gesprochen hat. Seht mal! Das muss er sein.«

Die Dorfstraße endete vor einem großen Tempel auf einem Erdhügel. Seine rote und grüne Farbe war verblichen und blätterte bereits ab. Auf dem Dach fehlten Ziegel, und zwei geschnitzte Drachen waren heruntergefallen und lagen halb verrottet auf dem Boden. Der Haupteingang stand offen. Er wirkte so einladend wie die Tür zu einem Grab.

»Du willst da doch nicht rein, oder?«, fragte Yamato. »Der Tempel sieht aus, als könnte er jeden Augenblick einstürzen!«

Akiko lächelte entschuldigend und stieg hinter Jack die ausgetretenen steinernen Stufen hinauf.

Sie fanden sich in einem dämmrigen, höhlenartigen Raum wieder. Statt nach Weihrauch roch es nach Moder.

Jack trat über die Schwelle und spähte in die Dunkelheit.

Er hätte fast laut aufgeschrien, als er die beiden riesigen, muskelbepackten Krieger sah, die ihn mit verzerrten Gesichtern von rechts und links anstarrten. Der eine bleckte die Zähne und schwang eine mächtige Keule, der andere hatte die Kiefer zusammengebissen und holte mit einem gewaltigen Schwert aus.

Jack prallte rückwärts mit Akiko zusammen.

»Das sind doch nur nio«, lachte sie. »Tempelwächter.«

»Aber sie sehen schrecklich aus!«, rief Jack, der sich nur langsam von seinem Schrecken erholte.

Er folgte Akiko nach drinnen und zum Altar, auf dem sich ein verstaubter Buddha inmitten einer Reihe kleinerer Götterbilder befand. »Was bewachen die Tempelwächter denn?«

»Den Buddha natürlich. Der Wächter rechts heißt Agyo und ist ein Symbol für Gewalttätigkeit. Der links mit dem Schwert heißt Ungyo und steht für Kraft.« Akiko zeigte auf die Gesichter der beiden. »Siehst du, wie der eine die Zähne bleckt und der andere den Mund geschlossen hält? Sie bilden die Laute ›ah‹ und ›un‹, den ersten und den letzten Laut des japanischen Alphabets. Zusammen vereinen sie alles Wissen in sich.«

»Ende der Geschichtsstunde«, fiel Yamato ihr ins Wort. »Hier ist niemand. Wir verschwenden nur unsere Zeit. Kunitome-san hat Selbstmord begangen und wir kommen hier nicht weiter. Drachenauge finden wir sowieso nicht, lasst uns also gehen.«

Er drehte sich um. Im selben Augenblick hörten sie hinter dem Buddha ein schlurfendes Geräusch.

»Der Schwertschmied hat nicht Selbstmord begangen!«, krächzte eine im Dunkeln verborgene Gestalt.

Die drei fuhren herum, um sich zu verteidigen. Eine bucklige alte Frau in einem zerschlissenen Gewand humpelte auf sie zu.

»Verzeihung!«, rief Akiko erschrocken. »Wir wollten Sie nicht beim Beten stören.«

»Beten!«, krächzte sie. »Ich glaube schon lange nicht mehr an Buddha. Ich habe geschlafen und ihr habt mich geweckt.«

»Wir wollten gerade gehen«, erklärte Yamato und wich vor der verwahrlosten Alten zurück. Ihr Gesicht war von einer verlausten Kapuze verhüllt.

Doch Jack blieb stehen. »Was haben Sie gerade über Kunitome-san gesagt?«

»Du bist nicht von hier, Junge, nicht wahr?«, schnarrte die Alte. Sie schnüffelte und würgte. »Du bist ein Gaijin.«

Jack ging nicht auf die Beleidigung ein. »Sie sagten, der Schwertschmied habe nicht Selbstmord begangen?«

»Hat er nicht.«

»Was ist also passiert?«

Die Alte streckte eine knochige Hand aus, die aussah wie die Hand einer Leiche. Sie schwieg, aber die Aufforderung war unmissverständlich. Akiko griff in die Falten ihres Kimonos, holte eine Schnur mit Münzen heraus, machte eine davon ab und ließ sie in die wartende Hand fallen. Die Alte schloss hastig die Finger darum.

»Er hat nicht Selbstmord begangen, aber er wurde durch sein eigenes Schwert getötet.«

»Was soll das heißen?«, fragte Jack.

»Kunitome-san erhielt den Auftrag, ein ganz besonderes Schwert für einen ganz besonderen Kunden anzufertigen«, erklärte die Alte und strich mit den Fingern über die gesplitterte Klinge des Holzschwerts einer Götterfigur. »Das Schwert bekam den Namen Kuro Kumo, ›Schwarze Wolke‹, denn es wurde in der Nacht eines schweren Unwetters fertiggestellt. Es war das beste Schwert, das er je gefertigt hatte, schärfer und tödlicher als jedes andere. Aber es sollte auch das letzte Schwert sein, das er schmiedete.«

Die Alte trat dicht vor Jack.

»Als der Kunde kam, wollte er das Schwert einer Prüfung unterziehen. Kunitome-san ließ vier Verbrecher auf einen Sandhügel binden. Schwarze Wolke glitt so mühelos durch die vier Körper wie durch reife Pflaumen. Ihr hättet die Verbrecher schreien hören sollen.«

Die Alte streckte einen klauenähnlich gebogenen Finger aus und fuhr Jack damit über den Hals. Er erschauerte unter der Berührung.

»Der Kunde war so beeindruckt, dass er Kunitome-san auf der Stelle mit dem Schwert köpfte.«

»Aber warum?«, fragte Jack und unterdrückte mühsam seine Abscheu.

»Kunitome-san sollte nie ein Schwert schmieden, das noch besser war als Schwarze Wolke. Doch nach Kunitome-sans Tod drang ein Teil seiner besessenen Seele in das Schwert ein. Das Unwetter tobte die ganze Nacht wie wahnsinnig. Es verwüstete das Dorf und alle Felder und zerstörte den Tempel. Am nächsten Morgen stand kaum noch ein Stein auf dem anderen.«

»Wer war der Kunde?«, fragte Akiko.

Die Alte hob den Kopf. Jack konnte ihr Gesicht unter der Kapuze zwar nicht erkennen, aber er hätte schwören mögen, dass sie grinste.

»Dokugan Ryu natürlich. Der, den du suchst.« Sie beugte sich vor und flüsterte Jack ins Ohr: »Willst du wissen, wo er ist?«

»Ja«, antwortete Jack leise.

Die Alte streckte wieder ihre skelettartige Hand aus. Akiko ließ eine zweite Münze hineinfallen.

»Wo ist er?«, fragte Jack ungeduldig.

Die Alte winkte ihn noch näher zu sich: »Hinter dir!«

Die drei wirbelten herum. Ein großes, grünes Auge war auf sie gerichtet.

Die Alte lachte gackernd, während Jack und seine Freunde sich von ihrem Schrecken erholten.

Das Auge gehörte einem großen, holzgeschnitzten Drachen, der über dem Eingang hing. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht und seine gespaltene Zunge fuhr aus dem rot angemalten Rachen.

»Sehr witzig«, schimpfte Yamato und senkte seinen Stock. »Da ist ja gar niemand.«

»Aber doch«, verbesserte ihn die Alte. »Dokugan Ryu wird immer hinter euch sein und sich an euch heranschleichen wie ein giftiger Schatten.«

»Lasst uns aufbrechen«, sagte Yamato entschlossen. »Die alte Hexe spinnt.«

Jack gab ihm Recht und wandte sich zum Gehen.

»Aber es würde euch doch helfen, wenn ihr wüsstet, wer Dokugan Ryu in Wirklichkeit ist, nicht wahr?«, flüsterte die Alte.

Jack blieb stehen.

»Wollt ihr es nicht wissen?«, fragte sie spöttisch. Sie hatte die Hand wieder ausgestreckt. Ihre Finger bewegten sich wie die Beine einer auf dem Rücken liegenden Krabbe.

Jack sah Akiko an und Akiko gab der Alten widerstrebend noch eine Münze. Yamato schüttelte verdrossen den Kopf.

»Ihr wollt vieles wissen, Kinder, und ich werde euch nicht enttäuschen.« Die Alte lachte meckernd und ließ die Münze in ihrem schmutzigen Kittel verschwinden. »Dokugan Ryu ist der verbannte Samuraifürst Hattori Tatsuo.«

»Dass ich nicht lache«, rief Yamato verächtlich. »Der Fürst ist in der Schlacht am Nakasendo gefallen.«

»Hör mir zu, du kleine Ratte!«, fauchte die Alte. »Du hast für eine Geschichte bezahlt und wirst sie jetzt auch anhören. Hattori Tatsuo wurde im Sommer des Jahres der Schlange in der Burg von Yamagata geboren. Eins seiner Augen erkrankte an den Blattern, als er noch ein Kind war. Er riss es sich eigenhändig heraus!«

Akiko fuhr zusammen.

»Für seine Mutter kam er mit nur einem Auge nicht mehr als künftiges Oberhaupt der Familie Hattori infrage. Sie bestimmte deshalb seinen jüngeren Bruder zum Erben. Einmal tat sie sogar Gift in Tatsuos Essen, doch er überlebte wie durch ein Wunder. Allerdings war er seitdem nicht mehr ganz normal und sein Auge leuchtete grün wie Jade.«

Yamato schüttelte ungläubig den Kopf.

»Um an die Macht zu gelangen, ermordete Tatsuo seinen Bruder. Mit sechzehn begleitete er seinen Vater auf den ersten Raubzug. Sein Vater wurde im Handgemenge getötet. Man munkelt, dass Tatsuo selbst dafür verantwortlich war. Damit war Tatsuo das Oberhaupt der Familie– doch das reichte ihm nicht. Er wollte der Daimyo des ganzen nördlichen Japan werden. Zuerst wollte er sich allerdings für den Verrat seiner Mutter rächen.«

»Wie?«, flüsterte Akiko.

»Wie schon?«, kreischte die Alte. »Natürlich indem er ihr beide Augen ausriss!«

»Das reicht!«, fiel Yamato ihr barsch ins Wort. Er hatte gesehen, wie Akiko zusammenzuckte. »Dieser ganze Unsinn erklärt doch nicht, wieso Tatsuo ein Ninja geworden sein soll.«

Die Alte hob ihren knochigen Zeigefinger und schnalzte missbilligend mit der Zunge.

»Nicht so ungeduldig! Ich bin noch nicht fertig. Noch lange nicht. Auf dem Schlachtfeld erwarb Tatsuo sich den Ruf eines unbarmherzigen Kriegers. Schon bald stieg er zum Daimyo des nördlichen Honshu auf. Auf einem seiner Feldzüge wurde ihm ein Sohn geboren und er beschloss, dass sein Erbe einst über ganz Japan herrschen sollte. Unerbittlich zwang er seine Feinde nieder…«

»Bis er am Nakasendo selber besiegt wurde«, warf Yamato ein.

»Richtig. Die Schlacht tobte viele Tage und Nächte lang. Nur mit vereinten Kräften konnten die Fürsten des südlichen und mittleren Honshu, die Daimyos Hasegawa, Takatomi und Kamakura, den großen Tatsuo schließlich überwältigen.« Die Alte spuckte aus. »Der Samurai Kamakura, dieser Verräter, hatte die Seite gewechselt und damit Tatsuos Schicksal besiegelt. Tatsuos Armee wurde niedergemetzelt, sein Sohn vor seinen Augen von einem Leibwächter Daimyo Takatomis niedergestochen. Tatsuo kämpfte trotzdem bis zum bitteren Ende weiter.«

»Aber ich habe doch schon gesagt, Hattori Tatsuo fiel im Kampf«, rief Yamato. »Er kann nicht Drachenauge sein.«

»Falsch, Tatsuo konnte ins Iga-Gebirge fliehen. Er musste sich verstecken, hatte aber Glück, denn ein Ninja-Clan nahm ihn auf. Er erlernte die geheime Kunst der Ninjas und wurde zu Dokugan Ryu, dem gefürchtetsten Ninja aller Zeiten.«

Die Alte klang fast stolz.

»Und woher wissen Sie das alles?«, fragte Jack. »Niemand sonst weiß es.«

»Weil bisher niemand mich gefragt hat«, erwiderte die Alte und zog ihre Kapuze zurück. Zum Vorschein kam ein grausam entstelltes Gesicht– mit zwei leeren Augenhöhlen.